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Dach über dem Kopf
Es gibt zuwenig Menschen, sagen die Flüchtlinge"
Ernst Ferstl
Es klingelt. Ich stelle die Bierflasche ab, drücke mit der Fernbedienung die Spätnachrichten auf Pause und schäle mich aus dem Fernsehsessel.
"Hallo?", frage ich in die Gegensprechanlage. Nichts.
Ein leises Klopfen verrät, dass der späte Besuch bereits vor meiner Tür steht.
Ich öffne, lasse aber die Kette vor, keine Ahnung, welchen Klinkenputzer die alte Siegenthaler unten ins Treppenhaus gelassen hat.
"Ja?"
"Herr Frutiger. Roland Frutiger?"
"Und Sie sind?"
Vor der Tür steht ein Mann um die vierzig, schlecht sitzender Anzug. In den Händen hält er eine Mappe, aus der er ein A4-Blatt herauszieht und mir entgegenstreckt.
"Geissbühler, freier Mitarbeiter beim Projekt 'Ein Dach für Menschen'. Ich bringe die Ihnen zugewiesenen Leute."
Jetzt bemerke ich im Halbdunkel des Treppenhauses weitere Personen. Hängende Schultern, fremdländische Gesichter, eine Familie wie mir scheint, ein Mann um die vierzig, mit Frau und Kind. Alle starren sie mich an, irritiert schaue ich zurück zu Herrn Geissbühler.
"Was heisst zugewiesene Leute? Und wissen Sie, wie spät es ist?"
"Ja, tut mir leid, aber wir kommen nicht hinterher, es sind einfach zu viele."
Von unten höre ich die alte Siegentaler die Tür öffnen, will ja nichts verpassen, die Schachtel.
"Also, äh, ich bin gerade etwas verwirrt. Sie bringen mir ... Leute?"
Die Familie hinter Geissbühler wird unruhig, das Mädchen fängt leise an zu weinen, der Mann zischelt kehlige Laute, worauf das Mädchen verstummt und ihren Teddy fest an sich drückt.
"Einen Moment", sage ich, löse die Kette und öffne die Tür.
"Kann ich kurz unter vier Augen?" Ich blicke auf Geissbühler und nicke Richtung Flur. Der schlüpft durch den schmalen Spalt und ich schliesse die Tür.
"Sie wollen mir doch jetzt keinen Ärger machen, Herr Frutiger, oder?"
"Ich glaube, hier handelt es sich um ein Missverständnis."
"Aber hier steht", Geissbühler zieht ein weiteres Formular hervor, "Sie bewohnen eine Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung, besitzen weder Haustiere noch Kinder, haben also Kapazität für maximal drei schutzbedürftige Personen. Und Sie haben sich für eine vorübergehende Aufnahme bereit erklärt. Ist das ihre Unterschrift?"
Fassungslos schaue ich auf das Formular, fange an zu schwitzen, erinnere mich, vor einer Woche in der Einkaufsstrasse, eine junge Frau hielt mir ein Klemmbrett hin, "Ein Dach für Menschen" stand in knalligem Rot auf ihrem T-Shirt, sie erzählte mir etwas von den vielen Flüchtlingen, die alles verloren haben, die in Zügen mit nichts als ein paar Habseligkeiten ankommen werden, zu Tausenden, dringend auf Unterstützung und Soforthilfe angewiesen, und so weiter und so fort.
"Mit Ihrer Unterschrift helfen Sie uns, den Leuten wenigstens ein Dach über dem Kopf zu geben."
Ihr Schmollmund war süss, ihr Lächeln überzeugend und ausserdem war es für eine gute Sache. So liess ich Name und Adresse auf dem Klemmbrett. Meine Güte, warum habe ich mit ihr eigentlich über meine neuen Platzverhältnisse geplaudert? Was habe ich mir dabei gedacht?
"Ja, meine Unterschrift", sage ich kleinlaut.
"Dann wäre das ja geklärt, morgen kommt wieder jemand vorbei, keine Angst, wir lassen Sie da nicht hängen. Hier, die Notfallnummer und danke für Ihre Unterstützung".
Herr Geissbühler öffnet eigenmächtig die Tür und im Treppenhaus verstummt das fremdländische Gemurmel, alle drei blicken dem Geissbühler nach, wie er nach unten spurtet. Ich trete ans Geländer und sehe noch, wie er die alte Siegenthaler fast über den Haufen rennt. Dann blicken mich alle fragend an. Auch die Siegenthaler schaut hoch, droht mit dem Finger.
"Ist jetzt endlich Ruhe dort oben? Und was sind das für Leute, Herr Frutiger?"
"Meine Gäste, weit gereist und müde, wir machen sicher keinen Lärm mehr. Gute Nacht."
Ich seufze, trete vom Geländer zurück und mache eine einladende Geste. Der Vater scheint als erster zu realisieren.
"Danke, viel danke", flüstert er, greift nach meiner Hand, küsst und schüttelt sie. Ich bin verlegen und winde mich vorsichtig aus der Umklammerung. "Schon gut, erstmal rein hier."
Einer nach dem anderen schlurft zaghaft mit Sack und Pack in den Flur, sie drängen sich vor der Garderobe, die Kleine steht unter meinem Mantel und starrt auf den Kunstdruck an der Wand. 'Die Badenden' von Renoir, drei nackte Frauen beim Plantschen. Der Vater stellt sich dazwischen und schaut etwas bedrückt zu seiner Frau.
"Bitte einfach mal durchgehen", sage ich und zeige auf mein Wohnzimmer. Jeder schnappt sich sein Bündel und zaghaft betreten sie die Stube. Der Fernseher zeigt noch immer die eingefrorenen Spätnachrichten, im Bild das überfüllte Flüchtlingslager, ein Polizist, der sich drohend vor einer Mutter mit Kind aufgebaut hat, zum Schrei aufgerissene Münder. Rasch drücke ich die Fernbedienung und der Bildschirm erlischt.
"Bitte setzt Euch", sage ich und zeige auf Couch und Sessel.
Sie riechen streng, Körperdunst schwängert den Raum. Schmutz, Angst und Schweiss steckt in ihren staubigen Kleidern, wie lange sind diese Leute schon unterwegs? Hätte man sie nicht erst einmal in Quarantäne unterbringen müssen, was ist mit ansteckenden Krankheiten?
'Morgen kommt jemand', höre ich Geissbühler. Ich spüre Wut emporsteigen, Wut auf meine voreilige Zustimmung. Hilft nichts, die armen Leute können nichts dafür. Jetzt wird improvisiert, dafür hat mich Tina immer gemocht, aber letztendlich auch verlassen.
"Ihr habt sicher Durst." Fragende Gesichter stehen verloren zwischen Sofa und Fernseher, die Habseligkeiten fest im Griff. Fremde Menschen in einem fremden Land, in einer fremden Wohnung, bei einem fremden Mann. Ich bekomme einen Kloss im Hals.
Ich zeige ihnen verschiedene Flaschen, sie entscheiden sich für Wasser und nachdem alle ein volles Glas in der Hand halten, starte ich einen neuen Anlauf zur Verständigung.
"Können Sie mich verstehen? Do you speak English? French?"
"Le français, un peu", sagte der Mann.
"Oh, très bien." Mein Französisch ist zwar holprig, aber besser als nur mit den Händen reden zu müssen. So lerne ich Familie Tamer kennen. Vater Yusuf, Mama Wafa und Tochter Ghada. Yusuf erzählt von Heimat, Bomben, einem Lastwagen ohne Luft. Yusuf zieht ein Bild hervor, darauf ein weisses Haus, daneben drei Männer. Yusuf hat Tränen in den Augen, nichts sei mehr übrig, er zeigt mit dem Finger auf das Bild. Bruder, und Mann von Schwester. Hatten beim Bauen geholfen, jetzt sind sie tot. Ein kurzer Moment des Schweigens, wir schauen auf Ghada, die im Schoss der Mutter eingeschlafen ist, den neuen Teddy im Arm.
Ich mache ihnen verständlich, dass sie sich mein Schlafzimmer und das Büro teilen können, sie bestehen aber aufs Wohnzimmer, möchten zusammenbleiben, und so basteln wir zusammen eine Art Schlafnest. Die Couch kann ich ausziehen und die vom Sardinientrip mit Tina übrig gebliebene Luftmatratze gibt ein prima Kinderbett. Ich lege meine letzten frischen Handtücher, Seife und Waschlappen bereit, da legt Wafa die Hand über ihren Schritt und schaut mich etwas betreten an. Ich verstehe, krame im Haushaltsvorrat und stosse auf Tinas Restbestand an Binden und Tampons, zum Glück habe ich die Sachen noch nicht weggeworfen.
Während in meiner Wohnung ein geschäftiges Treiben beginnt, ziehe ich mich zurück ins Schlafzimmer und greife zum Handy. Es ist kurz nach Mitternacht, ob Tina noch wach ist? Lange starre ich auf das Display ...
Ich erwache, bin wie gerädert. Vom Treppenhaus her dringt lautes Getrampel in mein Schlafzimmer, wie spät ist es? Die Morgendämmerung zwängt sich durch die halb geschlossene Jalousie. Kurz darauf klingelt es.
Die Ereignisse von gestern Abend springen mich an wie ein Tier. Wieder klingelt es, jemand klopft an die Tür. Morgen kommt jemand, hat Geissbühler gesagt. Im Wohnzimmer höre ich Familie Tamer, mein Gott, dieser Lärm muss sie ja total verängstigen. Ich springe aus dem Bett, in Unterhose und T-Shirt eile ich zur Tür, will dem aufdringlichen Besuch gleich mal meine Meinung sagen, im Augenwinkel sehe ich Wafa neben Yusuf sitzen, beide halten Ghada fest in den Armen, da klopft es erneut, diesmal energischer.
"Kantonspolizei Bern, machen Sie auf!"
Ich öffne die Tür, lasse aber die Kette vor.
"Polizei? Aber ..."
"Herr Roland Frutiger?"
Ich nicke und eine Person mit blauer Kappe steckt mir ihren Ausweis entgegen, das Bild zeigt ein lachendes Gesicht mit zum Zopf gebundenem blondem Haar.
"Wir haben Hinweise, dass sich in ihrem Haushalt Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung befinden."
"Das muss ein Missverständnis sein ...", das Déjà-vu lässt mich kurz schwindlig werden.
"Machen Sie auf, wir müssen ihre Wohnung durchsuchen. Hier der Beschluss des Staatsanwalts." Der Ausweis macht einem zerknitterten Papier Platz. Ich nehme der Polizistin den Wisch aus der Hand. Das war sicher die Siegenthaler.
"Okay, Moment, ich zieh mir nur kurz eine Hose an."
Betont ruhig schliesse ich die Tür. Roland denk nach, Flüchtlinge reisen meistens ohne Papiere, aber wenn sie betreut werden, dann ...
Auf Zehenspitzen schleiche ich mich ins Wohnzimmer und sehe in die erschrockenen Gesichter der Familie Tamer.
"C'est seulement la police." Nur die Polizei? Was rede ich da.
Ich erkläre ihm, es handle sich sicher um ein Missverständnis. "Un malentendu!"
Ich frage, ob sie Ausweise haben, oder sonst irgendwelche Papiere.
"Papiers? Mais ... nous n'avons pas papiers." Yusuf sieht mich erschrocken an.
Keine Papiere? Scheisse. Ich dachte, wenn eine Hilfsorganisation sie schon bringe, seien sie wenigstens registriert.
"Vous n'êtes pas enregistré?"
Yusuf schüttelt den Kopf. Geissbühler hat mir auch kein Dokument dagelassen.
Na toll, ich beherberge Flüchtlinge ohne Papiere und wo habe ich bloss die Notfallnummer hingelegt?
Yusuf fängt lautstark an mit Wafa zu diskutieren.
Hinter mir fliegt krachend die Wohnungstür aus den Angeln, Holz- und Glassplitter prasseln aufs Parkett.
Gebellte Befehle, Wafa schreit auf, Ghada fängt an zu weinen. Mir werden die Hände auf den Rücken gedreht, Handschellen klicken. Als ich hinter den Tamers, nur in T-Shirt und Unterhosen, vorbei an der lächelnden Siegenthaler, abgeführt werde, spüre ich zum ersten Mal, wie es ist, völlig unverschuldet am Rand des Abgrunds zu stehen.
Nach zwölf langen Stunden darf ich endlich meine Sicht der Dinge zu Protokoll geben. Ja, die Organisation "Ein Dach für Menschen" sei ihnen bekannt. Leider handle diese Gruppe ohne Bewilligung der Behörden, und Flüchtlinge ohne Papiere zu beherbergen sei nun mal illegal.
Ob ich auch Mitglied sei? Ich verneine.
Ob man mir glaubt? Das sei Sache des Staatsanwalts.
Was aus der Familie Tamir wird? Will man mir nicht sagen, Datenschutz.
Mit der Auflage, bis zum Ende der Strafuntersuchung die Stadt nicht zu verlassen, darf ich gehen. Sie haben mir sogar eine Fahrkarte ausgestellt und eine Trainingshose aus dem Spendenfundus überlassen. Nach einer langen Busfahrt in der Abenddämmerung, treffe ich vor dem Haus auf eine junge Frau, wie sie die sauber eingelassenen Klingelschilder studiert, erkenne sie am "Dach für Menschen"-T-Shirt. In den Händen hält sie einen Waschkorb voll Haushaltssachen. Mein Herz klopft bis zum Hals, das Gefühl von Freude vermischt sich mit aufkeimender Wut.
"Oh, Herr Frutiger", ruft die Frau mit dem Wäschekorb aufgeregt. "Ich bringe Ihnen ein paar Sachen für ..."
"Sie kommen zu spät. Sind schon wieder weg."
"Weg? Warum ... "
"Heute morgen, wurden von der Polizei abgeholt, ich musste auch mit."
"Ich verstehe nicht."
Ich blicke in das geschlossene Küchenfenster im Erdgeschoss, und bin mir sicher, dass wir beobachtet werden.
"Lass uns ins Haus gehen, äh, wie war doch gleich ... ?"
"Stella."
Schöner Name, passt zu ihrem Wesen.
Ich schiebe sie durch die Haustür und weiter, die gebohnerten Treppenstufen hoch bis vor meine Wohnung. Die Tür ist anscheinend provisorisch gerichtet worden, der Schlüssel passt noch.
Ich schliesse auf und lasse Stella zuerst hinein. Ihr Haar riecht nach Pfirsich.
"Was war denn hier los?", fragt sie und scheut sich, den verwüsteten Flur zu betreten. Ich quetsche mich hinter sie und schliesse die Tür. Stellas fragender Blick trifft mich und da ist er wieder, der Kloss im Hals. Vorsichtig nehme ich ihr den Materialkorb ab und stelle ihn unter die Garderobe.
"Als erstes mache ich uns mal Kaffee. Und dann suchen wir im Schrank nach einem anderen T-Shirt."
Wir sitzen in der Küche und nippen an unseren Tassen. Stella sieht mich fragend an und ich suche auf der Tischplatte nach den richtigen Worten.
"Was ist denn eigentlich verkehrt an meinem T-Shirt?", kommt sie mir zuvor.
"Na ja, leider ist deine Organisation den Behörden ein Dorn im Auge. Und ich habe jetzt eine Strafanzeige am Hals."
"Du hast was? Aber das ist doch völlig ... unfair."
"Kann sein, abgesehen davon, es wäre sowieso nicht gut gegangen, ich meine, gleich eine ganze Familie, bei mir alleine. Ich weiss ja nicht mal, was die Tamers essen, und was, wenn sie krank werden? Wie sieht es mit Versicherungsschutz aus?"
Ich rede mich in Fahrt, plötzlich sind da mehr Fragen als Antworten.
"Und dann muss ich auch arbeiten, soll ich sie den ganzen Tag hier alleine lassen? Was, wenn sie was kaputt machen, also im Treppenhaus oder draussen beim Spielen, wer bezahlt das dann?"
"Na ja, das wollte Geissbühler nächstens abklären, bis dahin ..."
"Siehst du? Ihr habt das vorerst einfach ausgeblendet, ganz toll!" Ich haue mit der flachen Hand auf den Tisch.
Stella schaut betreten auf ihre halbvolle Tasse, schiebt sie von sich weg und steht auf.
"Ich glaube, ich sollte jetzt gehen. Danke für den Kaffee."
"Sorry, ich wollte dich nicht kränken. Bleib doch noch ..."
Warum habe ich nur meine schlechte Laune an ihr ausgelassen? Dabei ist es ja kaum ihre Schuld, na wenigstens nicht allein ihre. Wir sind beide ziemlich naiv an das Thema rangegangen.
"Die Haushaltssachen nehm ich wieder mit, brauchts ja nicht mehr."
Ich nicke stumm, will ihr mit dem Wäschekorb helfen. Sie schüttelt den Kopf.
Betretenes Schweigen, nur das anklagende Knirschen der Diele unter den Schuhsohlen. Ich öffne die Tür, Stella schlüpft hindurch.
"Wir können uns ja auch mal in der Stadt ..."
"Lieber nicht. Machs gut", sagt sie ohne zurückzusehen und läuft die Treppe hinunter.
Ich schaue ihr nach, hoffe vergebens auf ein versöhnliches Lächeln und warte, bis die Haustür ins Schloss fällt.