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Cranberries
Es ist Sommer, weit in Kanadas Westen, hoch im Norden.
Am Morgen dampft die Erde, das weißliche Sonnenlicht durchdringt mühsam die Wolkenfelder.
Stromschnellen glitzern; auf der anderen Flussseite stehen Bisons wie Felsbrocken. Dunkel und unbeweglich, nichts kann sie beeindrucken.
Ein offener Jeep brettert über den schlecht erkennbaren Weg, schleudert, taucht ein in Bodenwellen, macht einen Satz und hält mit kreischenden Bremsen.
Astrid steigt aus und nimmt ihr Kopftuch ab.
„Du fährst wirklich wie ein Verrückter“, sagt sie. "Hoffentlich kannst du einen Moment warten, bis ich meine Sachen raus hab.“
„Wenn es denn sein muss ...“ Jeffs Worte spiegeln seinen Gesichtsausdruck wider.
Die Frau presst die Lippen zusammen. „Ich melde mich, wenn ich fertig bin.“ Sie legt Kameraausrüstung und Funkgerät ins Gras.
Erdbrocken schleudern hoch. Er prescht davon, als ginge es ums nackte Leben. Blaue Schwaden wabern in der Luft.
Sie streckt den Mittelfinger, ohne die Hand zu heben.
* * *
Diese Seite ist waldbestanden. Etwas spärlich am Fluss, dichter im ansteigenden Gelände. Cranberries überall – grellrote Punkte im immergrünen Laub.
Der wilde Truthahn streicht vom Baum, die Sonne steigt, alles erhellt sich, glänzt und leuchtet. Der Wapiti steht am Hang und schaut auf sein Reich. Hoch reckt er den Kopf, das mächtige Geweih berührt seinen Rücken. Von oben nähert sich der Grizzly, unhörbar, unsichtbar, jede Deckung nutzend.
Er macht einen mächtigen Satz, der Wapiti geht rücklings zu Boden. Der Grizzly verbeißt sich in dessen Kehle, genießt den Geschmack von Macht und Blut.
Die Hufe des Hirschs zucken wie im wildesten Galopp, wollen in den Himmel schlagen. Dann wird er ruhig, auch die Kiefer des Bären entkrampfen sich. Er reißt die Bauchdecke auf.
Lunge, schaumig und rosarot. Knackige Nieren. Dunkelrote Leber, prall und edel. Der aufsteigende Duft schürt seine Gier. Als er Maß nimmt für den Königsbiss, ertönt vom Fluss wütendes Knurren.
Ein Koloss nähert sich mit schwingendem Schritt, das Gebiss entblößt, gesträubtes Fell, bereit zur Attacke. Grizzly gegen Grizzly – Fressen ist Leben.
Der erste Hieb ist furchtbar, auch alle folgenden. Beide versuchen, eine günstige Position am Hang einzunehmen, sich von oben auf den Gegner zu werfen. Das ist kräftezehrend.
Der Kampf verlangsamt sich, wird zum Massaker. Die Kontrahenten richten sich auf, verbeißen sich ineinander. Mit ihren Reißzähnen und sichelscharfen Klauen zerfetzen sie sich Stück um Stück.
Dann holen sie aus zum letzten Hieb, ausgelaugt, mit bleiernen Pranken, mit dem Rest ihrer gigantischen Kraft. Ihre Kehlen stoßen Geröchel und rötliche Nebel aus wie kranke Geysire, die Muskeln zucken und zittern im Krampf.
Die tödliche Umklammerung löst sich und jeder verendet im eigenen Blut; eben noch cranberryrot, wird es dunkel, beinahe schwarz. Es vermengt sich mit dem des anderen – Blutsbrüder im Tod.
Der prächtige Wapiti liegt in der prallen Sonne, sein Gedärm wird bald stinken.
* * *
Astrid verwünscht die neuen Schuhe, am liebsten würde sie barfuß gehen. Die langen Stunden stehen in keinem guten Verhältnis zur Ausbeute. Allerweltsbilder halt, von genialen Schnappschüssen keine Spur.
Plötzlich erstarrt sie. Was zum Teufel ...? Zwei stattliche Grizzlys auf verwüstetem Gelände, das Fell in Fetzen, blutverkrustet; ein Zwölfender-Wapiti in seiner ganzen Herrlichkeit, mit durchbissenem Hals und offenem Bauch, auf einem Teppich von Schwarzlack und Grasgrün mit roten Pünktchen – darüber sirrende Fliegen im Blutrausch. Sie besinnt sich und fotografiert wie besessen.
Der Abendschein färbt den Fluss, verkitscht Wald und Auen mit einem schrecklichen Rosa.
Zwischen den Felsblöcken taucht der Jeep auf. „He“, schreit Jeff, „Mach hin!“
„Zehn Minuten noch.“
„Die sind bei dir eine halbe Stunde.“ Er steigt aus und kommt näher. Dann hält er die Hand gegen die tiefstehende Sonne. „Oh verdammt – was war denn hier los?“
Sie macht letzte Bilder und steckt die Kamera weg. „Siehst du doch. Die Bilder sind Gold wert.“
„Das meinst du. Aber auch das wird in die Hose gehen.“
Sie schweigt, er schiebt nach: „Und ich hab keine Lust mehr, deine teuren Hobbys zu finanzieren. Mir reicht’s.“
„Mach, was du willst. Ich komme auch ohne dich klar.“
Jeff fasst sie am Arm und zwingt sie, ihn anzuschauen. Sein Gesicht wird unglaublich breit: „Wie in den letzten zwanzig Jahren? Du hast mich schon ein Vermögen gekostet. Immer den Kopf voller Rosinen: Ballettschule, Ashram, Mal-Karriere, dein Super-Restaurant – alles Scheiße, verjuxtes Geld, aber Jeff hat’s ja. Für’s Foto-Atelier ist auch schon jede Menge Kies draufgegangen, aber wen juckt das? Dich doch nicht!“
Sie gehen zum Jeep zurück. Plötzlich bleibt sie stehen, dreht sich langsam um und schaut nochmals zum Kampfplatz.
„Kannst dich nicht sattsehen, was?“ Astrid verkneift sich die Antwort und öffnet die Heckklappe.
Er startet den Motor und spielt mit dem Gaspedal.
„Jetzt hör auf mit dem Scheiß!“, schreit sie ihn an. „Du machst mich ganz verrückt.“
Jeff lacht wie ein Idiot, drückt auf die Hupe und lässt den Jeep einen Hopser machen.
„Das bist du sowieso schon!“, brüllt er in den Lärm. Dann lässt er den Motor aufjaulen und Astrid steht in einer Dieselwolke.
Sie muss husten und speien. Jeff feixt, ihr kommen vor Machtlosigkeit und Wut die Tränen. Als sie mit blinzelnden Augen Taschen und Stativ neben Verbandszeug, Feldspaten, Reservekanister und Warndreieck verstaut, lässt Jeff den Jeep nochmals springen. Eine eiserne Hand presst ihr Hirn, es schmerzt wie eine Kolik.
Jeff dreht den Rückspiegel, um ihre Verzweiflung besser genießen zu können, sieht sie immer größer werden, ihren verzerrten Mund – der Schlag trifft ihn mit voller Wucht.
Er rutscht mit offenen Augen aus dem Wagen ins rotgesprenkelte Grün.
Astrid hält den Spaten mit beiden Händen, starrt mit aufgerissenen Augen auf das verschmierte Metall, dann auf Jeff, erbricht sich, würgt, bis nichts mehr kommt.
Plötzlich bewegt sich sein Arm.
Wie von der Viper gebissen schreit sie auf, wirft sich in den Jeep, tritt das Gas durch, lässt die Kupplung springen, wühlt mit allen vier Rädern über Jeffs Kopf und Bauch. Sie schreit zusammenhangslos und hysterisch, dann findet sie Worte: „Jetzt fick dich selbst, du Schwein“, wütet sie, dann noch lauter und schriller: “Verrecke, du miese Sau“. Durch Cranberries und feuchte Erde setzt sie zurück. „Geh zum Teufel, du widerliches Stück!“, kreischt sie mit geschwollenen Halsadern und fährt mit Vollgas über seine Beine. Ihr treten die Augen aus den Höhlen. „Und das ist für Debbie! Die kann dir im Himmel einen blasen“. Mit entstelltem Gesicht schreit sie: „Danke schön auch für Dawson. Was bist du doch für ein Schwein!“ und fährt nochmals über Kopf und Brust.
An einer mächtigen Wurzel kommt der Jeep zum Stehen. Sie schlägt mit der Stirn aufs Lenkrad und kollabiert. Zuckt wie der Wapiti in seiner schwersten Stunde, wird geschüttelt, gepackt von den Waldgeistern, kann vor Schluchzen kaum Luft holen.
Sie schreit, flüstert, wimmert, kichert irre.
Der Motor erstirbt, mit einem Mal ist es still. Am Himmel kreisen schwarze Vögel, die Fliegenschwärme werden größer.
Längst ist es dunkel geworden. Astrid öffnet die Augen und erblickt im Schein des vollen Mondes ein schreckliches Schlachtfeld. Koyoten raufen um die besten Stücke, etwas Schwarzes flattert dazwischen. Benommen beginnt Astrid Jeff zu entkleiden, nimmt seine Uhr, Schuhe, Socken und das Kettchen, das sie ihm zum Fünfzigsten geschenkt hat. Und das Toupet. Immer wenn er kam, verschob es sich auf groteske Art. Sie zieht ihn hinüber, dorthin, wo es schmatzt, knurrt und knirscht.
Mit leerem Blick lässt sie seine Hände los. Sollte sie ihm noch etwas sagen?
Sie geht stumm zurück, holt ein paar Mal laut und tief Luft und startet den Motor.
Der Weg wird allmählich besser, sie erreicht die Straße nach Careton. Die folgt dem Fluss, der immer breiter wird.
Astrid bringt die Meilen bis zur Brücke hinter sich, fährt auf den Zubringer und befindet sich über dem Strom. Auf der Standspur hält sie an.
Der Mond ist weitergewandert, Positionslichter schaukeln auf dem Wasser.
Sie wickelt Jeffs Sachen um den Wagenheber, zurrt seinen Gürtel darum und wirft das Bündel übers Geländer.