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Celebrate Yourself
Das Pflaster ist abgenutzt, brüchig. Doch es schimmert. Als hätten die Besucher nicht nur ihre Schuhe, sondern auch die Steine poliert. Mulden überziehen den Weg zum Kirchenportal, fügen sich zu einer narbigen Landschaft ölig glänzender Plättchen, die an den Panzer eines Reptils erinnern.
Über der Tür hängt eine Fahne. Goldene Schrift auf violettem Grund: Celebrate Yourself steht darauf. Und darunter Unity Healing Church of Arizona. Eine Ecke der Fahne weht hinein in den Eingang, so dass der Stoff den Kopf streift, wenn man sich beim Eintreten nicht beugen will. Rau verputzte Wände umgeben den Platz, wachsen hinein in den Himmel, beschneiden sein Blau zu einem winzigen Viereck.
Wann hatte ich mich in Mady verliebt? Ich wusste es nicht mehr. Irgendwann in den letzten Monaten meines Austauschsemesters hier in Phoenix, als das Frühstück immer noch nach Heimweh schmeckte. Als ich keine Sonne mehr sehen wollte und sie doch jeden Morgen schien und Traurigkeit in mich hineinglühte. Mady. Hatte sie mich gefunden oder ich sie? Ich weiß nur noch, dass sie auf einer Party war, die meine Austauschfamilie mir zu Ehren gegeben hatte. Dass sie weinte, weil ein Typ mit ihr Schluss gemacht hatte. Irgendwann in der Nacht lehnte sie sich gegen mein Knie, und ich streichelte ihr über den Kopf. Winzig und zerbrechlich fühlte er sich an, wie der eines Vogels. Da hatte ich mich in sie verliebt.
„Du musst den Hut absetzen“, sagte Mady, als wir auf den Eingang zugingen.
„So was mach ich nur im Bett.“
„Spinner! Bitte tu‘s! Mir zuliebe.“
Ich hatte ihren verlegenen Blick gesehen. Immer reagierte sie so, wenn ich was Anzügliches sagte. Sie hätte mich mal daheim hören sollen, wenn ich mit meinen Handballkumpels unterwegs war, dagegen war das hier der reinste Betschwesterntalk. Und besonders weit gekommen war ich bei ihr auch noch nicht. Nach sechs Wochen! Hier und da mal ein bisschen Gefummel im Auto. Aber so richtig? Nee Kumpel, das war nicht. Okay, sie küsste tierisch gut. Aber was sollte ich den Jungs zuhause erzählen? Dass ich mich in ein Mädel verguckt hatte, das ich nur küssen durfte? Auch wenn die Küsse süß schmeckten wie Mango? Das konnte man einem Handballkumpel nicht erzählen? Klang verdammt schwul. Ich seufzte. Sie hatte halt noch nicht viel Erfahrung, und dann war da diese strenge Kirche, in die sie ging. Außerdem hatte ich mich in sie verliebt. Sie hatte mir den Ball echt ins Netz gesetzt. Das war einfach so.
Mady lächelte mir zu. Schön sah sie aus, sie hatte Lippenstift aufgelegt und das Haar zu einem Nackenknoten geschlungen. Eigentlich stand ich nicht auf so was, mochte weder angemalte Weiber noch auf altmodisch getrimmte. Aber zu ihr passte es.
Sie tippte gegen die Krempe meines Hutes. „Steht dir! Hab ich gut ausgesucht“, sagte sie. „Richtig cool, du American Idol“, dann kniff sie mich in den Oberarm und lachte. Das war ein Spiel zwischen uns, immer dem anderen sagen, wie gut man ihn fand, bis der verlegen wurde.
Ich nahm den Hut in die Hand und strich stolz über das weiche Stroh. Ein echter Stetson. Dann duckte ich mich. Eine Fahne, die schon Hunderte fettiger Köpfe berührt hatte, wollte ich von meinem Haar fernhalten. Ich war nicht gerade schön, aber auf meine roten Locken war ich stolz. Jedenfalls lobten die Mädels sie immer, wenn sie in mein Haar griffen, kleine Rollen um ihre Finger zwirbelten und damit spielten, bis man erst eine Hand und dann einen weichen Mund küssen konnte. Mady stolperte und griff nach meinem Arm. „Schon gut“, sagte ich, „ich laufe dir nicht weg.“ Ich neigte meinen Kopf zur Seite, um meinen steifen Nacken zu dehnen. Mein Blick streifte einen Vogel, der gerade auf eine Fensterbank im Inneren der Kirche geflogen war. „Siehst du die Krähen? Immer Krähen. Wie kommt das? Immer sind Krähen in den Kirchen. Werden die Menschen ihnen ähnlich oder ist es umgekehrt? Ich glaube, das kommt vom Kirchenlieder Singen, meine Oma hatte zuletzt genauso einen Schnabel, weil sie zu viele Kirchenlieder ...“
„Hör auf“, sagte Mady, „man kann dich hören.“
Ich verstummte. Wenn ich schon mitkam, dann wollte ich den Moment für sie nicht verderben. „Schon gut“, flüsterte ich, „ich meckere ja nicht mehr. Alles für meine kleine Vogellady.“
Mady griff fester nach meinem Arm. „Tut´s dir Leid?“ Ich schüttelte den Kopf, aber sprechen wollte ich trotzdem nicht. Aus Liebe in die Kirche gehen. Mann! Ich war froh, dass die Typen vom Handball das nicht wussten. Mady drückte einen Kuss auf meine Schulter. „Danke“, sagte sie. „Ich finde es schön, dass du mir den Gefallen tust und mitkommst, bevor du zurückfährst. Vielleicht habe ich heute Abend eine Überraschung für dich.“
„Yeah“, sagte ich, dachte kurz an Madys Eltern, die fortgefahren waren und an eine Nacht, die vor mir lag wie ein langes, spannendes Spiel, Angriff, Verteidigung, meine Hand am Ball und dann … Vielleicht würde ich heute Nacht zum Abschluss kommen. „Yeah“, sagte ich, spürte, wie sich mein Schwanz regte, und dachte an Madys kleine, spitze Brüste. „Yeah“, sagte ich noch einmal und fühlte mich sehr männlich und sehr amerikanisch. Dass ich für lange Zeit nicht zurückkehren würde, wenn ich erst nach Hause geflogen war, vielleicht nie mehr, das musste ich ja nicht heute sagen.
Das Innere der Kirche war wie ein Aquarium, eine tiefgrüne, kühle Welt. An einer Bankreihe wartete ein Mann und begrüßte die Eintretenden. Ein behäbiger Typ im Flatterhemd, der Bauch wölbte sich über den Jeans. „Das ist Pastor Cattlinger“, sagte Mady. „Komm schon, gib ihm deine Hand.“
Lachfältchen verneigten sich vor mir, eine verschwitzte Hand griff nach meiner. Am Ellenbogen spürte ich Madys sanften Zug. Sein Handdruck war weich, nur ganz am Ende hatten seine Finger etwas spitzig Zupackendes.
„Oh, Sie sind Lenny, wir haben in der Gemeinde schon viel von Ihnen gehört. Sie tun Mady ja so gut. Seit Sie da sind, ist sie ein ganz anderer Mensch.“ Ich lachte und schaute verlegen auf Madys rechten Arm, der noch immer an meinem lag. So dünn ist er, dachte ich und fühlte mich schuldig. Als ich hierhergekommen war, hatte sie auch so ausgemergelt ausgesehen, aber unsere Liebe hatte sie genährt und ein rundliches Vögelchen aus ihr gemacht. Jetzt war er wieder dünn.
„In einer Woche schon fahren Sie zurück nach Deutschland?“, fragte er. „Aber Sie werden unsere Mady doch nicht vergessen. Nicht wahr?“
Ich lachte verlegen und stammelte irgendetwas Belangloses. Wer will schon, dass der Pfarrer einem über die Schulter glotzt, wenn man einfach mal mit seinem Mädchen ficken will? Cattlinger sah mich an. Der kleine, dicke Pfarrer wirkte auf einmal nicht mehr behäbig, sondern erinnerte mich an einen spähenden Vogel. Für einen Moment spürte ich mich von seinem Blick gehalten, die Narbe an meinem rechten Mundwinkel pochte, so dass ich den Kopf senkte. Mein Blick fiel auf meine Schuhe, TV Großwallstadt stand darauf, und ein bisschen Sicherheit flutete zurück. Schlimmer als ein Spiel gegen Kiel konnte es bei den Betbrüdern hier auch nicht sein. Für einen Moment sah ich unseren Kreisläufer, wie er Cattlingers Kugelbauch aus dem Weg und mir den Weg zu Mady frei räumte. Ich grinste, dann drängte ich mich mit einer Entschuldigung an Cattlinger vorbei. Üble Auswirkungen hatte so ein Betpalast, dachte ich, da traute man sich noch nicht mal, an ein bisschen Liebe mit seiner Kleinen zu denken. Mady nahm meine Hand und drückte sie. Wahrscheinlich freute sie sich auch auf heute Abend. Wenn sie nur nicht so dünn geworden wäre. Und so traurig.
Die Kirche war halbvoll. „Lass uns hinten sitzen“, flüsterte ich, doch Mady wollte nach vorne. Na gut. Alles, was sie will, dachte ich, sie wird es schwer genug haben, wenn ich wieder nach Deutschland gehe. Ich hatte ihr versprechen müssen zurückzukommen. Ich wollte es ja auch, denn ich liebte sie. Aber diese Liebe zog mich manchmal unter Wasser. Und wenn ich sagte, dass wir noch verdammt jung waren, dann weinte sie. Welcher Kerl kann es denn ertragen, wenn sein Mädchen weint wie ein Kind? Wenn sie den ganzen Raum mit ihrer Liebe füllt und mit ihren Tränen, so dass für dich kein Platz mehr bleibt? Ach Mady. Ich griff nach ihrer Hand und küsste sie. Sie blickte mich erstaunt an.
Die Wand vor mir war mit violetten Stoffbahnen verhüllt. Davor wartete ein riesiges Schlagzeug, neben dem sich gerade der Chor aufstellte. Alle in schwarzweißer Kleidung. Ich musste grinsen, als mein Blick weiterwanderte zu den Bankreihen rechts von mir. Sie waren nicht leer, wie ich zuerst gedacht hatte, Stofftiere saßen dort. Stofftiere und Puppen. Als wenn sie an der Feier teilnehmen wollten. Ihre Glasaugen fixierten die gegenüberliegenden Wände, die Menschen, sie sahen aus, als warteten sie. Ich stieß Mady an. „Was ist das für eine Plüschbande?“, fragte ich. „Spielen die auch ein Instrument? Oder sind sie für den Spezialsound zuständig? Belly Cattle und die grölenden Teddys?“ Mady riss die Hand, mit der ich auf das Plüschheer gedeutet hatte, herunter. „Darüber lacht man nicht“, sagte sie. „Das sind die Geschenke der Leute, denen beim Healing geholfen wurde. Vor allem Kinder machen das und Jugendliche. Es ist Dankbarkeit. Wenn einem wirklich geholfen wird, schenkt man schon mal seinen Spielgefährten her.“ Ich stupste sie an: „Ist von dir auch einer dabei?“ Sie schüttelte meinen Arm ab. „Das ist was für Kinder“, sagte sie abweisend.
Ganz vorn saß eine Puppe, das lange, blonde Haar zu Zöpfen geflochten. Glänzende Augen starrten mich an. Neben ihr ein Teddy, das Fell abgeschabt und räudig wie bei einem uralten Hund. In der Luft lag ein erdiger Geruch. Ich schnupperte, bis ich es endlich hatte. So roch es, wenn man Marmelade zu lange hatte stehen lassen, und der Deckel sich vom grünen Gewölle des Schimmels nach außen wölbte. Eine Spielzeugarmee saß da, alte Teddys, ein paar neue, dann wieder eine verschrammte Puppe. Abgenutzt und zu Tode geliebt, alle in kunstvoll genähten, schwarzweißen Gewändern. Über der Bank mit den Stofftieren klaffte ein Fenster, es sah aus wie in die graue Wand geschnitten. Von draußen glaubte ich, das Schreien der Krähen zu hören.
Langsam füllte sich die Kirche. Die meisten standen, hatten die Mäntel ausgezogen, sie achtlos hinter sich auf die Holzbänke geworfen.
Ich atmete erleichtert auf, als ein Trommelwirbel einsetzte. Dann war es in einer Stunde hoffentlich vorbei, dachte ich und seufzte noch einmal. Eine Frau wandte sich mir zu: „Dein erstes Mal, Hun? Du wirst sehen, es ist wunderschön, mach einfach alles nach. Es ist gut, dass du da bist.“ Ich blickte die Bankreihen entlang. Ringsum freundliche Gesichter, die mir zunickten. Gesichter, die mich beobachteten. Voller Erwartung. Gesichter, die wussten, dass man nicht an Ficken denken durfte, wenn die Freundin traurig war. Augen, die mich fixierten. Ein Nicken. Überall. Freundlich und drängend. Ich drehte mich um, schaute nach hinten. Von allen Seiten wandten sich mir Köpfe zu, konnten gar nicht mehr damit aufhören, mich willkommen zu heißen, zu nicken und mich zu fixieren und noch einmal zu nicken. Ganz egal, wohin ich sah, ein Meer schaukelnder Köpfe. Ich wandte mich ab.
Endlich begann der Chor zu singen. Ein schnelles Lied, nicht so lahm, wie ich das von den Kirchenliedern zuhause kannte. Es groovte, ein rockiger Sound, mit Gospel gemischt. Außer mir standen jetzt alle, wiegten sich im Rhythmus der Musik und hoben die Arme. Einer nach oben, einer im rechten Winkel vor dem Körper. Wie begeisterte Schiedsrichter, die froh waren, einem eine Zeitstrafe aufzudrücken für ein Foul, das man nur gedacht hatte. Dann erhoben sie auch den anderen Arm und malten Kreise, ließen ihre Hände immer schneller rotieren, als wollten sie ein Loch aus der Luft herausschneiden. Mady zog mich hoch. Doch ich blieb steif. Cattlinger trat vor die wogende Menge und hob beide Arme. Der Oberschiedsrichter. Mein rechter Mundwinkel zuckte, Stiche pochten von den Zähnen bis in die Schläfen hinein. Verdammt. Nicht jetzt. Bloß keine Anwandlung. So hatte meine Oma die Schmerzattacken immer genannt. Das erste Mal hatte ich das, kurz bevor meine Tante und ich einen schweren Unfall hatten. Ein Wagen war wie aus dem Nichts in uns reingerauscht. Manchmal, wenn alles um mich herum schwieg, wusste ich, dass ich das Auto schon vorher gesehen hatte. Dass ich sie hätte warnen können. Nur meine Oma glaubte mir. Aber Mutter und Schwester erzählten was von Trauma und dass ich in eine Therapie müsste, aber da hatte ich schon mit dem Handball angefangen. Und im Verein lässt du schnell jede Psychomacke in den kleinen Zeh rutschen. Geblieben war mir von dem Unfall die Narbe am Mundwinkel. Und die Anwandlung.
Mir wurde schwindlig, die Luft fühlte sich kühler an, als sei die Temperatur um ein paar Grad gefallen. Die Stimmen des Chors tönten dumpf wie mit Plastikfolie umwickelt, die Bewegung der Tanzenden wurde träge. Die Konturen von Cattlingers Gesicht kräuselten sich, lösten sich auf und setzten sich wieder zusammen zu einer gezackten Raute.
Ich zwinkerte, schlug mit der Hand gegen meinen Kopf, setzte den Hut auf, ruckte ihn in drei verschiedene Richtungen, bis Cattlingers Gesicht in seine normalen Proportionen gerutscht war. Vielleicht sollte ich abhauen von hier, wenn ich schon Anwandlungen bekam von diesen frommen Luftbeschwörern. Wie von weitem hörte ich Madys Stimme. Sie riss mir den Hut vom Kopf und packte meinen Arm. Ich schnappte nach Luft. Mein schöner Stetson. Die Frau neben mir lachte. „Den kriegst du wieder, Schätzchen“, sagte sie und rückte dicht an mich heran. Sie hatte einen sehr tiefen Ausschnitt, wie kleine Pfropfen stachen die Nippel durch die dünne Bluse. Ein saurer Geruch wehte zu mir herüber. Ich ekelte mich, doch ich musste dauernd in ihr üppiges Dekolleté schielen. Von rechts spürte ich Madys Schenkel. Rieb sie ihr Bein gegen meines? „Sorry, das wollte ich nicht“, sagte sie und reichte mir den Hut.
Cattlinger breitete die Arme aus. Das schwarze Hemd blähte sich. Ich grinste, scheiß auf Anwandlungen, er sieht aus wie eine Wachtel, die mit den Flügelchen flattert, dachte ich und verdrängte die Erinnerung an seinen spähenden Blick. Der Chor schwieg, nur ein eintöniges Summen war zu hören. Die Menschen blieben stehen und ließen weiter die Hände in der Luft kreisen. Luftmassage, dachte ich, wie bescheuert, und, Muckibude für Baptisten, doch die Frau neben mir stand zu eng, als dass ich meinen Spott hätte genießen können.
„Freunde“, erhob Cattlinger seine Stimme, „wir wollen feiern. Uns. Heute und alle Tage. Nicht nur am Tag unserer Geburt. An jedem Tag. Es ist gut, wie wir sind. Es ist gut, was wir sind. Feiern wir uns und unsere Bedürftigkeit. Denn so heilen wir uns. Auf immer.“ Das Summen wurde lauter, schwebte im Raum wie eine einlullende Klangwolke, aus der die helleren Stimmen einiger Frauen herausstachen.
„Heilen wir uns, meine Brüder und Schwestern, indem wir uns lieben. Indem wir uns wollen, so wie wir sind. Nehmt eure Brüder und Schwestern an.“ Die Frau neben mir packte meine Hand und hob sie in die Höhe. „Lasst eure Brüder und Schwestern in eure Herzen.“ Die Frau zog meine Hand herunter, rückte dicht an mich heran, so dass ich ihre Brust spürte. Ich zog meinen Arm weg, wollte Abstand, ich schämte mich vor Mady, sie war doch neben mir, wie konnte ich mich da an fremden Titten aufgeilen, aber Mady lachte mir beruhigend zu und presste sich von der anderen Seite an mich, so dass ich auch ihre Brust spürte. Dann rieb sie wieder ihren Schenkel gegen meinen. So drängend hatte ich sie noch nie erlebt. Komisch war das. Vielleicht gehört das alles dazu, zu diesem Healing, beruhigte ich mich. Nicht schlecht, dachte ich gleichzeitig und musste grinsen, vielleicht konnte ich den Handballern zuhause ja doch davon erzählen. Langsam begann mein Körper sich mitzuwiegen im Rhythmus der Menge, begann Madys Bewegungen neben mir zu genießen.
Der Chor sang wieder. Eine Frau hatte sich aus der Menge gelöst und tanzte auf Cattlinger zu. Der Pastor legte ihr beide Arme auf den Kopf, als wollte er sie auf die Knie zwingen. Sie zuckte stärker und fing an zu schreien: „Vergib mir Herr, ich habe gesündigt, ich konnte mich selbst nicht lieben und wollte gehen. Hilf mir, dass ich zu dir finde und mich selbst liebe. Ich will geheilt werden.“ Cattlinger nahm die schluchzende Frau in die Arme, schob ihr etwas in den Mund, umarmte sie noch einmal und küsste sie, bis ihre Bewegungen weich wurden. Dann rief sie: „Ich danke dir, jetzt weiß ich, dass du mich liebst. Jetzt weiß ich, dass ich mich selbst liebe.“ Mir war heiß, meine Hände an den Brüsten der beiden Frauen schwitzten. Die Leute um mich herum rückten immer enger, traten nach vorne, zogen uns mit. Mady zuckte. Ein unheimliches Beben, das immer stärker wurde. Ich riss mich los, packte sie, schaute ihr ins Gesicht, sprach sie an. Mady sah aus, als wäre sie weit weg von mir. Ihre Arme wischten durch die Luft, zirkelten Spuren hinein, ihr Körper stampfte und drängte. Ich hatte Angst um sie, wollte sie halten, doch sie riss sich los und tanzte auf Cattlinger zu, wand sich, kreiste mit den Hüften. Wenn der Drecksack sie jetzt umarmte und küsste wie vorhin die andere Frau, dann würde ich ihn mit einem meiner besten Schlagwürfe beglücken, auch ohne Ball. Pfarrer hin oder her.
Mady tanzte mit weit erhobenen Armen vor Cattlinger, der sie an der Stirn hielt. „Sag es, Mady!“, schrie er. „Was ist es, das dich nicht lieben lässt?“ Hinter mir spürte ich Hände, die mich vorwärts schoben. Mady schrie, immer wieder, sie war in dem Gesang der Gemeinde kaum zu hören: „Ich habe Angst, dass er geht, Herr, hilf mir, mich selbst zu lieben. Hilf mir zu lernen, dass meine Wünsche zählen.“ Die Hände, die mich nach vorne zwangen, waren unerbittlich, Körper drängten nach, in der Luft lag ein betäubender Geruch. Wie Baldrian; aber gleichzeitig lag noch etwas anderes dahinter, etwas Schweres, wie verrottende Blumen. Ich war von Leibern eingeklemmt, direkt vor mir Mady. Mein Mundwinkel pochte. Ein Pulsen, das an Stärke zunahm, erfasste die Schläfe und ließ mich nur unscharf sehen. Wieder hörte ich die Stimme des Pastors, er sah groß aus, beugte sich über mich, als wollte er mich küssen. Der Gesang wurde dröhnend. „Oh Herr, hilf diesem armen Jungen sich zu lieben. Sich und seine Nächsten.“ Ein Stich, Blut lief über mein Gesicht, noch ein Stich, ein Messer wühlte über meinem Mund. Ich riss mich los, keilte mit dem Ellenbogen aus, Körpertäuschung und Durchbruch nach außen, das war´s, weg hier. Doch Mady drängte sich in mein Blickfeld, ich sah ihre Enttäuschung, ihren verletzten Blick, ich zögerte, dann spürte ich ihre Hüften an meinen, ihre Lippen auf meinem Gesicht. Arme griffen nach mir, Körper kesselten mich ein. Mady drängte sich noch dichter an mich, ich hörte ihr Flüstern: „Es wird schön, ich verspreche es, trink, das ist gegen die Schmerzen.“ Vor mir sah ich ihr Gesicht, hörte Cattlingers Stimme, spürte zwei Hände, die meinen Mund öffneten, etwas Scharfes floss hinein, Hände griffen nach meiner Nase, so dass ich schlucken musste. Wie in einer Großaufnahme sah ich Madys Mund, ihre Zunge wischte über die Zähne und ich hörte ihre Stimme: „Sag es, dass du bleiben willst, sag es!“ Mir wurde schwindlig, alles verschwamm und war heiß. Ich spürte ihren Körper, wie er sich an mich drängte, kreiste, forderte. Sie, die Schüchterne, forderte, wie noch nie eine Frau vor ihr. Ich war geil, schämte mich, hatte Schmerzen und drängte doch zu ihr hin. Ich schämte mich, hier vor allen Leuten, aber ich wollte sie. Jetzt und hier. Andere Frauenkörper drängten von hinten nach, griffen nach mir, Beine zwängten sich zwischen meine, rieben und pressten, über allem dröhnte Cattlingers Stimme: „Sag es, dass du willst, dass du sie willst.“ Ich spürte ihren zitternden Leib, ihre Hände auf meinen Oberschenkeln, wie sehr wünschte ich, dass sie weiterwanderten. „Ja, ich will, ich will“, krächzte ich und erkannte meine eigene Stimme nicht mehr. Noch einmal füllte etwas meine Kehle, süß schmeckte es und bitter. Ein glühendes Schneiden schälte meine Lippen, höhlte meinen Schädel und füllte ihn mit giftigen Dämpfen wie Quecksilber. Dann nur noch Hände, überall Hände. Das Brennen sank, als ob es meine Füße erreichen könnte, breitete sich aus und wurde kalt. Eiskalt. Ich wollte sprechen, doch alles war taub, von meinen Füßen her wuchs eine kalte Wand nach oben, ergriff meine Schenkel, meinen Bauch. Madys Gesicht verschwamm, bis ich nur noch ihre Lippen sah, ein Versprechen lag darin, dann fraß sich die Kälte in meine Brust, ließ sie erstarren. Ich wollte Mady küssen, wollte noch einmal ihre Augen sehen, doch dann war nur noch Eis.
Über das Pflaster wirbeln Blätter. Die Fahne über dem Holztor ist neu, doch die Farben sind geblieben. Golden auf lila spannen sich die Buchstaben über den Eingang: Celebrate yourself. Das Innere der Kirche ist leer bis auf drei einsame Besucher. Durch ein Fenster fällt ein Lichtstrahl auf die Bänke neben dem Altar. Staub flimmert. Eine Gestalt tritt aus dem Schatten, eine junge Frau mit hochgestecktem Haar. Der Lichtstahl streift ihre Hand, die Blume darin, und tanzt weiter, bis er auf einer Puppe und einem uralten Teddy liegt. Daneben sitzt ein neues Tier. Ein Stoffbär. Dichtes Fell drängt aus der schwarzweißen Kleidung. Unter dem Strohhut quellen rotblonde Kringel hervor. Locken, mit denen Mädchenhände so gerne spielen, bis man erst eine Hand und dann weiche Lippen küssen konnte. Am rechten Mundwinkel des Bären, wie von der Hand eines unachtsamen Kindes geflickt, das Zickzack einer groben, weißen Naht.