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Camposanto
Du fühlst schon länger dieses Kribbeln. Seit einigen Monaten merkst du es mal etwas mehr, mal etwas weniger. Diese kaum spürbaren Vibrationen machen dich ganz verrückt. Du fährst oft ziellos durch die Gegend und hoffst, den Ursprung dieses Gefühls zu finden.
Heute bist du wieder unterwegs, plötzlich bist du ganz sicher – Volltreffer! Du merkst, wie die Vibrationen deinen Körper durchströmen und immer stärker werden., Du bist erregt und verwirrt zugleich, alles kribbelt und juckt, Du bist ganz nah dran. Du kommst in ein kleines Städtchen, lässt das Auto stehen und gehst langsam an den alten, teils renovierten, teils bröselnden Fassaden entlang. Am Rande der Altstadt siehst du ein Tor. Du bist sicher, den richtigen Ort gefunden zu haben. Du willst endlich wissen, was dich in den Wahnsinn treibt. Das Tor ist verschlossen. Du liest ungeduldig die Hinweistafeln: "Camposanto Friedhof ... 1591 ... Schlüssel beim Verwalter abholen ...“ Dir ist nicht klar, was du dort drin vorfinden wirst und ob du der Einzige bist, den dieser Ort ruft, aber du willst es endlich herausfinden. Du holst den Schlüssel beim Verwalter, machst das Tor auf und schaust dich erst mal um. Überall alte Grabsteine, die mit Flechten bedeckten Gesichter der Engel, der Kinder und der Toten schauen dich an. Da es langsam dunkel wird, merkst du, dass die steinernen Totenschädel immer gruseliger aussehen. Aber es sind nicht die Grabsteine, nicht die Skulpturen, nicht die Kreuze. An den Wänden der Seitengänge sind Grabsteinplatten angelehnt, einige dieser Nischen sind frei. Eine dieser freien Nischen scheint dich zu rufen, Du verspürst immer stärker werdende Vibrationen in Deinem Kopf. Du schaust dir die dunkelgraue Mauer an, dir ist klar – du hast die Stelle gefunden.*
Du streckst die Handflächen nach vorne und berührst die steinerne Wand – das Kribbeln ist unerträglich. Du hast es endlich gefunden, ohne zu wissen was du gefunden hast. Instinktiv schaust du dich um und brichst ein kleines weißes Stückchen Putz aus der Wand heraus. Du streckst wie ein Schlafwandler deine Hand aus und ziehst einige weiße Linien. Du machst einen Schritt rückwärts und schaust dir die Wand noch mal an. Du siehst eine Tür, eine unbeholfene Kreidezeichnung. Dir ist klar, dass die Zeichnung noch nicht vollkommen ist. Da fehlt etwas. Nun bist du sicher, es ist ein Übergang, ein Tor in eine andere Zeit, gar Parallelwelt. Du schreibst instinktiv und willenlos eine Jahreszahl mitten auf die Tür, erst eine eins, dann eine fünf, dann zwei weitere Ziffern.*
Du schaust dir die Mauer nochmal an und dir wird klar, dass nun alles vollkommen ist. Der Ort, du, die Tür, die Zahl. Alles perfekt. Alles einmalig. Es ist dein Ort, deine Tür, dein Weg aus dieser Realität heraus. Du berührst noch mal die Mauer mit beiden Handflächen und fühlst nun, dass sie zu leben scheint. Sie fühlt sich zäh und pulsierend an, sie zieht dich in sich hinein und du hoffst, dass du auf der anderen Seite eine andere, vielleicht bessere Welt finden wirst. Dir ist nicht mal klar, ob es nur dein Bewusstsein ist, das sich auf die Reise ins Ungewisse begibt, oder ob dein Körper dich begleiten kann. Es fühlt sich so schön an, dass auf einmal alles unwichtig scheint. Du vergisst alles um dich herum und lässt dich fallen.
Wo – und wann - auch immer du nun bist, du kannst nicht mehr sehen, wie der Friedhofsverwalter einige Stunden später deinen leblosen Körper findet, an der Wand angelehnt, mit dem riesigen, gusseisernen Schlüssel in der Brusttasche. Das Licht seiner Taschenlampe ist auf deinen Körper gerichtet, so dass er deine Kreidezeichnung im Dunkeln nicht sehen kann. Vielleicht ist sie schon wieder verschwunden, aber das kannst du ja nicht wissen. Du bist jetzt auf der anderen Seite.