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Broken Shadow
Vincenzo DiLuca saß auf der Veranda, eine dampfende Tasse Tee vor sich. Die Sonne streifte bereits den Horizont, der Lärm der Zikaden war betäubend. Gedankenverloren blies er den Dampf von der Tasse, nippte von dem Tee. Als er den Wagen kommen hörte, lehnte sich Vincenzo zurück.
Eva trat zu ihm auf die Veranda. Leise, schüchtern, wie jemand, der nach Jahren des Schweigens wieder Worte finden muss. Vincenzo wusste, dass sie kommen wird. Nicht, weil sie sich angekündigt hatte. Das brauchte sie nicht. Er hatte den Dodge auf dem Parkplatz bei der Tankstelle gesehen, die rostigen Stellen, wie Stockflecken auf einem vertrauten Bild.
Evas Finger kneteten den Rand ihrer Handtasche. Ihre braunen Haare, die früher immerzu glänzten, wirkten stumpf und strähnig. Vince sah ihr an, dass sie etwas sagen wollte, aber es kam nichts. Er blickte ins Weite, spürte die Struktur der hölzernen Lehne unter seinen Fingerspitzen. „Setz dich!“, sagte er. Keine Aufforderung, eine Einladung, die sie annehmen oder ausschlagen konnte.
Eva zögerte, ehe sie sich auf dem Stuhl neben ihm niederließ. Der Stoff ihrer Jacke knisterte, wenn sie sich bewegte. Sie war nie gut darin gewesen, still zu sitzen.
„Leo“, begann sie, kaum mehr als ein Flüstern, „er steckt in Schwierigkeiten.“
Vince sah sie an. Keine Überraschung im Blick, nur Müdigkeit, die sich in allen Linien seines Gesichts zeigte. „Was für Schwierigkeiten?“, fragte er, obwohl er die Antwort nicht brauchte. Es war immer dasselbe. Junge Männer, die sich behaupten wollten.
„Er hat sich mit diesen Leuten eingelassen. Du weißt schon, die –“, ihre Stimme brach. Eva wandte den Blick ab, ehe sie weitersprach: „Victor und seine Schläger.“
Vincenzo sah den letzten Schein am Horizont verglimmen. Leo. Der Name hallte in seinem Kopf, wie ein Echo aus vergangenen Tagen. „Was willst du von mir, Eva?“
Sie drehte sich zu ihm, ihre Augen glänzten. Aber sie weinte nicht. Eva weinte nie. Sie war stark. Stärker als die meisten Frauen, die Vince kennengelernt hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er sich einst in sie verliebt hatte.
„Was meinst du, Vincenzo? Ist dir nicht gut?“
Vincenzo antwortete nicht. Er ließ ihren Blick auf sich ruhen, sah das Flehen in ihren Augen, das sie nicht zu verbergen versuchte. Vincenzo sah auf seine Hände, die still auf den Oberschenkeln lagen. Ruhig, das schwache Zittern der Finger kaum merklich. Die Narben an seinen Knöcheln erzählten Geschichten. „Ich bin raus, Eva“, sagte er und es klang, als wollte er sich selbst überzeugen.
Eva nickte, aber ihre Augen sagten etwas anderes. Sie rückte etwas näher, strich ihm übers Haar.
Vincenzo spürte, wie alles zurückkam. Er stand auf, trat an das Ende der Veranda und sah hinaus. Farblos hing die Welt vor ihm in den Seilen, hatte ihren Glanz verloren. „Ich werde mit ihm reden“, sagte er. Kein Versprechen, keine großen Worte. Nur das Nötigste.
„Mit wem, Vincenzo? Mit wem möchtest du sprechen?“ Eva nahm ihm die Tasse aus der Hand, legte ihm ein Kissen in den Nacken.
Das Broken Shadow, dort trieb sich der Junge herum. Vince kannte den Laden. Früher hatte er viel Zeit dort verbracht. Schäbige Hinterzimmer, in denen schlechte Entscheidungen getroffen wurden. Ein Ort, wo die Luft nach abgestandenem Rauch, verschüttetem Bier und Ärger roch. Wo jeder, der sich dort aufhielt, wusste, dass es bessere Plätze gab, nur nicht für Männer wie sie.
Vince ging ins Haus. Er hörte Eva davongehen, sie wartete nicht auf eine Verabschiedung.
Vor dem Spiegel im Flur blieb er stehen. Er sah alt aus. Er legte sich die Hände auf das Gesicht. Die Finger über den Augen ruhend atmete er tief durch. Warum hört Eva nie zu?
Sein Blick wanderte zu der kleinen Schale auf der Kommode. Darin lag der Schlüssel zu dem Schrank im Keller. Die Waffen, das Geld. Er griff nach dem Schlüssel, drehte ihn zwischen den Fingern, spürte das Metall. Dann ließ er ihn fallen. Er wird keine Waffe brauchen. Nicht heute.
„Ist dir kalt, Vincenzo? Möchtest du reingehen?“
Das Broken Shadow war genau so, wie Vince es in Erinnerung hatte. Ein heruntergekommener Laden an einer Ecke der Stadt, wo die Zeit stehen geblieben war. Die Neonreklame über dem Eingang zuckte wie ein sterbendes Tier.
Vince stieß die Tür auf, der Geruch einer längst vergangen geglaubten Zeit schlug ihm entgegen. Die Jukebox in der Ecke gab keinen Ton von sich, diente nur mehr als Beleuchtung. An den Tischen saßen die gleichen Gestalten: Männer mit geborgten Träumen und Frauen, die zu viele leere Versprechungen gehört hatten. Kein Ort für ihn, kein Ort für den Jungen.
Vincenzo bewegte sich durch den Raum, als wäre er nicht vor Ort. Ruhig und unauffällig. Er war nicht hier, um Lärm zu machen. Er wollte reden.
Er entdeckte Leo an einem der Ecktische. Umringt von jungen Männern. Laut, lachend, als wären sie unzerstörbar. Vincenzo erkannte das Leuchten in ihren Augen. Dasselbe Leuchten, das auch er gehabt hatte, das ihm jetzt Tränen in die Augen trieb.
„Warum weinst du, Vincenzo? Möchtest du–“, Eva hielt ihm die Tasse mit dem Tee an die Lippen, „hast du Durst?“
Leo war ein schlaksiger Kerl. Jung und unsicher. Die Zigarette in seiner Hand wirkte fehl am Platz. Ein Requisit, mit dem er nicht umzugehen wusste.
Vince trat an den Tisch, legte beide Hände auf die Lehne eines leeren Stuhls, und die Gespräche verstummten. Die Männer musterten ihn. Leo wirkte überrascht, aber er sagte nichts.
„Wir müssen reden“, sagte Vincenzo an den Jungen gewandt. Leo blinzelte, sah zu den Männern um ihn herum. „Ich bin beschäftigt“, meinte er mit einem Lächeln, das zu breit war, um echt zu sein. Vince ließ sich auf den Stuhl sinken. „Was ich zu sagen habe ist wichtiger.“
Ein Mann links von Leo, ein breitschultriger Kerl mit Tätowierungen, die aus dem Kragen seines Shirts den Hals hinaufkrochen, lehnte sich vor. „Wer bist du, Opa? Was willst du?“
„Ich bin niemand“, sagte Vince ruhig. „Ich bin nur hier, um mit Leo zu reden.“
Eva schluckte, als er den Namen aussprach. Sie ahnte längst, dass es um ihren Jungen ging.
Der Mann schnaubte. Ein raues, kehliges Geräusch. „Leo gehört zu uns. Wenn du ein Problem hast, klärst du es mit mir!“
Vincenzo sah ihn an, dann zurück zu Leo. „Geh vor die Tür, Leo. Ich werde mich nicht wiederholen.“
Der Junge wand sich auf seinem Stuhl. Unsicherheit flackerte in seinen Augen.
Mit einem Grinsen versuchte er es zu überspielen. „Ich bin kein Kind mehr, Vince. Du kannst nicht einfach auftauchen und mir sagen, was ich zu tun habe!“
Vincenzo lehnte sich zurück. Seine Hände ruhten nebeneinander auf dem Tisch. Die Männer starrten ihn an. Er wusste, was in ihren Köpfen vorging. Sie sahen einen alten Mann. Jemanden, der seine besten Tage lange hinter sich hatte. Aber sie sahen nur die Jahre, die sich in Vince's Gesicht gegraben hatten, nicht das, was darunter lag.
Leo rutschte auf dem Stuhl umher, seine Augen huschten von Vincenzo zu den anderen. „Hör zu, Vince, ich weiß, du meinst es gut. Aber das hier ist nicht deine Sache!“
Der tätowierte Kerl grinste: „Hör auf den Jungen, Opa! Misch dich nicht in Dinge ein, die du nicht verstehst.“
Vincenzo hob den Kopf, fixierte den Blick des Kerls. Der Tätowierte lehnte sich vor, die Augen zu Schlitzen verengt. Seine Hand wanderte zum Gürtel, wo der Griff eines Messers hervorlugte. Vince bewegte sich nicht. Er hielt den Blick des Kerls fest, als hätte er ihn in einem Schraubstock gefangen. „Junge“, sagte er, und seine Stimme war nun anders – tiefer, kalt. „Du weißt nicht, wovon du redest!“
Eine erste Träne lief über Evas Wange. „Schon gut“, sagte sie und strich ihrem Mann über den Arm.
Einen Moment schien der Raum still zu stehen. Leo erstarrte, auch die anderen Männer. Das war keine Drohung. Kein Gebrüll. Nur eine Tatsache, die Vincenzo mit jedem Wort vermittelte.
Der tätowierte Mann stand auf, das Messer halb gezogen. Er grinste, aber seine Augen verrieten ihn. Vincenzo bewegte sich so schnell, dass die meisten es nicht einmal wahrnahmen. Seine Hand schnellte über den Tisch, packte den Arm des Kerls mit Präzision und Kraft, die sein Alter Lügen straften. Er drehte das Handgelenk des Mannes, zwang ihn, das Messer fallen zu lassen. Dann riss er den Arm herum und der Kopf des Kerls knallte auf die Tischplatte. Der dumpfe Aufprall hallte durch den Raum.
Der Tätowierte wimmerte vor Schmerz, das Gesicht verzerrt, als er versuchte, sich zu befreien. Leo war aufgesprungen, die Augen weit vor Schreck. „Vince, verdammt, was machst du? Lass ihn los!“
Vincenzo deutete mit dem Kinn zur Tür, ohne den Blick von dem Kerl auf dem Tisch zu nehmen. Er lockerte den Griff ein wenig, damit der Mann sprechen konnte. „Okay, ich hab’s kapiert“, keuchte der Tätowierte. Vincenzo ließ ihn los, und der Kerl taumelte zurück. In seinen Augen stand Hass, aber auch Angst. Die anderen am Tisch rührten sich nicht, keiner sagte ein Wort.
Vincenzo wartete, bis Leo draußen war. Vor seinem geistigen Auge sah er ihn im warmen Licht vor der Veranda stehen. „Wer hat hier das Sagen?“, fragte er an unbestimmte Adresse. „Victor?“, schob er nach und mehrere Köpfe nickten. Vince stand auf und ging Richtung Ausgang. „Sagt ihm“, ließ er über die Schulter verlauten, „Vincenzo DiLuca möchte mit ihm reden.“
Eva wandte sich ab. Sie wollte nicht mehr weinen – aber es war so schwer.
Vince ließ die Tür des Broken Shadow hinter sich ins Schloss fallen, sog die frische Nachtluft in seine Lungen. Das dumpfe Summen der Neonlichter über ihm vermischte sich mit dem Lärm der Zikaden und den Geräuschen der Stadt. Leo stand an der Wand gegenüber, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke.
„Hast du eine Ahnung, was du da tust?“, fragte Vince den Jungen, als er sich neben ihn gestellt hatte. Leo antwortete nicht, trat von einem Fuß auf den anderen. Der Schein der Straßenlaterne offenbarte die Verletzlichkeit auf dem jugendlichen Gesicht. „Ich“, begann er, „ich kann das händeln, Vince. Wirklich! Victor respektiert mich. Er hat mir sein Wort gegeben!“
„Sein Wort?“ Vincenzo schnaubte, schüttelte den Kopf. „Junge, das ist nicht mehr wert als der Dreck unter meinen Schuhen!“
Leo sah Vincenzo an, die Unsicherheit wich einem Hauch von Trotz. „Du verstehst das nicht. Die Zeiten haben sich geändert! Victor ist anders, Vince. Die Regeln haben sich geändert!“
Vincenzo kam einen Schritt näher. „Die Regeln ändern sich nicht! Du stirbst für deine Fehler oder zahlst dafür! Was glaubst du, was Victor von dir will? Respekt?“
Leo wich zurück, das kurze Aufbegehren in seinem Gesicht zerfiel. „Aber du hast dich doch auch durchgeschlagen, Vince. Und bist da rausgekommen!“
„Bin ich das?“ Vincenzo kam noch näher, seine Stimme ein Flüstern im Kopf. „Schau mich an.“
Der Junge wich ihm aus, wandte den Blick ab.
„Schau mich an!“, befahl Vince. „Sehe ich aus, als wäre ich da gut rausgekommen?“
Die Frage blieb unbeantwortet, als ein nachtschwarzer Cadillac um die Ecke bog und vor dem Broken Shadow zum Stehen kam. Leo machte einen Schritt zurück, Schweiß perlte auf seiner Stirn, während sich die Tür des Wagens öffnete.
Victor stieg aus, groß, gut gekleidet, mit der Arroganz eines Mannes, der weiß, dass er die Macht in Händen hält. Sein Gesicht war makellos, das perfekte Lächeln ohne Wärme.
„Vincenzo DiLuca!“ Victor breitete die Arme aus, als ob er einen alten Freund begrüßen wollte.
Vince rührte sich nicht von der Stelle, erwiderte ruhig den Blick.
Victor trat näher, legte eine Hand auf Leos Schulter, als wäre der Junge eine Trophäe, die er für sich beanspruchte. „Dieser Junge hier –, er hat großes Potenzial. Er ist klug, hat gute Instinkte. Genau das, was diese Stadt braucht.“
Vincenzo warf Leo einen Blick zu, spürte eine Mischung aus Stolz und Angst aufkeimen. „Er ist nur ein Junge“, sagte er. „Und Jungs wie er haben in diesem Spiel keine Zukunft.“
Victor lächelte, ließ die Hand von Leos Schulter gleiten und steckte sie lässig in die Tasche seiner Jacke. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber das liegt nicht an uns, oder? Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen.“
Es entstand eine Stille, die durch das Brummen der Straßenlaterne verstärkt wurde.
Victor testete ihn aus, wollte wissen, ob er bereit war, nachzugeben, sich dem neuen Gefüge unterzuordnen? „Leo kommt mit mir“, sagte er. Kein Bitten, keine Frage, eine Feststellung. „Du wirst ihn in Ruhe lassen!“
Victor lachte, schüttelte den Kopf. „Vince, so läuft das nicht.“ Er machte eine Pause, ließ die Worte in der Luft hängen. „Wir können einen Deal aushandeln, sicher. Aber den Jungen einfach so gehen lassen? Das wäre schlecht fürs Geschäft.“ Victor kam näher, seine Stimme ein eindringliches Rauschen: „Ich respektiere dich, Vince. Jeder hier weiß, wer du bist. Aber Respekt ist keine Währung, mit der man in diesem Geschäft bezahlt.“ Er hielt inne, sah Vincenzo in die Augen, und in diesem Moment war der Respekt nur Fassade. „Ich werde den Jungen nicht einfach so aufgeben!“
Vincenzo hatte gewusst, dass dieser Moment kommen wird. Er dachte, er wäre vorbereitet, aber der erste Schlag traf ihn im Nacken, ehe er agieren konnte. Hart, präzise, von einem der Männer Victors. Er ging zu Boden, steckte weiter Schläge ein. Dumpfer Schmerz brandete durch seinen Körper, als er nach Atem rang. Victor kniete sich neben ihn, die kühle Ruhe noch immer im Blick. „Das ist jetzt ein anderes Spiel, Vince“, flüsterte er. „Du bist nicht länger der, der die Zügel in Händen hält.“
Vince schmeckte Blut im Mund, kämpfte gegen die Schwärze, gegen die Nacht, die an ihn heranrückte. Leo stand starr daneben.
„Schafft ihn ins Krankenhaus oder lasst ihn liegen“, meinte Victor beiläufig, als er sich die Tür zu seinem Wagen öffnen ließ und einstieg.
Vince presste die Zähne aufeinander, kämpfte gegen den dichten Schleier, der sich über seinen Verstand legen wollte. Er hatte Schlimmeres durchgemacht. Härtere Schläge kassiert, sich aus tieferen Löchern gezogen.
„Du hattest deine Chance, Vince!“, rief Victor aus dem Auto. Für den Neuen hatte er eine Show abgezogen. Schau hin und lerne. So wird das gemacht!
Vince hustete, spuckte Blut. Ein roter Fleck zeichnete sich scharf von dem dunklen Grau der Straße ab. „Victor!“, krächzte er.
Victor hielt inne, sah ihn an, als würde er abwägen, ob es sich lohnte zuzuhören. Dann kam er zurück, sein Schatten fiel auf Vincenzo. „Was ist, alter Mann? Möchtest du doch noch einen Deal aushandeln?“
Vince lachte. Es klang hohl, brüchig. „Du hast nicht zugehört“, brachte er hervor. „Ich mache keine Deals!“ Er spuckte Victor Blut ins Gesicht.
Victors Blick veränderte sich. Nur ein Zucken, fast nicht zu bemerken. Aber Vincenzo sah es. Dann der Knall. Vincenzo roch das Schießpulver, wartete auf den Schmerz.
Victor hatte genug. Er drehte sich um, strich seine Jacke glatt und steckte den Revolver weg. Die Autotür fiel ins Schloss und der Wagen rollte davon.
„Leo“, sagte Vincenzo. Er mühte sich hoch zu kommen und sah sich um. „Leo!“, schrie er und den Rest der Welt fraß die Nacht.