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"Bringst du mich heim?"

sim

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13.04.2003
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"Bringst du mich heim?"

»Ich möchte heim«, weint Lisa flehentlich und blinzelt mich sehnsüchtig an. »Bringst du mich heim?« Immer die gleiche Frage, jeden Tag.
»Morgen bringe ich dich heim.«
Es ist das Einzige, das sie nie vergisst. Wenn alles andere in den Tiefen ihrer Gedächtnislücken verschollen ist, dieses Versprechen ist es nie.
»Du hast versprochen, mich heim zu bringen.«

Wissen Sie, wie weh das tut, wenn ich mich mit ihr daheim befinde?
Ich habe heute die Butter im Besenschrank gefunden, verziert mit den Fusseln einer alten Socke und den Farbresten schwarzer Schuhcreme.
Ich habe sie gehört heute Nacht, wie sie zitternd und ruhelos mit etwas kämpfte. Ich habe mit mir gekämpft, ob ich aufstehen sollte, um mich beschimpfen zu lassen, ob ich ihr Gesellschaft leisten sollte in ihrer Schlaflosigkeit, ihr zuschauen bei ihren rastlosen Wegen durch die Wohnung. Ich habe mich entschlossen, weiter zu schlafen, Lisa zu ignorieren, uns den Schmerz nicht anzutun, den wir verspüren, wenn sie sich hilflos mit Dingen abmüht, die sie einmal konnte.
Manchmal fehlt mir die Kraft dazu, aufzustehen und ihre Nächte zu begleiten.
Der Arzt reibt sich nachdenklich die buschigen Augenbrauen hinter seiner Brille und räuspert sich, bevor er etwas sagen kann: »Wieso kommen Sie erst jetzt?«

Es ist, als ob jemand in ihrem Gehirn auf die Bremse tritt, nicht dauerhaft, sondern stotternd, damit sie nicht ins Schleudern gerät.

Die ersten Tritte waren leicht, das Bremspedal nur kurz einmal angetippt, für ein Wort, für eine Zahl oder für einen Preis. Kaum spürbar musste sie manche Wege zwei Mal gehen, wenn sie beim Tischdecken eine Gabel zu wenig hatte, oder wenn sie vergessen hatte, dass Georg oder Werner, unsere Söhne, zum Essen kämen. Dann wurde das Pedal wieder losgelassen und sie lachte, machte Witze über ihren Alzheimer und holte das Vergessene nach.

Ab und zu erkundigte sie sich, welchen Tag wir denn hätten, und wenn ich ihr sagte »Sonntag«, dann fragte sie, ob die Post schon gekommen sei.

»Ist das nicht schrecklich, Karl?«, fragte Lisa mich verzweifelt und den Tränen nahe. »Ich konnte mir doch früher alles merken.« Sie suchte ein Wort, eines, das ihr nicht einfallen wollte, so sehr sie auch darüber nachdachte. Je mehr sie überlegte, um so weniger kam sie darauf, was sie sagen wollte. Ihr Gesicht verzog sich und kleine Tränen perlten ihre Wangen runter.
Wenn ich ihr doch bloß hätte helfen können.
Doch ich konnte nur raten, konnte versuchen aus den Wirren ihrer Sätze das Wort zu erahnen, das sie suchte, und musste bei jedem Vorschlag darauf gefasst sein, etwas an den Kopf zu bekommen, aber sie hatte nur Wörter für mich, die ihr noch einfielen, wütend hinausgeschleudert, tränenerstickt, sinn- und atemlos.
»Es fängt mit K an«, schrie sie mich an, »mit K wie Kaffee oder wie Kaufmann!« Wenn sie sich nicht so verzweifelt an diesem Wort festgeklammert hätte, vielleicht hätte sie ein anderes gefunden, kein besseres, aber wenigstens ein anderes, um nicht über die Suche nach dem Begriff zu vergessen, was sie hatte sagen wollen?

Die Wut wurde immer mehr zum Vorboten der Trauer, sie trommelte mit den Fäusten auf meine Brust, hämmerte ihren Zorn in mich ein und fiel dann zusammen, kauerte sich in den Sessel, zog die Beine an und schluchzte wie ein kleines Kind, bereit mich anzufauchen, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte.

Wenn Lisa früher einmal weinen musste, dann wollte sie von mir getröstet werden, in meinen Armen ruhen und sich dort stärken. Sie hat nicht oft geweint. Sie war stark genug, fröhlich und humorvoll. Wenn ihr ein Missgeschick passiert war, hatte sie über sich lachen können. So wundervoll über sich lachen, wie über mich. Es war ansteckend, meine Wut verflog und ich konnte frohen Mutes einen zweiten Versuch wagen.

Eines Tages hörte Lisa auf zu lachen.
Sie fragte, ich antwortete, sie schrie: »Warum weißt du immer alles besser?« Dann fing sie an zu weinen: »Und warum bin ich so dumm und werde immer dümmer?«
»Es ist das Alter«, versuchte ich sie zu trösten, »da lässt das Gedächtnis nach. Schau, was ich alles nicht mehr kann!«
Doch sie ließ sich nicht trösten, sie taumelte zwischen Wut und Trauer über sich selbst, kauerte sich in ihren Sessel, um gleich wieder aufzustehen, ohne zu wissen, warum.

Die doppelten Wege häuften sich, wurden zu dreifachen Wegen, wenn Lisa in der Küche nicht mehr wusste, warum sie dort war und was sie dort holen wollte. Sie funkelte mich an, wie sie es nie getan hatte, unzufrieden mit sich, mit mir und mit dem Leben, welches das Alter ihr aufzwingen wollte.

»Es ist das Alter«, erklärte uns der Arzt, den wir aufsuchten. Da kann man nichts machen.« Es war einer der besseren Tage, sie wusste, warum sie ihn besuchte und konnte ihm von ihrer Vergesslichkeit und ihrer Schlaflosigkeit erzählen. Der Doktor bedauerte: »Gegen das Alter gibt es keine Medizin.«
Wir gingen in die Apotheke, kauften eine Flasche Buerlecithin, damit Lisa wenigstens wieder besser schlafen können würde. Dann gingen wir nach Hause und ich las ihr vor, was auf dem Beipackzettel stand.
»Wenn es das Alter ist, warum hast du es dann nicht?«, brüllte Lisa mich an, weinte wie immer dabei und erwartete eine Antwort.
»Vielleicht altert jeder anders?«, versuchte ich es. »Ich kann mich nicht mehr so tief bücken wie früher, nicht so schwer heben, nicht so viel arbeiten.« Sie merkte den Betrug, sie wusste, dass sie den Jahren auch meine Tribute zu zollen hatte.

Die Bremse kann nicht so langsam getreten werden, dass wir nicht ins Schleudern geraten beim Zuschauen am eigenen Zerfall.

Auch wenn sie las, fehlten die Wörter. Sie hatte die Buchstaben verlernt, konnte sie nicht mehr in eine Reihe bringen. Die Buchstaben waren wie sie ins Schleudern geraten.
Sie konnte nicht mehr kochen, sie hielt die Erbsen in der Hand und wollte sie mit der Schale ins Wasser geben. Hielt sie ein Messer und ein Stück Brot in der Hand, wusste sie nicht, wie sie Butter verteilen sollte. Sie konnte den ganzen Tag nichts tun, als vor dem Fernseher sitzen und mir zuschauen, wie ich lernte.
Ich musste lernen, um sie zu versorgen, aber ich quälte sie damit. Jeder Erfolg musste verteidigt werden, gegen ihre eifersüchtige Wut darauf. Jede Hilfestellung wurde von Hass begleitet, wo ich Dankbarkeit erhofft hätte.

»Geh noch mal zum Arzt!«, forderten Georg und Werner mich auf, wenn sie in regelmäßigen Abständen anriefen oder zu Besuch kamen. »So kann es nicht weitergehen.«
Lisa freute sich über die Söhne, freute sich über den Besuch in ihrer langweilig und ärgerlich gewordenen Welt. Aber sie verwechselte ihre Namen, sprach sie falsch an oder fragte sie nach den falschen Berufen. Sie brachte immer mehr durcheinander.
»Geh noch mal zum Arzt! Und lasse dir nicht sagen, es sei das Alter!«

»Wie alt ist ihre Frau?«, fragt der Arzt im Krankenhaus, in das wir überwiesen wurden.
»Achtundsechzig«, gebe ich ihm Auskunft.
Er schweigt und schüttelt bedächtig den Kopf. Es macht mir Sorgen, wie er an seinen Brauen reibt, während er aus einer Schublade ein paar bunte Pappen hervorholt. Dann wendet er sich an Lisa und hebt seinen Kugelschreiber in die Luft: »Was ist das?«
»Ein Stift«, antwortet Lisa und lächelt dabei leicht entrüstet. »Herr Doktor, Sie wollen mich veräppeln.« Sie fuchtelt dabei mit dem Zeigefinger vor seinen Augen. »Das dürfen Sie mit einer alten Frau nicht machen.«
Der Arzt schüttelt nur den Kopf, sanftmütig, als ob er mit ihr flirten würde und meint: »Das würde ich nicht wagen, Frau Greiner.« Er steht auf und holt einen Blumentopf von der Fensterbank, kleine Usambaraveilchen, die Lisa besonders liebt. »Und das?«
Sie schüttelt den Kopf, schaut mich an und bittet mich um Hilfe, doch der Arzt gibt mir schnell ein Zeichen, indem er den Finger auf die Lippen legt. Er stellt den Blumentopf zurück und zeigt auf seine Armbanduhr.
Lisa sieht auf ihre, dann schüttelt sie wieder den Kopf und zuckt mit den Schultern: »Ich bin zu alt für solche Spiele. Ich möchte heim.«
»Sie dürfen bald heim«, verspricht ihr der Arzt, »aber erst müssen wir sie ein paar Tage hier behalten.
»Aber dann darf ich heim?«
Der Doktor nickt ihr freundlich zu, bevor er mich fragt: »Wie lange geht das schon so?«
»Zwei Jahre«, antworte ich ihm. »Es war erst nicht so schlimm, nicht Besorgnis erregend, aber im letzten Jahr ging es rapide bergab.«
Wieder reibt er sich die Brauen und legt die Pappen zurück in die Schublade.
»Es ist das Alter, da hat der Kollege Recht, es ist aber noch mehr.«
Will ich die Diagnose hören? Will ich das Wort hören, das er aussprechen möchte? Wenn er weiter so an seinen Brauen reibt, wird er irgendwann keine mehr haben. Ich unterbreche ihn nickend, bevor er aussprechen kann, was Lisa fehlt. »Was kann man dagegen tun?«
»Es gibt Medikamente«, erklärt er mir, »teure Medikamente. Wir werden Ihre Frau ein paar Tage hier behalten, um die Dosierung einzustellen.«
Ich schweige, Lisa schweigt auch, sie sieht mich nur ängstlich an, als ich mich erhebe.
Der Doktor hat sich auch erhoben, begleitet uns zum Empfang, von wo aus wir in Lisas Krankenzimmer gebracht werden sollen.
Lisa nehme ich an die Hand. Sie folgt mir brav, wie ein kleines Kind, starrt mit weit aufgerissenen Augen in die bedrohlich große Welt und traut sich nicht, mich loszulassen.

Ich schäme mich für die ruhigen Nächte, die ich ohne sie genieße, für die Erleichterung, die es bedeutet, sie fern zu wissen, fern und in der Obhut von Menschen, die für sie sorgen. Wie viel kann Liebe aushalten? Wie viel Änderungen kann ein Mensch ertragen, ohne aufzugeben? Wie viel Schlaf habe ich nachzuholen?
Ich besuche Lisa jeden Tag im Krankenhaus, ich trockne dort ihre Tränen und ich freue mich über ihr Lachen. Es gibt Tage, an denen geht es ihr so gut, dass sie in einer Zeitschrift blättern kann, dass sie auf den Fotos etwas sieht, und dass sie sich über die Blumen freut und über das Obst, das ich ihr mitbringe. Es gibt Tage, an denen kann sie sich den Apfel selbst in kleine Stücke schneiden, oder sie erinnert sich an die Zauberäpfel, die sie den Söhnen mit in den Kindergarten gegeben hat.
Georg und Werner kommen auch zu Besuch. Lisa strahlt dann über das ganze Gesicht, so wie ihre Kinder, wenn sie die Namen richtig zuordnen kann.
Jedes Mal ist es ein Kampf, zu gehen.
»Bring mich heim«, fordert sie mich auf, »bring mich bitte heim!« Doch ich weiß nicht, was dieses Heim für sie bedeutet.
Als ich sie heimbringen darf, sie wieder mit in unsere Wohnung nehmen kann, geht es ihr besser.
»Gehen Sie mit ihr spazieren«, rät mir der Doktor zum Abschied und drückt mir einen Brief für unseren Arzt in die Hand. »Bewegung wird ihr gut tun.«
Ich verspreche ihm, es zu tun.
Wie schön ist es, jede Kleinigkeit zu erleben, die sie selbstständig erledigen kann, wie zermürbend der Tanz zwischen Verzagen und Hoffnung, zwischen guten und schlechten Tagen.
Wie schäme ich mich für die Beleidigungen, mit denen sie den Zivildienstleistenden bedenkt, wenn sie sich über ihre schwindende Zulänglichkeit ärgert, wenn sie mal wieder bewusst erlebt, wie die Bremse in ihrem Gehirn getreten wird.

Wenn er da ist, habe ich die Zeit, zu unserem Arzt zu gehen, kann ihn um ein weiteres Rezept bitten, doch er schüttelt resigniert den Kopf.
»Ich darf es Ihrer Frau nicht mehr verschreiben, Herr Greiner«, erklärt er mir mit ehrlichem Bedauern.
»Es hat doch geholfen«, wende ich ein. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Natürlich heilt es die Krankheit nicht, aber es milderte die Folgen, sodass wir damit leben konnten.
»Ich weiß.« Der Arzt schafft es immerhin, mir in die Augen zu schauen. »Ich weiß, dass es geholfen hat. Aber schon eine Packung überschreitet das Budget, das ich für einen Patienten im Quartal habe um ein Dreifaches.« Jetzt senkt er doch lieber den Blick, weicht mir doch lieber aus, fummelt nervös an seinem Kragen und reicht mir die Hand. »Ich darf es nicht, tut mir Leid.«

Als der Taxifahrer, der uns zu St. Anna fahren soll, an der Tür klingelt, hat Lisa die Hosen voll. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, ihre Schließmuskel immer in solchen Momenten zu öffnen. Ich hatte sie extra noch vorher zur Toilette gebracht, hatte aufgepasst, dass sie alles erledigte. Doch als es läutet, sehe ich den feuchten Fleck in der Hose, sehe, wie sich ein flüssiger brauner Streifen, über ihren rechten Socken zieht, sehe die Angst aus ihrem Darm laufen, mit der sie mich erpresst, sie nicht fortzubringen.
Ich laufe die Treppen runter, bitte den Taxifahrer, den Zähler schon anzuschalten, und ein bisschen zu warten, renne, so schnell ich es in meinem Alter noch kann, ärgerlich und in meinem Entschluss bestärkt wieder in die Wohnung, um sie zu reinigen. Ein paar ihrer Kleidungsstücke sind zum Glück noch nicht in dem großen Koffer. Sie würde ja an den Wochenenden zu mir kommen. Die Pflege, derer sie bedarf, schaffe ich nicht mehr. Ich kann sie nicht aus der Wanne heben, sie nicht den ganzen Tag betreuen, so sehr mir die ambulante Pflege und die Söhne auch helfen. Ich habe die Kraft nicht mehr.
Ich ziehe Lisa aus, wische sie sauber und wechsle ihre Kleidung. Sie sperrt sich, hält die Arme steif. Lieber will sie nackt hier vor mir sitzen, als sich in die große Ungewissheit fahren lassen.

Das Foyer sieht einladend aus, in das ich Lisa hinter mir her zerre. Fest umschließe ich ihre Hand, schaue mich um, ob niemand beobachtet, wie ich ihren Willen breche, die Füße der kleinen zierlichen Person über den blankgewienerten Boden schleife, da sie sich selbst immer stärker gegen jede Fortbewegung sträuben, je näher sie an den haselnussvertäfelten Tresen gezogen werden.
»Konzentriere dich!«, befehle ich mir, als ich mit der Dame am Empfang das Formular ausfülle, doch die Gedanken wandern zu besseren Tagen, zu Tagen, an denen sie mich mit ihrem Lachen verzauberte, anstatt mich mit ihrer Wut auf sich selbst zu beschimpfen.
Sie wird sich ihr Zimmer mit jemandem teilen müssen, wird kein Reich mehr für sich haben, keinen Raum, in den sie sich zurückziehen kann. Dafür gibt man hier Acht auf sie, passt auf, dass sie sich nicht verirrt, und dass es Leitplanken gibt, an denen das Schleudern abgefangen wird.

Die Wohnung ist leer ohne sie. Niemand, der dazwischenredet, wenn die Nachrichten im Fernsehen laufen, keiner, der Fragen stellt, wenn ich mir den Musikantenstadl anschaue. Wem darf ich jetzt das Fleisch klein schneiden, wem in die Wanne helfen oder bei den nächtlichen Wanderungen zusehen? Die ersehnte Ruhe ist Grabesstille. Keine Musik kann sie durchbrechen.

Die Nachmittage sind die einzige Abwechslung. Die tägliche Busfahrt zu St. Anna, bei Lisa im Zimmer sitzen, ihr die Hand halten und ihr etwas erzählen, auch wenn sie nicht versteht, was.
Sie beschwert sich über ihre Mitbewohnerin, ohne den Namen zu wissen. Aber sie vergisst nie, dass sie ihr unsympathisch ist.
Wenn ich dann ihre Stimme mitnehme in meine Einsamkeit, frage ich mich, ob ich es hätte schaffen können. Hätte ich?

Es ist wie eine Strafe, dass sie mich nicht erkennt, wenn ich sie zu mir hole, wenn sie mit uns am Kaffeetisch sitzt, mit Georg, Werner und mir, und uns anschweigt, weil sie nicht weiß, wo sie ist.
»Bringst du mich heim?»
Ich wünschte, ich könnte es, meine Liebe, von ganzem Herzen wünschte ich, dich heim bringen zu können.

 

Hi Wurzel9nichtsie,

ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sagen soll. ;)

Vielen Dank und lieben Gruß, sim

 

Hallo sim

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Sie klingt klaubwürdig und die Charakter sind stimmig. Um ehrlich zu sein die Geschichte hat mir sogar ein ganz klein bisschen Angst gemacht wie es mir in vielen, vielen Jahren einmal gehen wird.

Bei Lisa hat sich mir das Bild eines kleinen hilflosen Mädchens aufgedrängt. Obwohl mir natürlich klar war dass es sich um eine alte Frau handelt. Ich finde diese Bild sehr passend weil die Kindlichkeit und die damit verbunden Hilflosigkeit bei Alzheimer ja wirklich zurückkommt.

Das einzige was für mir nicht stimmig war ist der Satz:

Dann wurde das Pedal wieder losgelassen und sie lachte, machte Witze über ihren Alzheimer und holte das Vergessene nach.

Soviel ich davon verstehe geht es bei den Witzen darum sich zu verstellen, seine Hilflosigkeit zu verstecken damit die Anderen einen nicht bemitleiden. Wohl auch um sich selbst belügen zu können( solange es außer mir niemand merkt ist es nicht war).
Und dass funktioniert einfach nicht mehr wenn man erst einmal zugegeben hat, dass man Alzheimer hat. Daher würde ich doch eher zu Vergesslichkeit anstatt Alzheimer tendieren. Dann hast du natürlich die Wortwiederholung. Vielleicht „und holt ihr Missgeschick nach.“

Auf jeden Fall gern gelesen
Sipper

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Sim,

anscheinend bin ich der einzige, dem es nicht gefallen hat, wie ich beim Überfliegen der Kommentare gesehen habe. Dass es mir nicht gefallen hat, liegt vor allem an drei Dingen. Erstens finde ich die Darstellung der Demenz nicht realistisch, zweitens stört mich der Ton des Erzählers, also des Ehemanns, drittens wirkt das Ganze auf mich penetrant danach, dass es dem Autor darum ging, auf die Tränendrüse zu drücken. Letzteres stört mich wahrscheinlich am allermeisten. Was die Demenz angeht: im Normalfall merkt der Betroffene nur ganz am Anfang, dass er vergesslicher wird, beim Fortschreiten der Erkrankung nicht mehr – einerseits ist das perfide, andererseits schützt es eine Person auch genau vor den Reaktionen, die Du hier von Anfang bis Ende aufbauschst. Dieser Ärger über die eigene Unzulänglichkeit, die Eifersucht auf den Ehemann - das ist Phantasie. Demenz ist für den Erkrankten ein Bewusstseinszustand, er ist nicht so selbstreflektiert wie Du es beschreibst. Aber darauf baut Dein Text auf, die ganze herzerreisende Tragik, die Du erzeugen willst. Sonst gäbe es Stellen wie diese nicht:

Die Wut wurde immer mehr zum Vorboten der Trauer, sie trommelte mit den Fäusten auf meine Brust, hämmerte ihren Zorn in mich ein und fiel dann zusammen, kauerte sich in den Sessel, zog die Beine an und schluchzte wie ein kleines Kind, bereit mich anzufauchen, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte.

Ja, das ist tragisch, auch wenn mir das wahrscheinlich unter keinen Umständen gefallen würde. Frauen, die mit den Fäusten auf Männerbrüste eintrommeln, sieht man auf ZDF in Telenovelas, und in Groschenromanen gehört so etwas wahrscheinlich zum Standard-Inventar. Aber irgendwie erwarte ich eben von Literatur etwas Anderes, ich sehe in so etwas keine Ehrlichkeit, nur einen Effekt.

Die doppelten Wege häuften sich, wurden zu dreifachen Wegen, wenn Lisa in der Küche nicht mehr wusste, warum sie dort war und was sie dort holen wollte.

Das ist doppelt, so etwas kommt schon am Anfang.

Wie schön ist es, jede Kleinigkeit zu erleben, die sie selbstständig erledigen kann, wie zermürbend der Tanz zwischen Verzagen und Hoffnung, zwischen guten und schlechten Tagen.

Der Erzählton des Ehemannes ist, wie gesagt, noch ein großes Problem, das ich mit dem Text habe. Was der Text völlig verschweigt, ist, dass so eine Erkrankung für die Angehörigen schlicht und einfach zur Routine wird. Da gibt es nicht jeden Tag Herzschmerz, da ist nicht jeder Tag ein Tanz zwischen Verzagen und Hoffnung. Wenn die Ehefrau sich in die Hose macht, dann wird die Windel gewechsel, da wird nicht jeden Tag getrauert und geweint, da wird nicht jeden Tag Schmerz über den Zustand des anderen empfunden sondern weitergelebt. Leben mit Demenz ist alltäglich für die Angehörigen - da gewöhnt man sich schnell dran. Insofern kann ich diesen gesamten Text nur als Versuch sehen, dieses Herschmerz-Mitleid zu erzeugen, und deshalb kann ich ihn in einem Wort zusammenfassen: Kitsch. Sicher sehr routiniert geschrieben, aber ich kann leider überhaupt nichts damit anfangen.

Gruß

Hal

 
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Hallo Sim,

Ja so Leidtexte sind auch nicht mein Ding. Der Effekt, den man damit auslösen will ... da sträubt sich was in mir dagegen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich deswegen nicht sensibel genug bin, oder vielleicht sogar zu sensibel, aber so genau wollte ich den Text jetzt gar nicht lesen, als ich gemerkt habe, in welche Richtung das geht. Anders gesagt: So ein Text bringt mich nicht zum Weinen, er deprimiert mich eher.
Der Film "wie ein einziger Tag", ist doch so ähniich, wenn ich das noch richtig im Kopf habe. Da gehts auch um Alzheimers und die Liebe und so, und das ist auch traurig. Aber da sieht man ja auch, wie schön das Leben vorher war. Das ist auch der Großteil des Films. Und die Tragik besteht zum Schluß darin, dass das Schöne vorbei ist.
Also ich denke man weint generell dann (jetzt im liter. Sinne) wenn man gerührt ist, und gerührt ist man doch in der Regel von den schönen Dingen im Leben. Von Schönheit. Wenn Leo am Ende von Titanic stirbt, und alle Mädels weinen im Kino, dann doch deswegen, weil die Zeit mit ihm so schön war, und nicht weil das Wasser so kalt ist. Und diese schöne Zeit spüren sie gerade dann am Intensivsten, wenn Leo von ihnen geht. Deswegen ist es traurig, weil es so schön war.
Wenn ich im Krieg bin, und zusehen muss, wie unschuldige Kinder bei lebendigem Leib verbrannt werden, habe ich hinterher vielleicht eine Posttraumatische-Belastungsstörung – aber ich glaube nicht, dass mir währenddessen die Tränen kommen. Bei Passion Christi haben glaub nicht viele geweint.

Und das fehlt mir halt bei dem Text. Zu viel Passion Christi, zu wenig Titanic. Hin und wieder zu betonen, dass sie mal schön gelächelt hat ... das ist mir nicht genug.

Aber der Text kam ja offensichtlich an, da bin ich wahrscheinlich einfach nicht die Zielgruppe für.

MfG,

JuJu

 

Ach Gott,

der Text ist ja fast acht Jahre alt. Natürlich ist es schön, wenn er noch gelesen und gemocht oder auch nicht gemocht wird, aber schreiben würde ich ihn wohl heute so nicht mehr. Eher steht er unter Denkmalschutz.

Bei aller berechtigter Kritik, Hal. Was ich wie auslösen, bezwecken, erreichen, erzeugen oder sonst etwas will, kannst du nicht wissen, höchstens darüber spekulieren, aber es ist vor allem völlig belanglos und gehört nicht in einem Kommentar.

Liebe Grüße
sim

 

Was ich wie auslösen, bezwecken, erreichen, erzeugen oder sonst etwas will, kannst du nicht wissen, höchstens darüber spekulieren, aber es ist vor allem völlig belanglos und gehört nicht in einem Kommentar.

Hast Du Recht, nehme ich zurück. Wobei es natürlich auch für Dich als Autor ein wichtiger Hinweis sein kann, wenn ein Leser bei einem Text das Gefühl bekommt, dass der Autor etwas Bestimmtes damit bezweckt hat - so etwas hat ja seinen Grund. Aber ich hätte es anders formulieren sollen.

 

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