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"Bringst du mich heim?"

sim

Seniors
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13.04.2003
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"Bringst du mich heim?"

»Ich möchte heim«, weint Lisa flehentlich und blinzelt mich sehnsüchtig an. »Bringst du mich heim?« Immer die gleiche Frage, jeden Tag.
»Morgen bringe ich dich heim.«
Es ist das Einzige, das sie nie vergisst. Wenn alles andere in den Tiefen ihrer Gedächtnislücken verschollen ist, dieses Versprechen ist es nie.
»Du hast versprochen, mich heim zu bringen.«

Wissen Sie, wie weh das tut, wenn ich mich mit ihr daheim befinde?
Ich habe heute die Butter im Besenschrank gefunden, verziert mit den Fusseln einer alten Socke und den Farbresten schwarzer Schuhcreme.
Ich habe sie gehört heute Nacht, wie sie zitternd und ruhelos mit etwas kämpfte. Ich habe mit mir gekämpft, ob ich aufstehen sollte, um mich beschimpfen zu lassen, ob ich ihr Gesellschaft leisten sollte in ihrer Schlaflosigkeit, ihr zuschauen bei ihren rastlosen Wegen durch die Wohnung. Ich habe mich entschlossen, weiter zu schlafen, Lisa zu ignorieren, uns den Schmerz nicht anzutun, den wir verspüren, wenn sie sich hilflos mit Dingen abmüht, die sie einmal konnte.
Manchmal fehlt mir die Kraft dazu, aufzustehen und ihre Nächte zu begleiten.
Der Arzt reibt sich nachdenklich die buschigen Augenbrauen hinter seiner Brille und räuspert sich, bevor er etwas sagen kann: »Wieso kommen Sie erst jetzt?«

Es ist, als ob jemand in ihrem Gehirn auf die Bremse tritt, nicht dauerhaft, sondern stotternd, damit sie nicht ins Schleudern gerät.

Die ersten Tritte waren leicht, das Bremspedal nur kurz einmal angetippt, für ein Wort, für eine Zahl oder für einen Preis. Kaum spürbar musste sie manche Wege zwei Mal gehen, wenn sie beim Tischdecken eine Gabel zu wenig hatte, oder wenn sie vergessen hatte, dass Georg oder Werner, unsere Söhne, zum Essen kämen. Dann wurde das Pedal wieder losgelassen und sie lachte, machte Witze über ihren Alzheimer und holte das Vergessene nach.

Ab und zu erkundigte sie sich, welchen Tag wir denn hätten, und wenn ich ihr sagte »Sonntag«, dann fragte sie, ob die Post schon gekommen sei.

»Ist das nicht schrecklich, Karl?«, fragte Lisa mich verzweifelt und den Tränen nahe. »Ich konnte mir doch früher alles merken.« Sie suchte ein Wort, eines, das ihr nicht einfallen wollte, so sehr sie auch darüber nachdachte. Je mehr sie überlegte, um so weniger kam sie darauf, was sie sagen wollte. Ihr Gesicht verzog sich und kleine Tränen perlten ihre Wangen runter.
Wenn ich ihr doch bloß hätte helfen können.
Doch ich konnte nur raten, konnte versuchen aus den Wirren ihrer Sätze das Wort zu erahnen, das sie suchte, und musste bei jedem Vorschlag darauf gefasst sein, etwas an den Kopf zu bekommen, aber sie hatte nur Wörter für mich, die ihr noch einfielen, wütend hinausgeschleudert, tränenerstickt, sinn- und atemlos.
»Es fängt mit K an«, schrie sie mich an, »mit K wie Kaffee oder wie Kaufmann!« Wenn sie sich nicht so verzweifelt an diesem Wort festgeklammert hätte, vielleicht hätte sie ein anderes gefunden, kein besseres, aber wenigstens ein anderes, um nicht über die Suche nach dem Begriff zu vergessen, was sie hatte sagen wollen?

Die Wut wurde immer mehr zum Vorboten der Trauer, sie trommelte mit den Fäusten auf meine Brust, hämmerte ihren Zorn in mich ein und fiel dann zusammen, kauerte sich in den Sessel, zog die Beine an und schluchzte wie ein kleines Kind, bereit mich anzufauchen, wenn ich sie in den Arm nehmen wollte.

Wenn Lisa früher einmal weinen musste, dann wollte sie von mir getröstet werden, in meinen Armen ruhen und sich dort stärken. Sie hat nicht oft geweint. Sie war stark genug, fröhlich und humorvoll. Wenn ihr ein Missgeschick passiert war, hatte sie über sich lachen können. So wundervoll über sich lachen, wie über mich. Es war ansteckend, meine Wut verflog und ich konnte frohen Mutes einen zweiten Versuch wagen.

Eines Tages hörte Lisa auf zu lachen.
Sie fragte, ich antwortete, sie schrie: »Warum weißt du immer alles besser?« Dann fing sie an zu weinen: »Und warum bin ich so dumm und werde immer dümmer?«
»Es ist das Alter«, versuchte ich sie zu trösten, »da lässt das Gedächtnis nach. Schau, was ich alles nicht mehr kann!«
Doch sie ließ sich nicht trösten, sie taumelte zwischen Wut und Trauer über sich selbst, kauerte sich in ihren Sessel, um gleich wieder aufzustehen, ohne zu wissen, warum.

Die doppelten Wege häuften sich, wurden zu dreifachen Wegen, wenn Lisa in der Küche nicht mehr wusste, warum sie dort war und was sie dort holen wollte. Sie funkelte mich an, wie sie es nie getan hatte, unzufrieden mit sich, mit mir und mit dem Leben, welches das Alter ihr aufzwingen wollte.

»Es ist das Alter«, erklärte uns der Arzt, den wir aufsuchten. Da kann man nichts machen.« Es war einer der besseren Tage, sie wusste, warum sie ihn besuchte und konnte ihm von ihrer Vergesslichkeit und ihrer Schlaflosigkeit erzählen. Der Doktor bedauerte: »Gegen das Alter gibt es keine Medizin.«
Wir gingen in die Apotheke, kauften eine Flasche Buerlecithin, damit Lisa wenigstens wieder besser schlafen können würde. Dann gingen wir nach Hause und ich las ihr vor, was auf dem Beipackzettel stand.
»Wenn es das Alter ist, warum hast du es dann nicht?«, brüllte Lisa mich an, weinte wie immer dabei und erwartete eine Antwort.
»Vielleicht altert jeder anders?«, versuchte ich es. »Ich kann mich nicht mehr so tief bücken wie früher, nicht so schwer heben, nicht so viel arbeiten.« Sie merkte den Betrug, sie wusste, dass sie den Jahren auch meine Tribute zu zollen hatte.

Die Bremse kann nicht so langsam getreten werden, dass wir nicht ins Schleudern geraten beim Zuschauen am eigenen Zerfall.

Auch wenn sie las, fehlten die Wörter. Sie hatte die Buchstaben verlernt, konnte sie nicht mehr in eine Reihe bringen. Die Buchstaben waren wie sie ins Schleudern geraten.
Sie konnte nicht mehr kochen, sie hielt die Erbsen in der Hand und wollte sie mit der Schale ins Wasser geben. Hielt sie ein Messer und ein Stück Brot in der Hand, wusste sie nicht, wie sie Butter verteilen sollte. Sie konnte den ganzen Tag nichts tun, als vor dem Fernseher sitzen und mir zuschauen, wie ich lernte.
Ich musste lernen, um sie zu versorgen, aber ich quälte sie damit. Jeder Erfolg musste verteidigt werden, gegen ihre eifersüchtige Wut darauf. Jede Hilfestellung wurde von Hass begleitet, wo ich Dankbarkeit erhofft hätte.

»Geh noch mal zum Arzt!«, forderten Georg und Werner mich auf, wenn sie in regelmäßigen Abständen anriefen oder zu Besuch kamen. »So kann es nicht weitergehen.«
Lisa freute sich über die Söhne, freute sich über den Besuch in ihrer langweilig und ärgerlich gewordenen Welt. Aber sie verwechselte ihre Namen, sprach sie falsch an oder fragte sie nach den falschen Berufen. Sie brachte immer mehr durcheinander.
»Geh noch mal zum Arzt! Und lasse dir nicht sagen, es sei das Alter!«

»Wie alt ist ihre Frau?«, fragt der Arzt im Krankenhaus, in das wir überwiesen wurden.
»Achtundsechzig«, gebe ich ihm Auskunft.
Er schweigt und schüttelt bedächtig den Kopf. Es macht mir Sorgen, wie er an seinen Brauen reibt, während er aus einer Schublade ein paar bunte Pappen hervorholt. Dann wendet er sich an Lisa und hebt seinen Kugelschreiber in die Luft: »Was ist das?«
»Ein Stift«, antwortet Lisa und lächelt dabei leicht entrüstet. »Herr Doktor, Sie wollen mich veräppeln.« Sie fuchtelt dabei mit dem Zeigefinger vor seinen Augen. »Das dürfen Sie mit einer alten Frau nicht machen.«
Der Arzt schüttelt nur den Kopf, sanftmütig, als ob er mit ihr flirten würde und meint: »Das würde ich nicht wagen, Frau Greiner.« Er steht auf und holt einen Blumentopf von der Fensterbank, kleine Usambaraveilchen, die Lisa besonders liebt. »Und das?«
Sie schüttelt den Kopf, schaut mich an und bittet mich um Hilfe, doch der Arzt gibt mir schnell ein Zeichen, indem er den Finger auf die Lippen legt. Er stellt den Blumentopf zurück und zeigt auf seine Armbanduhr.
Lisa sieht auf ihre, dann schüttelt sie wieder den Kopf und zuckt mit den Schultern: »Ich bin zu alt für solche Spiele. Ich möchte heim.«
»Sie dürfen bald heim«, verspricht ihr der Arzt, »aber erst müssen wir sie ein paar Tage hier behalten.
»Aber dann darf ich heim?«
Der Doktor nickt ihr freundlich zu, bevor er mich fragt: »Wie lange geht das schon so?«
»Zwei Jahre«, antworte ich ihm. »Es war erst nicht so schlimm, nicht Besorgnis erregend, aber im letzten Jahr ging es rapide bergab.«
Wieder reibt er sich die Brauen und legt die Pappen zurück in die Schublade.
»Es ist das Alter, da hat der Kollege Recht, es ist aber noch mehr.«
Will ich die Diagnose hören? Will ich das Wort hören, das er aussprechen möchte? Wenn er weiter so an seinen Brauen reibt, wird er irgendwann keine mehr haben. Ich unterbreche ihn nickend, bevor er aussprechen kann, was Lisa fehlt. »Was kann man dagegen tun?«
»Es gibt Medikamente«, erklärt er mir, »teure Medikamente. Wir werden Ihre Frau ein paar Tage hier behalten, um die Dosierung einzustellen.«
Ich schweige, Lisa schweigt auch, sie sieht mich nur ängstlich an, als ich mich erhebe.
Der Doktor hat sich auch erhoben, begleitet uns zum Empfang, von wo aus wir in Lisas Krankenzimmer gebracht werden sollen.
Lisa nehme ich an die Hand. Sie folgt mir brav, wie ein kleines Kind, starrt mit weit aufgerissenen Augen in die bedrohlich große Welt und traut sich nicht, mich loszulassen.

Ich schäme mich für die ruhigen Nächte, die ich ohne sie genieße, für die Erleichterung, die es bedeutet, sie fern zu wissen, fern und in der Obhut von Menschen, die für sie sorgen. Wie viel kann Liebe aushalten? Wie viel Änderungen kann ein Mensch ertragen, ohne aufzugeben? Wie viel Schlaf habe ich nachzuholen?
Ich besuche Lisa jeden Tag im Krankenhaus, ich trockne dort ihre Tränen und ich freue mich über ihr Lachen. Es gibt Tage, an denen geht es ihr so gut, dass sie in einer Zeitschrift blättern kann, dass sie auf den Fotos etwas sieht, und dass sie sich über die Blumen freut und über das Obst, das ich ihr mitbringe. Es gibt Tage, an denen kann sie sich den Apfel selbst in kleine Stücke schneiden, oder sie erinnert sich an die Zauberäpfel, die sie den Söhnen mit in den Kindergarten gegeben hat.
Georg und Werner kommen auch zu Besuch. Lisa strahlt dann über das ganze Gesicht, so wie ihre Kinder, wenn sie die Namen richtig zuordnen kann.
Jedes Mal ist es ein Kampf, zu gehen.
»Bring mich heim«, fordert sie mich auf, »bring mich bitte heim!« Doch ich weiß nicht, was dieses Heim für sie bedeutet.
Als ich sie heimbringen darf, sie wieder mit in unsere Wohnung nehmen kann, geht es ihr besser.
»Gehen Sie mit ihr spazieren«, rät mir der Doktor zum Abschied und drückt mir einen Brief für unseren Arzt in die Hand. »Bewegung wird ihr gut tun.«
Ich verspreche ihm, es zu tun.
Wie schön ist es, jede Kleinigkeit zu erleben, die sie selbstständig erledigen kann, wie zermürbend der Tanz zwischen Verzagen und Hoffnung, zwischen guten und schlechten Tagen.
Wie schäme ich mich für die Beleidigungen, mit denen sie den Zivildienstleistenden bedenkt, wenn sie sich über ihre schwindende Zulänglichkeit ärgert, wenn sie mal wieder bewusst erlebt, wie die Bremse in ihrem Gehirn getreten wird.

Wenn er da ist, habe ich die Zeit, zu unserem Arzt zu gehen, kann ihn um ein weiteres Rezept bitten, doch er schüttelt resigniert den Kopf.
»Ich darf es Ihrer Frau nicht mehr verschreiben, Herr Greiner«, erklärt er mir mit ehrlichem Bedauern.
»Es hat doch geholfen«, wende ich ein. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen kann. Natürlich heilt es die Krankheit nicht, aber es milderte die Folgen, sodass wir damit leben konnten.
»Ich weiß.« Der Arzt schafft es immerhin, mir in die Augen zu schauen. »Ich weiß, dass es geholfen hat. Aber schon eine Packung überschreitet das Budget, das ich für einen Patienten im Quartal habe um ein Dreifaches.« Jetzt senkt er doch lieber den Blick, weicht mir doch lieber aus, fummelt nervös an seinem Kragen und reicht mir die Hand. »Ich darf es nicht, tut mir Leid.«

Als der Taxifahrer, der uns zu St. Anna fahren soll, an der Tür klingelt, hat Lisa die Hosen voll. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, ihre Schließmuskel immer in solchen Momenten zu öffnen. Ich hatte sie extra noch vorher zur Toilette gebracht, hatte aufgepasst, dass sie alles erledigte. Doch als es läutet, sehe ich den feuchten Fleck in der Hose, sehe, wie sich ein flüssiger brauner Streifen, über ihren rechten Socken zieht, sehe die Angst aus ihrem Darm laufen, mit der sie mich erpresst, sie nicht fortzubringen.
Ich laufe die Treppen runter, bitte den Taxifahrer, den Zähler schon anzuschalten, und ein bisschen zu warten, renne, so schnell ich es in meinem Alter noch kann, ärgerlich und in meinem Entschluss bestärkt wieder in die Wohnung, um sie zu reinigen. Ein paar ihrer Kleidungsstücke sind zum Glück noch nicht in dem großen Koffer. Sie würde ja an den Wochenenden zu mir kommen. Die Pflege, derer sie bedarf, schaffe ich nicht mehr. Ich kann sie nicht aus der Wanne heben, sie nicht den ganzen Tag betreuen, so sehr mir die ambulante Pflege und die Söhne auch helfen. Ich habe die Kraft nicht mehr.
Ich ziehe Lisa aus, wische sie sauber und wechsle ihre Kleidung. Sie sperrt sich, hält die Arme steif. Lieber will sie nackt hier vor mir sitzen, als sich in die große Ungewissheit fahren lassen.

Das Foyer sieht einladend aus, in das ich Lisa hinter mir her zerre. Fest umschließe ich ihre Hand, schaue mich um, ob niemand beobachtet, wie ich ihren Willen breche, die Füße der kleinen zierlichen Person über den blankgewienerten Boden schleife, da sie sich selbst immer stärker gegen jede Fortbewegung sträuben, je näher sie an den haselnussvertäfelten Tresen gezogen werden.
»Konzentriere dich!«, befehle ich mir, als ich mit der Dame am Empfang das Formular ausfülle, doch die Gedanken wandern zu besseren Tagen, zu Tagen, an denen sie mich mit ihrem Lachen verzauberte, anstatt mich mit ihrer Wut auf sich selbst zu beschimpfen.
Sie wird sich ihr Zimmer mit jemandem teilen müssen, wird kein Reich mehr für sich haben, keinen Raum, in den sie sich zurückziehen kann. Dafür gibt man hier Acht auf sie, passt auf, dass sie sich nicht verirrt, und dass es Leitplanken gibt, an denen das Schleudern abgefangen wird.

Die Wohnung ist leer ohne sie. Niemand, der dazwischenredet, wenn die Nachrichten im Fernsehen laufen, keiner, der Fragen stellt, wenn ich mir den Musikantenstadl anschaue. Wem darf ich jetzt das Fleisch klein schneiden, wem in die Wanne helfen oder bei den nächtlichen Wanderungen zusehen? Die ersehnte Ruhe ist Grabesstille. Keine Musik kann sie durchbrechen.

Die Nachmittage sind die einzige Abwechslung. Die tägliche Busfahrt zu St. Anna, bei Lisa im Zimmer sitzen, ihr die Hand halten und ihr etwas erzählen, auch wenn sie nicht versteht, was.
Sie beschwert sich über ihre Mitbewohnerin, ohne den Namen zu wissen. Aber sie vergisst nie, dass sie ihr unsympathisch ist.
Wenn ich dann ihre Stimme mitnehme in meine Einsamkeit, frage ich mich, ob ich es hätte schaffen können. Hätte ich?

Es ist wie eine Strafe, dass sie mich nicht erkennt, wenn ich sie zu mir hole, wenn sie mit uns am Kaffeetisch sitzt, mit Georg, Werner und mir, und uns anschweigt, weil sie nicht weiß, wo sie ist.
»Bringst du mich heim?»
Ich wünschte, ich könnte es, meine Liebe, von ganzem Herzen wünschte ich, dich heim bringen zu können.

 
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Hallo FLoH,

auch dir vielen Dank für deine Kritik und deine lobenden Worte. Was die Spannungskurve betrifft, ist diese Geschichte in der Tat eher flach angelegt. Einen hohen dramatischen Bogen hätte ich eher unpassend gefunden.
Die Kindvergleiche entsprangen meiner Atmosphäre beim Schreiben. Ich habe sie auf deine Anregung hin versuchsweise mal weggenommen und die Geschichte ihne gelesen. Für mich fehlt der Geschichte dann zwar nichts inhaltliches, aber eben atmosphärisches. Mein Bauch sträbt sich gegen den Verlust. :)
Der Radiosender ist jetzt aber nur noch ein Radio. :)

edit: und jetzt ist es einfach Musik.:)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,
dir ist ein sehr eindringlicher Text gelungen über etwas, dass sich schwerer beschreiben lässt als manch anderes in dieser Rubrik aufgefasste Thema.
An Details meint man, persönliche Erfahrung zu erkennen. Die Atmosphäre, aufgebaut an der Verwendung einfacher Sprache, des "aktiven Wortschatzes", und kurzen, unkomplizierten Sätzen, ist sehr dicht. Die beiden Protagonisten sind lebendig, der Text kommt ohne Knalleffekte aus.
Das wiederkehrende Motiv des "nach Hause wollens", um das herum du deine Geschichte erzählst, plausibel und kennzeichnend für die Auswirkungen der Krankheit, die du dir zum Thema gemacht hast.
Es war der Titel, der aufmerksam machte, denn ich hörte von einem ähnlichen Fall, als ich vor zwei oder drei Jahren mit dem Weihnachtschor unterwegs war. Der Chor zieht immer an Heiligabend singend durch die Stadt, wohl seit rund 400 Jahren. Eine ältere Frau kam auf uns zu und erzählte uns, ihr Vater hätte nach einem Schlaganfall nicht mehr gewusst, wo er sei, und immer darum gebeten, nach Hause gebracht zu werden. Erst als er den Chor singen hörte, sagte er: "Ich bin ja doch zu Hause."
Ein derartiges Erlebnis ist der Frau in deiner Geschichte nicht gegönnt, die Medikamente sind teuer, der Mann schließlich überfordert mit der Pflege und der Veränderungen ihrer Persönlichkeit, die der Verlust der Erinnerung mit sich bringt.

Grüße,
...para


~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~

"räuspert sich, bevor er etwas sagen kann"

Hört sich fast ein wenig dramatisierend an. "bevor er sagt"?

"Sie war stark genug, war fröhlich (...) Missgeschick passier twar (...) es ansteckend war"

Ein "war" könntestst du streichen, viellicht das zweite?

"Wenn ihr ein Missgeschick passiert war... ich frohen Mutes einen zweiten Versuch wagen konnte"

Missverständlich:
Ihr passiert "das Missgeschick", warum kann er, der Erzähler, einen zweiten Versuch wagen, und nicht sie, der der erste Versuch misslang?

"Ich kann mich nicht mehr so tief bücken, wie früher (...)"

Komma überflüssig

 
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Hi Sim,
aus meiner Familie kenne ich selbst die Problematik, und finde du hast das ganze sehr einfühlsam und realistisch beschrieben. Ich hab mich oft selbst wiedererkannt.
Gruß susleyka

 

Hallo Paranova,

jetzt komme ich endlich mal dazu, dir auf deine Kritik zu antworten.

Den verwirrenden Satz habe ich versucht, noch etwas umzustellen, wäre schön, wenn du mich noch mal anpmst, ob es so besser ist. Ein War habe ich auch gestrichen, nur den melodramatischen Satz möchte ich wegen der Sprachmelodie gern so lassen.
Vielen Dank für deine Anregungen und für dein Lob.

Hi susleyka,

ich hoffe, das Wiedererkennen ist nicht zu schmerzhaft gewesen. Auch dir vielen Dank.

Euch beiden einen lieben Gruß, sim

 

Schälen oder palen, je nach dem, wie man es regional ausdrückt. Aber es reicht natürlich, wenn du dir eine Dose öffnest, Harkhov. ;)

 

Lieber sim!

Auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen. Stilistisch wie immer einwandfrei, beschreibst Du den Verfall dieser Frau und was es für ihren Partner bzw. ihre Familie bedeutet auf sehr eindrucksvolle Weise. Man möchte meinen, der eigentlich Leidende ist der Mann. Aber die Momente, in denen die Frau noch geistig da ist, stelle ich mir ebenfalls schrecklich vor. Wenn einem bewußt wird, wie man geistig verfällt, und man keine Kontrolle darüber hat, wann man geistig da ist und wann nicht. Das ist eigentlich auch mein einziger Kritikpunkt – daß ich das Gefühl habe, daß das Leiden ein bisschen zu viel auf den Mann gewichtet ist. Am Schluß aber, da paßt es absolut, da kommt richtig auch seine Verzweiflung heraus, wie gern er sie doch – auch geistig – nach Hause holen würde.

Insgesamt kann ich auch nur sagen: absolut gut gelungen. :thumbsup:

Nur noch ein paar ganz kleine Kleinigkeiten:

»fragte Lisa mich verzweifelt und den Tränen nahe, »ich konnte mir …«
– nahe. »Ich

»Wenn es das Alter ist, warum hast du es dann nicht?«, brüllte Lisa mich an …«
– muß sie wirklich brüllen? Es klingt mir doch sehr nach (berechtigtem) Selbstmitleid, warum fragt sie es nicht zum Beispiel unter Tränen?

»Will ich das Wort hören, dass er aussprechen möchte?«
– das

»»Bring mich heim!«, fordert sie mich auf, »bring mich bitte heim!«, doch ich weiß nicht, …«
– entweder: auf. »Bring mich bitte heim!« Doch …
– oder: »Bring mich heim«, fordert sie mich auf, »bring mich bitte heim!« Doch (ohne Rufzeichen nach dem ersten „heim“)

»Aber schon eine Packung überschreitet das Budget, das ich für einen Patienten im Quartal habe um ein Dreifaches.«
– das muß ich jetzt nachfragen: Ist das bei Euch so, daß der Arzt ein Budget pro Quartal hat? :shy: Oder hast Du das als Kritikpunkt für eventuell Kommendes erfunden? Es klingt doch sehr seltsam und unsozial…

»Ich darf es nicht, tut mir leid.«
Leid

»ärgerlich und in meinem Beschluss bestärkt wieder in die Wohnung«
Beschluss bestärkt – die Wiederholung von be- könntest Du vermeiden, wenn Du Dich für Entschluss statt Beschluss entscheidest (ich weiß, das war jetzt sehr kleinlich…) ;)

»Dafür gibt man hier acht auf sie«
Acht

Und das wars auch schon,

alles Liebe,
Susi :)

 

hallo liebe Häferl,

auch die vielen Dank für die Suche und für die Fehler, die du noch gefunden hast.

Ja, der Fokus liegt eindeutig auf dem Leben des Erzählers, seiner Erfahrungen. Er kan höchstens ahnen, wie schwer es für seine Frau ist, ihren eigenen Verfall mitzubekommen. Er spürt nur die Auswirkungen an sich. In dieser Wesensänderung soll auch Lisas Leid gezeigt werden.

»Wenn es das Alter ist, warum hast du es dann nicht?«, brüllte Lisa mich an …«
– muß sie wirklich brüllen? Es klingt mir doch sehr nach (berechtigtem) Selbstmitleid, warum fragt sie es nicht zum Beispiel unter Tränen?
Aus diesem Grund muss Lisa hier auch brüllen. Tränen wären mir u schwach gewesen. Zum einen, weil eben ein Symptom für Alzheimer eine Veränderung des Charakters ist, zum anderen, weil ich mir vorstellen kann, dass es eben nicht nur todtraurig, sondern auch unglaublich wütend macht, mitzuereleben, Dinge, die man selbstverständlich konnte, nicht mehr zu können, in seiner Selbsständigkeit eingeschränkt und immer mehr auf fremde Hilfe angewiesen zu sein.
– das muß ich jetzt nachfragen: Ist das bei Euch so, daß der Arzt ein Budget pro Quartal hat? Oder hast Du das als Kritikpunkt für eventuell Kommendes erfunden? Es klingt doch sehr seltsam und unsozial…
Ja, das ist bei uns so.Alle Medikamente, die ein Arzt über dieses Budget hinaus verschreibt und alle Dienstleistnúngen, die er über dieses Budget hinaus erbringt muss er aus eigener Tasche bezahlen. Natürlich handelt es sich dabei um einen Schnitt. Er kann also "teurere" Patienten, mit weniger kostenintensiven ausgleichen. Trotzdem ist die Budgetierung sehr eng. Die Budgetdaten, die ich hatte kamen allerdings aus dem Jahre 2002. Die Daten für das aktuelle Jahr nach der letzten Gesundheitsreform hatte ich nicht gefunden.
Es ist also kein kritischer Blick in die Zukunft sondern bundesdeutsche Realität, die bei ihrer Einführung vom damaligen Präses mit dem seinerzeit zu Unrecht zum Unwort des Jahres gewählten Begriff "sozialverträgliches Frühableben" kommentiert wurde. Genau dieser Zynismus der Gesundhetspolitik wurde damit gegeißelt.

Lieben Gruß, und vielen Dank nochmal. sim

 

Hallo Sim!

Gleich vorweg: ich habe nicht geweint. Wa aber nicht weiter tragisch ist, ich habe noch nie bei einer Geschichte geweint. Auch bei Bambi damals nicht. (kleiner Insider...)

Wissen Sie, wie weh das tut, wenn ich mich mit ihr daheim befinde?
Ist jetzt natürlich subjektiv, aber: warum sprichst du hier den Leser an? Ich finde, es macht absolut keinen Sinn. Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht grunsätzlich der Meinung, dass man den Leser außen vor lassen sollte, aber in diesem Fall... gefällt es mir nicht.

Doch ich konnte nur raten, konnte versuchen aus den Wirren ihrer Sätze das Wort zu erahnen, das sie suchte, und musste bei jedem Vorschlag darauf gefasst sein, etwas an den Kopf zu bekommen, aber sie hatte nur Wörter für mich, die ihr noch einfielen, wütend hinausgeschleudert, tränenerstickt, sinn- und atemlos.
Sehr, sehr viele Kommas... man muss schon aufpassen, dass sich einem das Gehirn beim lesen nicht verknotet... Mach das zwei Sätze draus...

Die Bremse kann nicht so langsam getreten werden, dass wir nicht ins Schleudern geraten beim Zuschauen am eigenen Zerfall.
Hier verstehe ich nicht ganz, was du sagen willst: So in etwa: Das Schleudern ist unvermeidbar?

ch weiß, dass es geholfen hat. Aber schon eine Packung überschreitet das Budget, das ich für einen Patienten im Quartal habe um ein Dreifaches.
Quo vadis, Gesundheitsystem?

Sim, du hast eine echt tolle Geschichte geschrieben.
Der Plot, der ist nicht interessant durch seine Wendungen, durch seine Spannung, nein, er ist einfach interessant, weil er realistisch ist. Und das auf eine sehr beeindruckende Weise in dieser Kürze...
Dein Stil ost hier sehr schlicht, aber das passt wie die berühmte Faust auf's Auge.
Eine tolle Geschichte, die mich begeistert hat, du siehst mich gebannt vor meinem Monitor sitzen und dich erst heimlich und jetzt ganz offen beneiden.

Nur bitte, bitte mach die Ansprache des Lesers raus. Die passt nicht und hat keinen Sim, ähm, Sinn. (Müder Witz, okay...)

In diesem Sinne
c

 

Hallo chazar,

vielen Dank fürs Lesen und für deine tolle Kritik.
Nur die Ansprache an den Leser kann ich nicht raus nehmen, denn es gibt sie nicht.
Die Ansprache ist an den Arzt des Krankenhauses gerichtet, dem der Prot die Anamnese erzählt.
Ich muss mal sehen, wie ich es deutlicher mache. Als ich den Teil kursic hatte, hieß es, es sei deutlich genug. Wenn ich es in wörtliche Rede setze habe ich aber das Problem innerhalb einer wörtlichen Rede weitere wörtliche Rede zu setzen.

Den langen Satz werde ich noch mal zu teilen versuchen und den mit den Bremsen hast du doch verstanden ohne dabei ins Schleudern zu geraten. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Manchmal fehlt mir die Kraft dazu, aufzustehen und ihre Nächte zu begleiten.
Der Arzt reibt sich nachdenklich die buschigen Augenbrauen hinter seiner Brille und räuspert sich, bevor er etwas sagen kann: »Wieso kommen Sie erst jetzt?
Schwierig, was du da ansprichst...
Da hier ja quasi der Arzt beschrieben wird, im selben Absatz, der auch als Ansprache gedacht ist...
...also ist die von dir gemeinte Absicht eigentlich so nicht verständlich, finde ich... was mich aber beim gesamter Text nicht gestört hat, ganz einfach deshalb, weil es mir gar nicht aufgefallen ist...

c

 

Hallo Sim,
viel zu sagen bleibt mir nicht übrig als enorm gute Geschichte!!!
Bewundernswert wie sehr du es geschafft hast, dich in diesen schweren Alltag einzudenken. Man meint du hättest das Geschehene, gleich dem Protagonisten vor Augen.
Die Echtheit, hat mich arg bewegt.
Wer will da kritisieren.
Gruß Lasius

 

Hallo Lasius,

ich mache es mal kurz und knapp. Hat mich sehr gefreut.
Ganz lieben Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Lieben Gruß, sim

 

"Herr Doktor, sie wollen mich veräppeln."
Sie groß
"Es ist das Alter, da hat der Kollege recht
Recht groß
Wir werden ihre Frau ein paar Tage hier behalten
Ihre groß
Hi sim,
ey, des tut ma jetzt echt Leid, ich kann eifach nix dazu sage.
Es is einfach so ... keine Ahnung, halt ... hm ...
Also, vom Schreibstil her wieder voll perfekt. So.
Zum Inhalt: Es is halt ... also, normal sozusagen ... wenn du verstehst. Also, des passiert ja im Alter ... oder kann passieren, wie auch angesprochen.
Vllt bin ich halt zu dumm für solceh Geschichten.
:heilig: Bruder Tserk

 

Hey Tserk,

muss dir nicht Leid tun, wenn du nichts dazu sagen kannst. Du hast ja Recht. Der Inhalt ist normal und passiert jeden Tag. Und außer dem Scherz "Alzheimer", wenn man etwas vergessen hat, machen wir uns wenig Gedanken darum.
In sofern bist du nicht zu dumm für die Geschichte, du erwartest nur etwas, das über die Normalität hinaus geht.

Vielen Dank und einen lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim

Hach, ich weis garnicht was ich sagen soll, du schreibst so schön, so zutreffend und so beängstigend real, dass ich eigentlich bei jedem Satz nichts weiter tun konnte als zu nicken.

Alzheimer ist eine schlimme Krankheit und ich musste schon oft erleben, was sie mit den Menschen macht.
Selbst ich als Krankenschwester, war mehr als einmal an der Grenze meiner Belastbarkeit, wenn ich solche Patienten betreuen musste.

Was Angehörige solcher Menschen durchleiden, kann keiner verstehen, der das nicht selbst erlebt hat. Das schlimme aber ist oft das Unverständniss der Mitmenschen.
Wenn ein Mensch auf Krücken läuft oder im Rollstuhl sitzt, wird er von vielen bedauert und mit Mittleid überschüttet, aber bei Meschen deren Handycap sich auf das Geistige "beschränkt" ist es meist vorbei mit Toleranz und Nächstenliebe.

So wie du schreibst, möchte ich fast sagen du hast sowas schon selbst miterlebt. Kann das sein?

:thumbsup: absolut genial.


Liebe Grüße, Ph;)enix

 

Hallo Phoenix,

mir bleibt nur, Danke zu sagen,

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim,

oh mann, nach Durchsicht der Kritiken konnte ich meine Notizen komplett in den eimer werfen, sonst hätte ich alles nur noch mal wiederholt.
Wirklich alles sehr bildhaft erzählt und realitätsnah. Wir haben in der eigenen Familie einen Fall von Azheimer, daher konnte ich in Deiner Geschichte bzw. mit Deinem Prot. fühlen. Tatsächlich ein schwieriges Thema, daß Du hier aber auch Menschen sehr nahe bringen konntest, die nicht direkt davon betroffen sin.
Dafür vielen Dank !!

LG
Leser1000

 

Hallo Leser1000,

Tatsächlich ein schwieriges Thema, daß Du hier aber auch Menschen sehr nahe bringen konntest, die nicht direkt davon betroffen sin.
Dafür vielen Dank !!
Gern geschehen.


Nein, ich habe zu danken, fürs Lesen und für deinen netten Kommentar.

Lieben Gruß, sim

 

:thumbsup: und mehr muss ich auch einfach nicht mehr sagen!! Das ist ganz große Kunst! Du schreibst, wie das Leben ist!

 

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