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Bindung

Monster-WG
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07.01.2018
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Bindung

Früher waren Ninas Haare kurz. Wie ein Junge sah sie aus, wie ein Junge rannte sie auf dem Bolzplatz dem Ball hinterher und kletterte im Wald auf Bäume. Heute sind ihre Haare lang, die blonden Locken fallen auf die Schultern, kringeln sich auf der Stirn.
»Hi, Sepp«, sagt sie. Das Lächeln weicht aus ihrem Gesicht. »Oh, Entschuldigung. Alte Gewohnheit.«
»Ist gut«, sage ich, obwohl ich schon ewig nicht mehr so genannt wurde. Seit der Grundschule nicht mehr. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Ihr Gesicht ist von Sommersprossen gesprenkelt. Sogar auf den Ohrläppchen sind welche. Sie trägt einen Ring an der Unterlippe. »Komm rein«, sage ich.
»Danke.« Sie tritt über die Schwelle, streift die Sneakers ab. Um das linke Fußgelenk baumelt ein Fußkettchen. Mein Blick wandert über ihre Knöchel, die langen Beine hinauf.
»Ich bin ein bisschen aufgeregt«, sagt sie.
»Ach.« Ich blicke auf ihren lächelnden Mund, schaue in die grünen Augen. Meine Hände zittern, und ich schwitze, doch ihre sind ruhig, als sie sich das Haar aus der Stirn streicht.
Die Küche meiner Wohnung ist zugleich das Wohnzimmer. Sie ist vollgestellt. Ich lebe aus Kartons, alles ist improvisiert. Heute habe ich den Abwasch gemacht und den Tisch gewischt. Ich nehme die Kanne aus der Kaffeemaschine.
»Ich habe Kaffee gekocht«, sage ich, angele eine Tasse mit Blümchenmuster aus dem Schrank.
»Hast du auch Tee?«, fragt sie.
Ich stelle die Tasse wieder hin, Porzellan schlägt auf Holz. Wische die Hand am Hosenbein ab. »Ich muss gucken.«
»Okay.« Sie betrachtet die Postkarten, die am Schrank hängen. Ihr Blick wandert weiter zu dem Basilikum, das auf der Fensterbank vertrocknet. »Schöne Wohnung«, sagt sie. »Gemütlich.«
Ich sehe auf, ziehe eine Augenbraue hoch. Wir schauen einander an. Mir schießt das Blut in den Kopf, und ich wende mich ab, beginne, in den Kisten zu wühlen. Irgendwo habe ich letztens einen einsamen Teebeutel gesehen.
»Was machst du so?«, fragt sie.
»Ausbildung zum Bauzeichner«, sage ich. Ich fahre mit bebenden Fingern in die Ritzen des Kartons mit dem Gemüse. Irgendetwas Matschiges liegt ganz unten. Ich hebe den Kopf, Nina sieht nicht hin, schaut aus dem Fenster.
»Ah ja.«
Meine Finger ertasten einen schmalen, in Papier gehüllten Gegenstand. Ich ziehe ihn hervor, das Blut rauscht in meinen Ohren. »Ist schwarzer okay?«, frage ich.
»Ja, super.«
Ich schalte den Wasserkocher ein, gieße Kaffee in die Blümchentasse. Ich angele eine weitere Tasse aus dem Schrank, hänge den Teebeutel hinein.
»Tee kommt gleich.«
Wir setzen uns an den Küchentisch. Nina zieht einen Laptop aus ihrer Tasche.
»Ich habe dir ja gemailt, dass ich eine Audioaufzeichnung machen muss«, sagt sie. »Ist das immer noch okay?«
Ich nicke.
»Also, ich mache dieses Interview für eine Seminararbeit. Wir interviewen Bekannte zur Übung. Da habe ich gleich an dich gedacht. Keine Sorge, alles, was du sagst, wird vertraulich behandelt.«
»Klar.« Ich nehme einen Schluck und verbrenne mir die Zunge. Als ich die Tasse hinstelle, schwappt Kaffee über den Rand. »Ist es okay, wenn ich rauche?«
Sie kraust die Nase. »Es ist deine Wohnung.«
Ich nicke. »Okay.« Ich behalte die Zigarettenpackung in der Hosentasche, stehe auf, gieße das heiße Wasser auf den Tee, stelle die Tasse vor sie hin.
»Danke.« Sie schiebt den Laptop zwischen uns. Ein Lämpchen blinkt, aber wartet noch auf das Startsignal. Sie nimmt einen Stapel Papier und einen Bleistift aus ihrer Tasche.
»Keine Angst wegen der Zettel«, sagt sie und lacht wieder. »Das ist nur meine Gedächtnisstütze.« Sie wirft sich das Haar über die Schulter. Ich rieche ihr Shampoo, eine Wolke von Orange. »Ich freue mich, dass du das machst. Es ist sicher … ziemlich interessant.« Ihre Augen weiten sich kurz. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht …«
»Schon gut. Du warst früher schon so …«
»Direkt?« Nina lacht wieder. Sie lacht viel, ich wünschte, sie würde noch mehr lachen. Ein Grübchen gräbt sich in ihre linke Wange. »Ja, ich weiß. Hat sich nicht geändert.«
Ich schlucke, will etwas sagen, fürchte aber, dass ich mich verhaspele. Presse die Lippen aufeinander.
»Gut, dann legen wir mal los«, sagt Nina und startet die Audioaufzeichnung. »Ich stelle dir ein paar Fragen zu deiner Kindheit und wie sie sich auf deine Persönlichkeit ausgewirkt hat.« Sie liest von einem Zettel ab. »In Ordnung?«
Ich nicke.
»Könntest du damit beginnen, mir zu sagen, mit wem du als Kind gelebt hast?«
Ich warte darauf, dass sie weiterspricht. Doch jetzt sieht sie mich an.
»Ja«, sage ich. »Klar. Also, ich habe bei meinem Onkel und meiner Tante gelebt. Wie … Spiderman.« Mir schießt das Blut in den Kopf, meine Wangen glühen, doch Nina lächelt, also spreche ich weiter, schnell. »Hast du den letzten Film gesehen?«
Sie sagt nichts, nickt, ihre Miene verändert sich nicht.
»Nicht ganz wie Spiderman, natürlich. Meine Eltern sind nicht gestorben, nicht beide. Mein Vater war bei meiner Geburt im Gefängnis, und meine Mutter ist gestorben, zwei Monate nach meiner Geburt. Also wurde ich von meinem Onkel und meiner Tante aufgezogen. Und mein Onkel ist am Leben, anders als Peter Parkers Onkel.«
»Hm-m.« Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, linst mir unter ihren dichten Wimpern zu. »Haben in eurem Haushalt noch andere Personen gewohnt? Kinder von deinem Onkel und deiner Tante oder andere Leute?«
»Ja, mein Onkel und meine Tante hatten ein Kind, Toni.« Unter der Tischplatte verschränke ich die Hände ineinander. »Sie war … sechs Jahre jünger.«
Nina nickt. Diesmal macht sie keine Notiz. In ihren grünen Augen schimmert etwas.
Mein Hals ist sehr eng, zu eng, um zu sprechen.
Aber sie weiß sowieso Bescheid. Damals kam sie vorbei, brachte eine Flasche Vanille-Coke mit, meine Lieblingscola. Obwohl ich am Telefon gesagt hatte, dass ich sie nicht sehen wollte.
Sie hüstelt, nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. »Die nächste Frage ist schwierig«, sagt sie. »Wenn du an deinen Onkel oder an deine Tante denkst, was ist deine frühste Erinnerung?«
Ich atme tief ein, löse die Hände voneinander. »Mein Onkel und ich standen uns sehr nahe. Er war ja zu Hause, meine Tante hat gearbeitet. Mein Onkel war Schwimmtrainer. Er sagt, ich habe früher schwimmen als laufen gelernt. Wir waren oft am Badesee, da haben wir nach Steinen getaucht, die lagen unter dem Schlamm. Ich hatte einen schönen Stein, blau mit grauen Sprenkeln.« Ein Lächeln stiehlt sich wie ein Fremder auf mein Gesicht. Unsicher, ob er erwünscht ist. »Den hat er hochgeholt, hat ihn mir geschenkt. Er lag immer auf der Fensterbank.«
»Wie schön«, sagt sie und lächelt ebenfalls.
»Aber beim Umzug hat meine Tante ihn weggeworfen, meinte, das sei Plunder, den niemand braucht.«
Sie leckt sich über die Lippen, schaut kurz auf, senkt den Blick auf ihre Notizen. »Ja. Jetzt hast du etwas über deinen Onkel gesagt. Wie war deine Beziehung zu deiner Tante, als du ein Kind warst?«
Ich starre sie an, sie starrt zurück.
Schließlich rutscht sie auf ihrem Stuhl umher und lacht wieder. »Sepp?«, fragt sie.
»Das ist schwierig«, sage ich.
»Ich weiß.«
»Nein, es ist wirklich schwierig.« Ich ziehe die Finger unter dem Tisch hervor, strecke sie, beuge sie. »Ich weiß nicht, soll ich Wörter für davor oder danach finden?«
Sie runzelt die Stirn. »Davor oder danach?«
»Du weißt schon.«
»Sepp«, sagt sie. »Geh einfach davon aus, wir würden uns nicht kennen, okay?«
»Das mit Toni«, sage ich, umklammere die Kaffeetasse. »Danach hat sich alles verändert. Nach ihrer Geburt. Aber auch … danach-danach.«
Ihr Gesicht wird starr. Unmöglich, etwas darin zu lesen. Kein Lächeln, so sehr ich danach suche. »Ich weiß auch nicht.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Aber das wäre natürlich wichtig zu wissen. Also …«
Ich fahre mir über die Augen. In meinem Magen rumort es, vielleicht habe ich den Kaffee zu schnell getrunken. »Ich kann nicht«, sage ich. »Ich kann darüber nicht sprechen.«
»Du musst das nicht tun.« Eine Falte gräbt sich in ihre Stirn, ihre Augen sind dunkel, schattig.
»Du brauchst das für deine Seminararbeit«, sage ich und hebe die Mundwinkel. Sie lächelt, mein Herz macht einen Satz. »Ich brauche nur eine Pause.«
Sie stößt geräuschvoll Luft aus. »Danke.«

Ich gehe raus, rauche zwei Zigaretten. Starre vorüberfahrenden Autos nach. Mein Nacken schmerzt, und meine Augen brennen. Als ich wieder hochgehe, scheint die Treppe mehr Stufen zu haben als sonst.
»Okay«, sagt Nina, während ich mich setze. »Du sagst, du standst deinem Onkel näher … Warum war das so?«
Ich kratze mich am Kopf. »Na ja, als ich klein war, war er immer da. Nur wir zwei.«
»Und deine Tante?«, fragt sie.
»Sie hat ja gearbeitet. Und sie war sehr streng. Ich hatte Angst vor ihr. Du weißt doch, wie sie war. Räum dein Zimmer auf. Sprich nicht beim Essen. Sei nett zu Toni.« Ich rolle mit den Augen, warte darauf, dass sie mit den Augen rollt wie früher, kichert, mit dem Fingernagel gegen die Schneidezähne tickt.
»Verstehe«, sagt sie. Sie sitzt mit einem angewinkelten Bein an die Wand gelehnt auf ihrem Stuhl und schaut auf ihre Unterlagen, während sie mit der Zunge am Lippenpiercing spielt.
»Weißt du nicht mehr?«, frage ich, die Stimme leise.
Sie blättert um. »Wenn es dir als Kind schlecht ging, was hast du gemacht?«
Ich starre das Basilikum in ihrem Rücken an, daran vorbei aus dem Fenster. »Wenn es mir nicht gut geht, bin ich lieber allein. Ich bin dann zum See gelaufen. Oder habe ferngeguckt. Bevor wir umgezogen sind, da bin ich gerne mit dir rausgegangen. Unser Baumhaus, da habe ich dran gebaut, wenn es mir schlecht ging.«
Draußen raschelt die Kastanie mit den Blättern. Ninas Bleistift kratzt auf dem Papier.
»Ferngeguckt oder gebaut«, sagt sie. »Aber kannst du dich an irgendetwas erinnern, wenn es dir nicht gut ging und du zu deinem Onkel oder deiner Tante gegangen bist?«
»Doch, ganz früher, wenn ich mir wehgetan habe, dann hat mein Onkel mir ein Pflaster gegeben. Na ja, und später …« Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich die Zigaretten aus der Hosentasche gefischt habe. Ich starre die Packung an, sie liegt in meiner Hand, als hätte sie sich dorthin gezaubert.
»Sepp?«
»Ja.« Ich huste. »Toni war oft krank, da hat mein Onkel sich um sie gekümmert. Wenn sie dann wieder das … dieses Flimmern gekriegt hat … Ich war ja auch schon älter, ich wusste dann, wo die Pflaster waren, und ich durfte fernsehen, wenn ich nicht zur Schule gehen konnte. Ich hatte einen Fernseher im Zimmer. Habe ich zu Tonis erstem Geburtstag bekommen. Also, das war … gut.« Ich stopfe die Schachtel zurück in meine Hosentasche, sehe Nina nicht an.
»Danke«, sagt sie. Sie schaut wieder auf ihre Unterlagen, befingert ihr Piercing. Schließlich setzt sie sich aufrecht hin. »Hast du dich als Kind einmal alleingelassen gefühlt?«
»Alleingelassen?« Ich schlucke an dem Kloß im Hals.
»Oder ignoriert«, sagt sie.
Ich kratze mich am Kopf. »Von meinem Onkel oder meiner Tante? Ja. Ich weiß noch, als Toni das erste Mal mit am See war. Meine Tante ist auch mitgekommen, dabei waren sonst immer mein Onkel und ich allein …« Im Sommerwind, der durch das auf Kipp stehende Fenster hereinweht, fröstele ich. »Es ging wieder los bei Toni. Du weißt ja, wie das war. Sie war nervös, ganz weiß. Erinnerst du dich?«
Nina schreibt etwas auf ihrem Zettel, der Bleistift kratzt auf dem Papier.
»Nina?«
»Ja«, sagt sie, ohne aufzublicken.
Ich lege meine Hand zwischen uns auf den Tisch, betrachte ihre kurzen Fingernägel. »Sie wollten sofort mit Toni nach Hause fahren. Ich wollte, dass mein Onkel bleibt. Ich wollte ihm den Stein zeigen, den ich aus dem Schlamm geholt habe. Ich wollte …«
Nina beugt sich vor, ihre Hand liegt ganz dicht vor meiner, unsere Fingerspitzen berühren sich fast. »Es muss schwer sein, darüber zu sprechen«, sagt sie.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, halte ihrem Blick stand. »Ich wollte doch nur, dass er bei mir bleibt. Ich habe mich auf den Boden geworfen, mich nicht von der Stelle gerührt. Sie sind ohne mich gefahren.«
»Wann war das?«, fragt sie.
»Ich war so egoistisch«, sage ich. »Weißt du noch, das hast du zu mir gesagt. Ich habe nur an mich gedacht.« Ich probiere ein Lächeln, doch diesmal gelingt mir kein Heben der Mundwinkel. Genauso gut hätte ich versuchen können, mit den Ohren zu wackeln – ich kann die richtigen Muskeln nicht finden. »Ich war wütend. Heute verstehe ich das. Du hattest recht.« Die Worte hinterlassen einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
»Und wie alt warst du da?«
»Du warst doch dabei.« Ich will die Hand ausstrecken, ihre Haut berühren. Wie damals, als ich abends zu ihr rannte, die ganze Nacht bei ihr blieb, ihrem Atem lauschte, ihrem leisen Schnarchen. Ob sie heute noch schnarcht? Ganz leicht, kaum hörbar?
Sie seufzt. »Bitte, geh einfach davon aus, wir würden uns nicht kennen. Schaffst du das?«
Ich presse die Lippen aufeinander. Steche mit den Fingernägeln in die weiche Haut am Unterarm. »Zehn, glaube ich. Oder elf?«
Sie macht sich eine Notiz. »Haben dein Onkel oder deine Tante dich irgendwann einmal bedroht? Vielleicht aus erzieherischen Gründen oder auch aus Spaß?«
Ich hole tief Luft. Meine Augen brennen. »Ja.«
»Möchtest du davon erzählen?«
»Meine Tante hat gesagt, sie würde mich weggeben. Eigentlich …« Ich reibe mir die Augen, blinzele etwas weg, das irgendwie hineingeraten ist. »… war es keine Drohung. Sie wollte es tun. Mein Onkel hat sie zurückgehalten. Er hat mir geglaubt. Sie nicht. Sie war so wütend, hat geschrien. Ich glaube, wenn ich nicht gewesen wäre, wären sie noch verheiratet.«
»Kannst du da … konkreter werden?«
»Es war danach-danach«, sage ich. Mein Atem ist flach, meine Stimme klingt seltsam. »Nach Toni.«
Sie schweigt. Sieht mich an. Ich wünschte, sie würde meinem Blick ausweichen und etwas aufschreiben.
»Ich wollte, dass alles wieder so wird wie vor Toni.« Ich hebe die Arme, meine Hände flattern durch die Luft. Meine Exfreundin hat gesagt, ich würde nur gestikulieren, wenn ich mich rechtfertige. Ich setze mich auf meine Handflächen. »Das war dumm, das weiß ich jetzt.«
»Und?«, fragt Nina, sieht mich an. »Wie war es nach Toni? Wie ist es jetzt?«
Es ist still. Ich kann meinen Atem hören, das Rascheln der Kastanie. Ich höre sogar ihren Atem.
»Das alles«, sage ich, und meine Stimme klingt fest, beherrscht, »hat dazu geführt, dass ich mich schwer fühle, unsichtbar und trotzdem störend. Wie ein Stein im Schlamm. Wenn ich daran denke, dann …« Ich begegne ihrem Blick, ihre Lippen bewegen sich, sie hat den Bleistift aus der Hand gelegt.
»… dann fühlst du dich schuldig?«, fragt sie.
»Ja.«
»Warum?«
»Ich habe das nicht geplant«, sage ich. Ich hebe die Schultern. Ich fische die Zigarettenpackung aus meiner Hosentasche, klemme mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Auf diese Weise kann ich nicht sprechen, ich nehme die Kippe in die Hand. »Es ist einfach passiert. Wir waren allein im See, ich wollte nach Steinen tauchen, mein Onkel ist zur Eisdiele gegangen. Toni war das Wasser zu schlammig, sie hat geschrien.« Ich lege die Kippe auf den Tisch, rolle sie unter meinem Zeigefinger vor und zurück.
»Sepp.« Ninas Hand schnellt vor, legt sich auf meine. Ihre Haut ist warm, heiß. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Das hast du gesagt. Haben alle«, sage ich. Ich ziehe meine Hand nicht weg, lasse sie liegen. Ich atme aus. »Es war ganz leicht. Ihren Kopf unter Wasser zu drücken. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich gewehrt hat.«
Nina starrt mich an. Eine Locke hängt vor ihren grünen Augen, der Mund ist leicht geöffnet, die Lippen glänzen.
In der Stille ziehe ich meine Hand unter ihrer hervor, stecke mir die Zigarette an.
»Was?«, fragt Nina, sie flüstert.
Ich schaue den blauen Rauchfähnchen nach, die zur Decke treiben. »Ja.«
»Was soll das? Warum sagst du das?«
»Ich wollte es dir immer sagen. Du hast mir nicht zugehört.«
Sie lehnt sich im Stuhl nach hinten, weicht vor mir zurück, hält sich an den Zetteln fest. Sie öffnet den Mund, schließt ihn wieder.
Mein Herz rast, das Blut pumpt in meinen Adern. »Jetzt hast du mich gehört. Hast du, oder?«
»Du verarschst mich«, sagt sie, haucht sie. »Was soll der Scheiß?«
Ich ziehe an der Kippe, verschlucke mich am Rauch, huste. »Scheiß? Wirklich?« Der Husten unterbricht mich, Tränen schießen mir in die Augen.
»Das ist so typisch«, sagt sie. »Du denkst nur an dich, willst immer im Mittelpunkt stehen. Du machst das Interview nur, weil sich dann wieder alles um dich dreht.«
Ich zerdrücke die Kippe im Aschenbecher, kann nicht sprechen. Ich versuche, nicht zu blinzeln. Wenn ich blinzele, werden die Tränen fließen.
»Ich gehe jetzt.« Ninas Augen blitzen. Sie richtet sich auf, schiebt die Zettel zusammen, wirft den Stift in die Federtasche, stoppt die Audioaufzeichnung.
Ich schaue ihr zu, als sie ihre Sachen zusammenpackt, ich blinzele. Keine Tränen. Hitze kriecht meine Luftröhre hinauf. Ich schlucke, aber die Hitze wandert weiter, steigt höher.
Zuletzt habe ich mich so gefühlt, als wir in meinem Zimmer saßen, umgeben von Kuscheltieren, zwei Gläser Vanille-Coke. Als sie mein Haar streichelte und, obwohl die Worte in meiner Kehle brannten, immer wieder sagte: Es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld.
Ich laufe ihr nach, als sie zur Tür eilt, ihre Tasche unter dem Arm. Sie fährt in die Sneakers, reißt die Wohnungstür auf. Ich mache einen Schritt auf sie zu, noch einmal streift ihr Blick mein Gesicht. Dann schlägt sie die Tür zwischen uns zu, ich spüre den Luftzug, das Zittern im Trommelfell.

 

Gude TeddyMaria,

Ich werde mir mit einer weiteren Überarbeitung nun aber wirklich, wirklich Zeit lassen. Ich muss mich erstmal selbst wiederfinden. Beim aktuellen Stand des Projekts weiß ich nicht mehr so genau, wo oben und unten ist.
-> Eine sehr gute Idee. Gerade erhältst du ja eine Vielzahl an Kommentaren und Ideen, die es alle einzusortieren gilt – allein davon würde mir der Kopf flirren. Da tut auch etwas Abstand zur Geschichte sicherlich gut.

Ich habe den Rückblick am Anfang komplett gekillt. Was sagst Du dazu?
-> Ich finde ja, der Hauptteil funktioniert bereits in Hinblick auf ihre Beziehung sehr gut – daher ist das Streichen wohl tatsächlich, wenn auch radikal, durchaus machbar. Ja, doch, je länger ich drüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint es mir.

Das ist auch weg.
-> Keine Gnade! Ich bin beeindruckt; ich zeige mich bei (selbst sinnvollen) Streichungen meist sehr zögerlich.

Das ist ein aktuelles Problem von mir (das auch in V1 war). Seit ich versuche, nicht mehr an jeder Stelle mit Adverbien und Adjektiven um mich zu schmeißen, weiß ich oft nicht mehr, wie ich meine Sätze variieren soll. Früher habe ich das damit gemacht, was halt wirklich unschön ist. Nun bin ich etwas ratlos. Wenn da jemand Tipps für mich hätte, wäre ich natürlich dankbar.
Eine gute Frage, bei der ich, wenn ich es mir recht überlege, nicht der beste Ratgeber wäre, da ich zum einen Schachtelsätze (in sinnvollen Dosen) mag und zum anderen nicht mit der Mistgabel jedem Füllwort nachjage.
Einen großen, generellen Ratschlag traue ich mir an der Stelle nicht zu geben. Am Beispiel würde ich vielleicht folgendes machen:
Die Küche meiner Wohnung ist zugleich das Wohnzimmer. Sie ist vollgestellt. Ich lebe aus Kartons, alles ist improvisiert.
zu:
Die Küche meiner Wohnung ist zugleich ein Wohnzimmer, das vollgestellt ist mit Kartons, aus denen ich improvisiert lebe.
Also in der Tendenz neige ich zumindest zu mehr Relativsätzen, wenn ich mir das so ansehe. Ob das jetzt der Weisheit letzter Schluss ist, wage ich zu bezweifeln.
Überhaupt möchte ich an der Stelle anmerken, da ich jetzt noch einmal (manchmal dauert es bei mir etwas länger …) darüber nachgedacht habe, dass die kurzen, geradlinigen Sätze hintereinander ihrerseits eine Wirkung haben: Dadurch, dass sie gleichtönend aufeinanderfolgen, wirken sie auf mich irgendwie düster-monoton, was das triste Leben Sebastians eigentlich unterstreicht.
Ich erkenne also, mit einiger Verspätung, durchaus den Sinn an dieser Stelle.
Aber, wenn wir bei der generellen Problematik bleiben wollen: Was du ja bereits häufiger machst, sind Reihungen, z.B.
Heute sind ihre Haare lang, die blonden Locken fallen auf die Schultern, kringeln sich in der Stirn.
Ich mag das und finde auch, dass du hier eine gute Menge im Text gefunden hast; es also nicht überhand gewonnen hat.
Sieht also gar nicht so schlimm aus bei dir, wie es vielleicht in meinem ersten Kommentar anklang und scheinbar in der Eigenwahrnehmung präsent ist ;)

Soweit noch hoffentlich hilfreiche Ergänzungen von mir. Ich hoffe, es ist soweit verständlich, mein Kopf brummt ein wenig von der bei 30°C Außentemperatur wie-auch-immer-glorreich errungenen und sich immer stärker anbahnenden Erkältung.

Liebe Grüße,
Vulkangestein

 

Hallo, Vulkangestein

Gerade erhältst du ja eine Vielzahl an Kommentaren und Ideen, die es alle einzusortieren gilt – allein davon würde mir der Kopf flirren.

Ja, wem sagst Du das? Das Problem ist auch, dass ich eigentlich immer versucht habe, die Kommentare zu einem kohärenten Bild zusammenzusetzen, eine bestimmte Richtung aufzufangen. Inzwischen aber scheint vieles Geschmackssache zu sein, und so weisen die Kommentare teilweise in vollkommen unterschiedliche Richtungen. Da muss ich erst wieder zu mir selbst finden.

Keine Gnade! Ich bin beeindruckt; ich zeige mich bei (selbst sinnvollen) Streichungen meist sehr zögerlich.

Kill your darlings. Das fällt mir relativ leicht. Ich kenne das aus dem wissenschaftlichen Schreiben, wo man am Ende einmal mit dem Staubsauger durch einen Text geht, an dem man teilweise Monate gefeilt hat. Das tut richtig weh, aber wenn man stringent schreiben will, dann muss das, denke ich.

Überhaupt möchte ich an der Stelle anmerken, da ich jetzt noch einmal (manchmal dauert es bei mir etwas länger …) darüber nachgedacht habe, dass die kurzen, geradlinigen Sätze hintereinander ihrerseits eine Wirkung haben: Dadurch, dass sie gleichtönend aufeinanderfolgen, wirken sie auf mich irgendwie düster-monoton, was das triste Leben Sebastians eigentlich unterstreicht.

Dass Du das so drehst, finde ich natürlich gut. Ich muss sagen, die Aneinanderreihung mehrerer Relativsätze, wie Du sie hier gemacht hast, gefällt mir gar nicht. Ein Relativ in einem Satz, okay, aber mehrere auf einmal? Mja. Ich werde weiter nach einer Lösung für mein Problem suchen.

Ich mag das und finde auch, dass du hier eine gute Menge im Text gefunden hast; es also nicht überhand gewonnen hat.

Diese Reihungen habe ich mir auch deshalb angewöhnt. Nun schreibe ich halt keine SPO-Sätze mehr, sondern SPOPOPOPOPOPO-Sätze. Um es mit Deinen Worten auszudrücken: Ob das wiederum der Weisheit letzter Schluss ist, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. :D Allerdings kann ich mich jetzt ja dahinter verstecken, dass ich das als Stilmittel einsetze, um Sepps tristes Leben zu zeigen.

Ich hoffe, es ist soweit verständlich, mein Kopf brummt ein wenig von der bei 30°C Außentemperatur wie-auch-immer-glorreich errungenen und sich immer stärker anbahnenden Erkältung.

Huiui. Ins Bettchen schicken kann ich Dich bei der Hitze ja nicht. Also: ab in die Badewanne mit Dir.

Erhol Dich gut und danke für diesen ermunternden Kommentar.

Gereihte Grüße,
Maria

 

Hallo, Manlio

Du erwischst mich (nach dem dreistündigen Schieben von Tabellen und Abbildungen nach links und rechts, nach oben und unten und wieder zurück) in Wortkrieger-Laune (wie sich gleich an anderer Stelle zeigen mag). Also: Super Timing.

Eigenartiger Satzteil. Klingt irgendwie nach ... ach, ich weiß nicht ... Werbesprache? Fahrspaß trifft Technik? Ach, vergiss es einfach ...

Puh, an dem Satz haben schon viele Leute rumgeschraubt. Meine Ursprungsversion war ja: „Porzellan schlägt auf Holz.“ Gefällt mir auch immer noch besser. Und da mir gerade einfällt, dass ich mir geschworen hatte, mir selbst ein wenig treuer zu sein, ändere ich das direkt zurück. Was meinst Du?

Maria, ich mag die Geschichte irgendwie. Du kannst schreiben. Ich sehe da auch etwas zwischen Nina und Sepp entstehen. Die schlimme Kindheit, düstere Erinnerungen, das erinnert an Geschichten von jimmysalaryman.

Etwas „irgendwie“ mögen, das ist ja schon mal super. :D Dass Du dann direkt nachschiebst, was Du daran magst, auch derartige Vergleiche ziehst – das ist noch viel superer, um nicht zu sagen, das freut mich sehr. :shy: Daran, ob ich schreiben kann, zweifle ich, seitdem ich mich hier rumtreibe, immer wieder. Da Du in meinen Anfangstagen dabei warst, kannst Du Dir das sicher vorstellen. Mit „Bindung“ hatte ich das Gefühl, einen Wendepunkt erreicht zu haben. Und das habe ich den Wortkriegern zu verdanken, also auch Dir: Danke!

Was nur inkonsistent scheint, ist die Beziehung der beiden. Mal sind sie vertraut, wie alte Freunde, dann geben sie sich hölzern wie Geschäftspartner, die einander erst seit kurzem kennen. Vielleicht habe ich etwas missverstanden oder überlesen.

Ich habe mir gedacht, dass so eine Begegnung zwischen zwei Menschen, die sich mal nahe waren, sich aber vielleicht zehn Jahre nicht gesehen haben, oft (zumindest bei mir) eher, ich sage mal so, awkward ist. Man erwartet Nähe, kennt sich ja aber eigentlich gar nicht. Alles, was man gemeinsam hat, ist die Vergangenheit. Und dann kommt noch dazu, dass Sepp dieser Beziehung stark ambivalent gegenübersteht: Er wünscht sich damals wie heute Unterstützung, er wünscht es sich, ernst genommen zu werden. Ein simples „Es ist nicht deine Schuld“ kann ihm nicht helfen. Er hat deshalb zwar diese Wünsche an seine Bindungspersonen, wurde jedoch von ihnen auch wieder und wieder enttäuscht, geht also auch mit Misstrauen und Vorwürfen da ran.

So, das sind meine Gedanken dazu. Dass ich an der Beziehung, an den Zwischentönen noch weiter arbeiten musst, hast Du gut herausgearbeitet. Ich finde es sehr, sehr nützlich, dass Du Textstellen benennst, an denen ich die Probleme festmachen kann. An denen ich also auch arbeiten kann. Auch die Figuren und ihre Haltung selbst liegen unter meiner Leselupe. Allerdings muss das inzwischen dauern, ich bin kurz davor, mich wieder komplett zu verrennen – und muss mir deshalb Zeit nehmen, aus der Ruhe schöpfen.

Du kannst übrigens sicher sein, dass ich meine Projekte nicht vergesse, sie nie vollständig einstelle. Selbst bei „Chaosfahrt“ habe ich das noch nicht getan. Also, selbst wenn man es hier nicht sofort sieht, werde ich Dinge bearbeiten, einarbeiten, aus Deinem Kommentar mitnehmen. :D

Wenn Du in dieser Zeit ein paar Gedanken zu meinen Gedanken hast, dann freut mich das natürlich sehr. Ich nehme jeden Hinweis dankbar an.

In diesem Sinne:
Dankbar,
Deine Maria

 

Hallo, Manlio

Ich hatte, muss ich gestehen, wegen "Chaosfahrt" ein paar Schuldgefühle, glaubte, dich (zusammen mit den anderen Kommentatoren) zur Verzweiflung gebracht zu haben. Aber du hast nicht aufgegeben, vielleicht brauchtest du das auch, da durch zu gehen, durch diesen Umbau der Geschichte, und die Resultate sieht man jetzt ...

Ich glaube, ich habe es damals schon gesagt: Ich habe diesen Ehrgeiz. Ich will was leisten. Was ich bei "Chaosfahrt" gelernt habe, war, dass ich noch vielviel tun muss, um leisten zu können, was ich leisten will. Langsam weiß ich sogar ungefähr, was ich zu tun habe. Das habe ich damals wirklich gar nicht begriffen. Und nun lerne ich das.

Das heißt auch, dass ich mal mit ein paar harschen Worten leben kann. Und auch mit Rückschlägen. Ich versuche, überall etwas rauszuziehen, Handlungen abzuleiten, damit es besser wird. Wenn ich das nicht kann, dann prallt das halt an mir ab. :p

Ganz habe ich die Hintergrundsituation wohl nicht verstanden. Wieso denkt sie dann sofort an ihn? Wenn ich ein Interview mit Bekannten führen muss, würde ich an Leute denken, mit denen ich zur Zeit viel zu tun habe. Es sei denn, ich weiß von der- oder demjenigen, dass er als Interviewpartner besonders geeignet erscheint.

Genauso ist die Situation. Ich habe versucht, das ein wenig unterzubringen, natürlich ohne die Leser/innen direkt mit der Nase drauf zu stoßen. Neben dem, was Du schon an Stellen rausgesucht hast, guck mal hier:

»Ich freue mich, dass du das machst. Es ist sicher … ziemlich interessant.« Ihre Augen weiten sich kurz. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht …«

Sie weiß, dass es da etwas gibt. Sie war ja dabei. Und sie will nun einmal keine 08/15-Person interviewen. Da spielt eine Menge Voyeurismus mit rein. Ich bin gerade am Überlegen, ob ich das deutlicher machen muss, wollte aber eigentlich mit zukünftigen Überarbeitungen zu mehr Subtilität zurückkehren. Es ist momentan nicht wirklich mein Anliegen, Leser/innen mit der Nase auf alles zu stoßen.

Was ich mag, dieses Physische zwischen Sepp und Nina, das hast du gut herausgearbeitet.

Da steckt viel Arbeit drin, also vielen Dank, dass Du das noch bemerkst. Es hilft mir sehr zu wissen, was ich behalten kann im Kontrast zu dem, was geändert werden sollte. ;)

Danke, dass Du nochmal hier warst. Mach Dir einen schönen Nachmittag.

Ehrgeizige Grüße,
Maria

 

Hallo TeddyMaria,

sooo, ich komme noch einmal mit einem kleinen Leseeindruck vorbeigeschlappt, der Text hat sich ja inzwischen ein wenig weiterentwickelt …

Was ich jetzt so mitnehme: Niemand hat dem Ich-Erzähler jemals richtig zugehört, überhaupt in Betracht gezogen, er könne sich schuldig gemacht haben. Er ist die ganze Zeit (so schlecht) behandelt worden, wie einer, der unschuldig die Aufsicht vernachlässigt hat, oder? Immerhin. Schlimm genug. Aber was macht er? Er erleichtert endlich sein Gewissen und spricht es aus.
Ich fühle mich nach dem Lesen richtig schlecht, aber das hat dein Text geschafft. Also der macht was mit mir.

Im ersten Teil stört mich das Studienfach des Ich-Erzählers allerdings gewaltig. Ich kauf das nicht, dass der Garten- und Landschaftsbau studiert und dann aus Kisten lebt und Basilikum verrecken lässt. Wer dieses Fach studiert, ist Ästhet und hat etwas für Pflanzen übrig.
Übrigens verstehe ich auch nicht, warum sie sagt, seine Wohnung sei gemütlich. Da türmst du sinnlos Widersprüche auf, die im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen, oder?

Liebe Grüße
Anne

P.S. Hab den Thread nicht gelesen. Wahrscheinlich hat das alles schon mal jemand weiter oben geschrieben, aber mein Kommentar ist davon unabhängig.

 

Liebe Anne49

Und willkommen zurück im Plüschologenland.

Was ich jetzt so mitnehme: Niemand hat dem Ich-Erzähler jemals richtig zugehört, überhaupt in Betracht gezogen, er könne sich schuldig gemacht haben. Er ist die ganze Zeit (so schlecht) behandelt worden, wie einer, der unschuldig die Aufsicht vernachlässigt hat, oder? Immerhin. Schlimm genug. Aber was macht er? Er erleichtert endlich sein Gewissen und spricht es aus.

Ja, inhaltlich habe ich die Geschichte nochmal gedreht, weg von Psychopathen-Sepp. Und was die Aufsichtspflicht angeht: Nicht einmal dies wird ihm vorgeworfen, schließlich war er ja noch ein Kind. Derjenige, der sich nachlässig entfernt hat, war ja der Onkel. Der sich folglich auch auf die Seite seines Neffen stellt, obgleich seine Frau das Kind mit Vorwürfen überhäuft. Auch eine tragische Figur.

Ich fühle mich nach dem Lesen richtig schlecht, aber das hat dein Text geschafft. Also der macht was mit mir.

Tut mir leid. Nicht wirklich. Hm … Jetzt muss ich demnächst anfangen, fröhliche Dinge zu schreiben. Wobei … muss ich nicht, muss ich mal gucken, ob ich das kann.

Im ersten Teil stört mich das Studienfach des Ich-Erzählers allerdings gewaltig. Ich kauf das nicht, dass der Garten- und Landschaftsbau studiert und dann aus Kisten lebt und Basilikum verrecken lässt. Wer dieses Fach studiert, ist Ästhet und hat etwas für Pflanzen übrig.

Puh, da hänge ich nicht dran. Hatte ich beim Beginn der Arbeit an „Bindung“ nur im Kopf, weil mein Freund und ich am Tag davor im Schulgarten spazieren gegangen sind. Ich habe es jetzt umgewandelt in „Ausbildung zum Bauzeichner“. Wenn Du andere Vorschläge hast, her damit. Wie gesagt, da hänge ich nicht dran.

Übrigens verstehe ich auch nicht, warum sie sagt, seine Wohnung sei gemütlich. Da türmst du sinnlos Widersprüche auf, die im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen, oder?

An all diesen Stellen versuche ich herauszuarbeiten, dass sie ihn gar nicht richtig wahrnimmt und auch keinesfalls ehrlich mit ihm umgeht. Waren in meinen Augen Vorausdeutungen auf alles, was sich später ereignet, hat also durchaus seinen Sinn für den späteren Verlauf. Too much?

Dein Kommentar hat mich sehr gefreut, ist nicht redundant, keine Sorge (erstaunlich, wie viel man zu so einer Geschichte sagen kann). Danke für Deinen neuerlichen Besuch.

Spazierende Grüße,
Maria

 

Huhu TeddyMaria,

freut mich, dass du mit meinem späten Kommentar noch was anfangen konntest.

Ich habe es jetzt umgewandelt in „Ausbildung zum Bauzeichner“. Wenn Du andere Vorschläge hast, her damit. Wie gesagt, da hänge ich nicht dran.

Alles gut. Es kämen ja tausendundein Berufe in Frage. Nur der Landschaftsarchitekt, der war für mich ein Level vorm Innenarchitekt, somit ein Ästhet, was Wohnungseinrichtung angeht.

An all diesen Stellen versuche ich herauszuarbeiten, dass sie ihn gar nicht richtig wahrnimmt und auch keinesfalls ehrlich mit ihm umgeht. Waren in meinen Augen Vorausdeutungen auf alles, was sich später ereignet, hat also durchaus seinen Sinn für den späteren Verlauf. Too much?

Hm, verstehe, aber das ist halt die Frage, inwieweit der Leser an der Stelle dann den Figuren mangelnde Wahrnehmung zuschreibt oder der Autorin. ;) Zumal der Ich-Erzähler das ja nicht kommentiert. Er sagt danke und wühlt in einer Kiste. Ja, wie verpeilt sind die denn alle beide?!

Wenn eine Figur so ganz offensichtlich Stuss erzählt wie sie, dann müsste sich er, der Erzähler, darüber wundern oder sogar darauf reagieren, indem er etwas dazu sagt oder wenigstens vor sich hinmurmelt. Ansonsten wundere ich mich als Leser, warum das da so steht und nicht aufgelöst wird.
Beide Figuren wirken recht angespannt und wahrscheinlich ist er nicht so cool drauf, dass er das mit einer ironischen Bemerkung kontert. Aber dass er gar nicht auf ihre unpassende Bemerkung reagiert? Irgendwas muss er doch dazu denken?: Warum sagt die das jetzt? Stört sie wohl nicht, meine Unordnung? Etc. pp.
Du kennst deine Figuren tausendmal besser als ich. Es gäbe da viele verschiedene Möglichkeiten.

Liebe Grüße
Anne

 

Hallo, Anne49

Puh, gut dass Du in dem ganzen Mention-Gewusel, das ich da abgezogen habe, noch durchsteigst.

Hm, verstehe, aber das ist halt die Frage, inwieweit der Leser an der Stelle dann den Figuren mangelnde Wahrnehmung zuschreibt oder der Autorin.

Diesbezüglich frage ich mich auch immer, und ich stelle die Frage mal ganz frech ganz öffentlich, wie viel Beobachtungen, die Kritiker/innen machen, ihrer Kritikerinnenhaltung oder ihrer Leserinnenhaltung geschuldet ist. Na ja, in dieser Form will ich Deine Kritik nicht unterbuttern – aber ich habe es getan. Ups.

Dass ich Sepp darauf nicht habe reagieren lassen, liegt daran, dass ich mir vorstelle, dass er es wirklich gewöhnt ist, dass niemand ihn und sein Zeug richtig beachtet. Es ist ihm vielleicht ein bisschen peinlich, aber er macht auf jeden Fall niemanden darauf aufmerksam, macht sich weiter unsichtbar.

Ich habe aber auch gerade gelesen, dass da, da ich an dieser Stelle ein bisschen hin und hergerückt habe in letzter Zeit, ein paar Dinge verrutscht sind, seine Reaktion also wirklich nicht ganz passte. Habe ihn jetzt zumindest das Gesicht abwenden lassen, vielleicht reicht das ja schon.

Wenn eine Figur so ganz offensichtlich Stuss erzählt wie sie, dann müsste sich er, der Erzähler, darüber wundern oder sogar darauf reagieren, indem er etwas dazu sagt oder wenigstens vor sich hinmurmelt.

Das würde er nämlich auf keinen Fall tun. Wäre ja unhöflich. Und er ist doch jemand, der sein ganzes Leben dadurch, dass er sich immer in den Hintergrund gerückt hat, eben nicht aufgefallen ist. Das ist nicht der richtige Moment, um unhöflich zu werden. „Danke“, wäre die einzige seppmäßige verbale Reaktion, die ich mir vorstellen kann. Und gerade dass dieses Danke fehlt …

Wie auch immer. Ich habe ein ganz klein bisschen nachjustiert. Vielleicht reicht das ja schon.

Feine Grüße,
Maria

 

Diesbezüglich frage ich mich auch immer, und ich stelle die Frage mal ganz frech ganz öffentlich, wie viel Beobachtungen, die Kritiker/innen machen, ihrer Kritikerinnenhaltung oder ihrer Leserinnenhaltung geschuldet ist. Na ja, in dieser Form will ich Deine Kritik nicht unterbuttern – aber ich habe es getan. Ups.

Hallo TeddyMaria,

da will ich nochmal rasch drauf antworten ...
Der Unterschied ist für mich der: Ein geschulter, kritischer Leser - nenn ihn von mir aus: Lektor oder Kritiker - kann die Schwachstellen im Text benennen. Der einfache Leser spürt nur unterbewusst, dass da etwas nicht passt, die Bilder fügen sich nicht so farbgewaltig zusammen, der Lesegenuss ist reduziert, ohne dass er weiß, warum und was die Autorin hätte besser machen können.

Dass ich Sepp darauf nicht habe reagieren lassen, liegt daran, dass ich mir vorstelle, dass er es wirklich gewöhnt ist, dass niemand ihn und sein Zeug richtig beachtet

Für mich ist es ein Unterschied, ob eine stille Person bei anderen wenig Beachtung findet (Mauerblümchen auf Parties) oder ob jemand eine halb verwahrloste Wohnung nicht als solche erkennen kann.

Das würde er nämlich auf keinen Fall tun. Wäre ja unhöflich.

Da habe ich mich vielleicht unklar ausgedrückt. Wenn er sich im Stillen wundern würde, nur in der Erzählstimme, ohne Dialog mit Nina - das wäre doch nicht unhöflich, oder?

Liebe Grüße
Anne

 

Hallo, Anne49 (schon wieder) :D

Der Unterschied ist für mich der: Ein geschulter, kritischer Leser - nenn ihn von mir aus: Lektor oder Kritiker - kann die Schwachstellen im Text benennen. Der einfache Leser spürt nur unterbewusst, dass da etwas nicht passt, die Bilder fügen sich nicht so farbgewaltig zusammen, der Lesegenuss ist reduziert, ohne dass er weiß, warum und was die Autorin hätte besser machen können.

Genauso sehe ich es auch, genauso würde ich selbst es immer wieder erklären, also alles wunderbar hier. Es ging mir nur um einen anderen Punkt, aber ich glaube, es ist besser, das an dieser Stelle nicht zu vertiefen, denn das war nur ein Ausbruch von Eitelkeit meinerseits, für den ich mich ein wenig schäme. Vergessen wir das. (Wenn Du’s nicht vergessen willst, schreib mir eine PN, aber ich denke, das passt schon. Ich war bloß mal wieder frech und konnte mich nur halb bremsen, was dann dazu führte, dass ich unvollständige Gedankengänge präsentiert habe. Never mind.)

Denn ich will ja gar nicht frech zu Dir sein, wo Du Doch so freundlich und geduldig immer wieder hinzeigst, hinzeigst, hinzeigst. Diese Geduld muss man erstmal aufbringen. Ich glaube, nach dem zweiten: "Ach ja, Kommentatorin, das passt so schon", hätte ich zwar grummelig, aber achselzuckend kapituliert. Du nicht.

Da habe ich mich vielleicht unklar ausgedrückt. Wenn er sich im Stillen wundern würde, nur in der Erzählstimme, ohne Dialog mit Nina - das wäre doch nicht unhöflich, oder?

Gedanken sind natürlich nicht unhöflich. Und auch schwer zu unterdrücken. Man kann sich zwar bewusst für seine eigenen Gedanken schelten, wenn man sie als unhöflich empfindet … Wie auch immer. Das Gedankenschreiben ist mir noch fremd, und ich war bisher froh, ohne auszukommen – obgleich ich es mir demnächst auf eine Lernkarte schreiben werde. Ich habe die Stelle jetzt trotzdem nochmal umgeschrieben, bin zu dem roten Kopf zurückgekehrt, der ursprünglich da war, gewürzt mit einem Versuch des Kokettseins, eine Dialogpause. Vielleicht ist das ja diesmal was.

Vielen Dank für Deine Geduld mit mir. :D

Unermüdliche Grüße,
Maria

 

Hallo Maria,

ich habe keinen Kommentar gelesen und möchte dir so frisch den Eindruck dieser Geschichte hinterlassen.

Ich hatte etwas Probleme mit diesem Setting. Nina braucht Interviews für ihre Seminararbeit und sucht sich zum Üben gerade einen so dramatischen Fall heraus, zudem war sie wohl auch sehr in die Geschichte involviert. Desweiteren hatte sie mit diesem Sepp schon ewig nichts mehr zu tun.
Das ist mir alles an den Haaren herbeigezogen, zumal sie dann aber auch von ihm erwartet, er solle so tun, als kenne er sie nicht.

Das hat für mich durch die ganzen Dialoge so ein ungutes Gezerre entstehen lassen, weil es mir überhaupt nicht stimmig vor kam, dass sie sich für diesen Interwievpartner entschieden haben soll.

Wenn sie sich dann schon mit so psychologischen Themen auseinandersetzt, ist es dann für mich komplett unprofessionell und wiederum nicht nachvollziehbar, dass sie dann so reagiert:

»Das ist so typisch«, sagt sie. »Du denkst nur an dich, willst immer im Mittelpunkt stehen. Du machst das Interview nur, weil sich dann wieder alles um dich dreht.«
Ich zerdrücke die Kippe im Aschenbecher, kann nicht sprechen. Ich versuche, nicht zu blinzeln. Wenn ich blinzele, werden die Tränen fließen.
»Ich gehe jetzt.« Ninas Augen blitzen. Sie richtet sich auf, schiebt die Zettel zusammen, wirft den Stift in die Federtasche, stoppt die Audioaufzeichnung.

Zumal fühlte ich mich sehr auf die Folter gespannt, ich mag halt solche Geschichten nicht so gerne, die, wie man bald schon spüren kann, auf das (sicher) überraschende Ende hintreiben und man aber innerhalb der Geschichte nie richtig weiß, was eigentlich los ist.

So, jetzt gucke ich mal, was die anderen dazu gesagt haben.

Hier noch ein paar Kleinigkeiten:


Heute sind ihre Haare lang, die blonden Locken fallen auf die Schultern, kringeln sich in der Stirn.
auf der Stirn

Ein Lämpchen blinkt, aber es wartet noch auf das Startsignal.
was ist es?
»Wenn du an deinen Onkel oder an deine Tante denkst, was ist deine frühste Erinnerung?«
früheste

Liebe Grüße
bernadette

 

Hi @bernadette

Wooow, da haste mich aber vom Hocker gehauen, diese Geschichte wieder auszugraben. Bin mir ziemlich sicher, dass ich sie das letzte Mal im Juni 2018 angeguckt habe. Guddi, bei der Gelegenheit habe ich sie mir auch nochmal durchgelesen. Danke!

Nina braucht Interviews für ihre Seminararbeit und sucht sich zum Üben gerade einen so dramatischen Fall heraus, zudem war sie wohl auch sehr in die Geschichte involviert. Desweiteren hatte sie mit diesem Sepp schon ewig nichts mehr zu tun.
Das ist mir alles an den Haaren herbeigezogen, zumal sie dann aber auch von ihm erwartet, er solle so tun, als kenne er sie nicht.

Die Seminararbeit gab es wirklich, was natürlich kein Punkt ist. Mir ist inzwischen bewusst, und das nehme ich auch auf meine Kappe, dass das Setting höchst konstruiert ist. Tut mir leid.

Zumal fühlte ich mich sehr auf die Folter gespannt, ich mag halt solche Geschichten nicht so gerne, die, wie man bald schon spüren kann, auf das (sicher) überraschende Ende hintreiben und man aber innerhalb der Geschichte nie richtig weiß, was eigentlich los ist.

Es liegt auch im Wesentlichen daran, dass ich zu der Zeit viele Geschichten geschrieben habe, um einzelne Aspekte des Schreibens zu üben. Und "Bindung" habe ich geschrieben, nachdem mir gesagt wurde, dass meine Geschichten keinerlei Wendungen oder Überraschungen oder sonstwas enthalten. Deshalb ist es wenig überraschend, dass sich diese Geschichte im Prinzip um nichts anderes dreht. Heute würde ich wohl Sepps und Ninas Aussprache in ein anderes Setting packen und mehr Augenmerk auf ihre Beziehung zueinander legen. Das ist das, was ich beim nochmaligen Lesen auch am interessantesten fand.

Wenn sie sich dann schon mit so psychologischen Themen auseinandersetzt, ist es dann für mich komplett unprofessionell und wiederum nicht nachvollziehbar, dass sie dann so reagiert:

Na ja, eine Sache möchte ich da verstanden wissen: Egal, wie sie sich als Psychologiestudierende des ersten oder zweiten Semesters als "Expertin" hinstellt, sie unterscheidet sich in ihrer Professionalität eben nur durch ein oder zwei Semester Vorlesungen. Wenn ich gerade erwähnte, die Seminararbeit gab es wirklich, es war auch wirklich so, dass diese Interviews im zweiten Semester durchgeführt wurden, und erste Schulungen in Gesprächstechniken kamen an meiner Universität im fünften Semester. Tja. Es ist nicht immer drin, was draufsteht. Und ich denke eigentlich, den Leser/inne/n in dieser Geschichte alles an die Hand gegeben zu haben, dass sie das erkennen können. Tust Du ja auch.

Und mir ging es auch gerade darum zu zeigen, wie skandalös voyeuristisch, unfair und unsensibel Nina mit Sepp umgeht. Dass sich ihre Beziehung auch in der Vergangenheit schon dadurch auszeichnete. Sie ist keine gute Freundin. Sie ist wahrscheinlich der Mensch, der ihn maßgeblich dazu gebracht hat, bis heute keinen reinen Tisch zu machen. Und sie nutzt diese Gelegenheit, um ihre persönliche Neugierde zu befriedigen. Natürlich ist das mega unprofessionell.

früheste

Die anderen Kleinigkeiten habe ich eingearbeitet, aber hier muss ich widersprechen: Duden sagt, ich darf das.

Vielen Dank für Deinen Überraschungsbesuch. Ich hoffe, Du verzeihst mir, dass ich jetzt keine großen Umwürfe mehr plane. Ich könnte die ganze Geschichte, ganz ohne Bindungsinterview, komplett neu schreiben, aber momentan habe ich andere Dinge auf dem Tablett. Und ich habe auch eine WK-Geschichte von mir im Auge, die ich vollkommen neu schreiben will. Vielleicht sogar demnächst. Diese ist es nicht.

Bis bald (ich freue mich schon),
Maria

 

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