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- 07.01.2018
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Bindung
Früher waren Ninas Haare kurz. Wie ein Junge sah sie aus, wie ein Junge rannte sie auf dem Bolzplatz dem Ball hinterher und kletterte im Wald auf Bäume. Heute sind ihre Haare lang, die blonden Locken fallen auf die Schultern, kringeln sich auf der Stirn.
»Hi, Sepp«, sagt sie. Das Lächeln weicht aus ihrem Gesicht. »Oh, Entschuldigung. Alte Gewohnheit.«
»Ist gut«, sage ich, obwohl ich schon ewig nicht mehr so genannt wurde. Seit der Grundschule nicht mehr. Ich weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Ihr Gesicht ist von Sommersprossen gesprenkelt. Sogar auf den Ohrläppchen sind welche. Sie trägt einen Ring an der Unterlippe. »Komm rein«, sage ich.
»Danke.« Sie tritt über die Schwelle, streift die Sneakers ab. Um das linke Fußgelenk baumelt ein Fußkettchen. Mein Blick wandert über ihre Knöchel, die langen Beine hinauf.
»Ich bin ein bisschen aufgeregt«, sagt sie.
»Ach.« Ich blicke auf ihren lächelnden Mund, schaue in die grünen Augen. Meine Hände zittern, und ich schwitze, doch ihre sind ruhig, als sie sich das Haar aus der Stirn streicht.
Die Küche meiner Wohnung ist zugleich das Wohnzimmer. Sie ist vollgestellt. Ich lebe aus Kartons, alles ist improvisiert. Heute habe ich den Abwasch gemacht und den Tisch gewischt. Ich nehme die Kanne aus der Kaffeemaschine.
»Ich habe Kaffee gekocht«, sage ich, angele eine Tasse mit Blümchenmuster aus dem Schrank.
»Hast du auch Tee?«, fragt sie.
Ich stelle die Tasse wieder hin, Porzellan schlägt auf Holz. Wische die Hand am Hosenbein ab. »Ich muss gucken.«
»Okay.« Sie betrachtet die Postkarten, die am Schrank hängen. Ihr Blick wandert weiter zu dem Basilikum, das auf der Fensterbank vertrocknet. »Schöne Wohnung«, sagt sie. »Gemütlich.«
Ich sehe auf, ziehe eine Augenbraue hoch. Wir schauen einander an. Mir schießt das Blut in den Kopf, und ich wende mich ab, beginne, in den Kisten zu wühlen. Irgendwo habe ich letztens einen einsamen Teebeutel gesehen.
»Was machst du so?«, fragt sie.
»Ausbildung zum Bauzeichner«, sage ich. Ich fahre mit bebenden Fingern in die Ritzen des Kartons mit dem Gemüse. Irgendetwas Matschiges liegt ganz unten. Ich hebe den Kopf, Nina sieht nicht hin, schaut aus dem Fenster.
»Ah ja.«
Meine Finger ertasten einen schmalen, in Papier gehüllten Gegenstand. Ich ziehe ihn hervor, das Blut rauscht in meinen Ohren. »Ist schwarzer okay?«, frage ich.
»Ja, super.«
Ich schalte den Wasserkocher ein, gieße Kaffee in die Blümchentasse. Ich angele eine weitere Tasse aus dem Schrank, hänge den Teebeutel hinein.
»Tee kommt gleich.«
Wir setzen uns an den Küchentisch. Nina zieht einen Laptop aus ihrer Tasche.
»Ich habe dir ja gemailt, dass ich eine Audioaufzeichnung machen muss«, sagt sie. »Ist das immer noch okay?«
Ich nicke.
»Also, ich mache dieses Interview für eine Seminararbeit. Wir interviewen Bekannte zur Übung. Da habe ich gleich an dich gedacht. Keine Sorge, alles, was du sagst, wird vertraulich behandelt.«
»Klar.« Ich nehme einen Schluck und verbrenne mir die Zunge. Als ich die Tasse hinstelle, schwappt Kaffee über den Rand. »Ist es okay, wenn ich rauche?«
Sie kraust die Nase. »Es ist deine Wohnung.«
Ich nicke. »Okay.« Ich behalte die Zigarettenpackung in der Hosentasche, stehe auf, gieße das heiße Wasser auf den Tee, stelle die Tasse vor sie hin.
»Danke.« Sie schiebt den Laptop zwischen uns. Ein Lämpchen blinkt, aber wartet noch auf das Startsignal. Sie nimmt einen Stapel Papier und einen Bleistift aus ihrer Tasche.
»Keine Angst wegen der Zettel«, sagt sie und lacht wieder. »Das ist nur meine Gedächtnisstütze.« Sie wirft sich das Haar über die Schulter. Ich rieche ihr Shampoo, eine Wolke von Orange. »Ich freue mich, dass du das machst. Es ist sicher … ziemlich interessant.« Ihre Augen weiten sich kurz. »Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht …«
»Schon gut. Du warst früher schon so …«
»Direkt?« Nina lacht wieder. Sie lacht viel, ich wünschte, sie würde noch mehr lachen. Ein Grübchen gräbt sich in ihre linke Wange. »Ja, ich weiß. Hat sich nicht geändert.«
Ich schlucke, will etwas sagen, fürchte aber, dass ich mich verhaspele. Presse die Lippen aufeinander.
»Gut, dann legen wir mal los«, sagt Nina und startet die Audioaufzeichnung. »Ich stelle dir ein paar Fragen zu deiner Kindheit und wie sie sich auf deine Persönlichkeit ausgewirkt hat.« Sie liest von einem Zettel ab. »In Ordnung?«
Ich nicke.
»Könntest du damit beginnen, mir zu sagen, mit wem du als Kind gelebt hast?«
Ich warte darauf, dass sie weiterspricht. Doch jetzt sieht sie mich an.
»Ja«, sage ich. »Klar. Also, ich habe bei meinem Onkel und meiner Tante gelebt. Wie … Spiderman.« Mir schießt das Blut in den Kopf, meine Wangen glühen, doch Nina lächelt, also spreche ich weiter, schnell. »Hast du den letzten Film gesehen?«
Sie sagt nichts, nickt, ihre Miene verändert sich nicht.
»Nicht ganz wie Spiderman, natürlich. Meine Eltern sind nicht gestorben, nicht beide. Mein Vater war bei meiner Geburt im Gefängnis, und meine Mutter ist gestorben, zwei Monate nach meiner Geburt. Also wurde ich von meinem Onkel und meiner Tante aufgezogen. Und mein Onkel ist am Leben, anders als Peter Parkers Onkel.«
»Hm-m.« Sie schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr, linst mir unter ihren dichten Wimpern zu. »Haben in eurem Haushalt noch andere Personen gewohnt? Kinder von deinem Onkel und deiner Tante oder andere Leute?«
»Ja, mein Onkel und meine Tante hatten ein Kind, Toni.« Unter der Tischplatte verschränke ich die Hände ineinander. »Sie war … sechs Jahre jünger.«
Nina nickt. Diesmal macht sie keine Notiz. In ihren grünen Augen schimmert etwas.
Mein Hals ist sehr eng, zu eng, um zu sprechen.
Aber sie weiß sowieso Bescheid. Damals kam sie vorbei, brachte eine Flasche Vanille-Coke mit, meine Lieblingscola. Obwohl ich am Telefon gesagt hatte, dass ich sie nicht sehen wollte.
Sie hüstelt, nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse. »Die nächste Frage ist schwierig«, sagt sie. »Wenn du an deinen Onkel oder an deine Tante denkst, was ist deine frühste Erinnerung?«
Ich atme tief ein, löse die Hände voneinander. »Mein Onkel und ich standen uns sehr nahe. Er war ja zu Hause, meine Tante hat gearbeitet. Mein Onkel war Schwimmtrainer. Er sagt, ich habe früher schwimmen als laufen gelernt. Wir waren oft am Badesee, da haben wir nach Steinen getaucht, die lagen unter dem Schlamm. Ich hatte einen schönen Stein, blau mit grauen Sprenkeln.« Ein Lächeln stiehlt sich wie ein Fremder auf mein Gesicht. Unsicher, ob er erwünscht ist. »Den hat er hochgeholt, hat ihn mir geschenkt. Er lag immer auf der Fensterbank.«
»Wie schön«, sagt sie und lächelt ebenfalls.
»Aber beim Umzug hat meine Tante ihn weggeworfen, meinte, das sei Plunder, den niemand braucht.«
Sie leckt sich über die Lippen, schaut kurz auf, senkt den Blick auf ihre Notizen. »Ja. Jetzt hast du etwas über deinen Onkel gesagt. Wie war deine Beziehung zu deiner Tante, als du ein Kind warst?«
Ich starre sie an, sie starrt zurück.
Schließlich rutscht sie auf ihrem Stuhl umher und lacht wieder. »Sepp?«, fragt sie.
»Das ist schwierig«, sage ich.
»Ich weiß.«
»Nein, es ist wirklich schwierig.« Ich ziehe die Finger unter dem Tisch hervor, strecke sie, beuge sie. »Ich weiß nicht, soll ich Wörter für davor oder danach finden?«
Sie runzelt die Stirn. »Davor oder danach?«
»Du weißt schon.«
»Sepp«, sagt sie. »Geh einfach davon aus, wir würden uns nicht kennen, okay?«
»Das mit Toni«, sage ich, umklammere die Kaffeetasse. »Danach hat sich alles verändert. Nach ihrer Geburt. Aber auch … danach-danach.«
Ihr Gesicht wird starr. Unmöglich, etwas darin zu lesen. Kein Lächeln, so sehr ich danach suche. »Ich weiß auch nicht.« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Aber das wäre natürlich wichtig zu wissen. Also …«
Ich fahre mir über die Augen. In meinem Magen rumort es, vielleicht habe ich den Kaffee zu schnell getrunken. »Ich kann nicht«, sage ich. »Ich kann darüber nicht sprechen.«
»Du musst das nicht tun.« Eine Falte gräbt sich in ihre Stirn, ihre Augen sind dunkel, schattig.
»Du brauchst das für deine Seminararbeit«, sage ich und hebe die Mundwinkel. Sie lächelt, mein Herz macht einen Satz. »Ich brauche nur eine Pause.«
Sie stößt geräuschvoll Luft aus. »Danke.«
Ich gehe raus, rauche zwei Zigaretten. Starre vorüberfahrenden Autos nach. Mein Nacken schmerzt, und meine Augen brennen. Als ich wieder hochgehe, scheint die Treppe mehr Stufen zu haben als sonst.
»Okay«, sagt Nina, während ich mich setze. »Du sagst, du standst deinem Onkel näher … Warum war das so?«
Ich kratze mich am Kopf. »Na ja, als ich klein war, war er immer da. Nur wir zwei.«
»Und deine Tante?«, fragt sie.
»Sie hat ja gearbeitet. Und sie war sehr streng. Ich hatte Angst vor ihr. Du weißt doch, wie sie war. Räum dein Zimmer auf. Sprich nicht beim Essen. Sei nett zu Toni.« Ich rolle mit den Augen, warte darauf, dass sie mit den Augen rollt wie früher, kichert, mit dem Fingernagel gegen die Schneidezähne tickt.
»Verstehe«, sagt sie. Sie sitzt mit einem angewinkelten Bein an die Wand gelehnt auf ihrem Stuhl und schaut auf ihre Unterlagen, während sie mit der Zunge am Lippenpiercing spielt.
»Weißt du nicht mehr?«, frage ich, die Stimme leise.
Sie blättert um. »Wenn es dir als Kind schlecht ging, was hast du gemacht?«
Ich starre das Basilikum in ihrem Rücken an, daran vorbei aus dem Fenster. »Wenn es mir nicht gut geht, bin ich lieber allein. Ich bin dann zum See gelaufen. Oder habe ferngeguckt. Bevor wir umgezogen sind, da bin ich gerne mit dir rausgegangen. Unser Baumhaus, da habe ich dran gebaut, wenn es mir schlecht ging.«
Draußen raschelt die Kastanie mit den Blättern. Ninas Bleistift kratzt auf dem Papier.
»Ferngeguckt oder gebaut«, sagt sie. »Aber kannst du dich an irgendetwas erinnern, wenn es dir nicht gut ging und du zu deinem Onkel oder deiner Tante gegangen bist?«
»Doch, ganz früher, wenn ich mir wehgetan habe, dann hat mein Onkel mir ein Pflaster gegeben. Na ja, und später …« Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich die Zigaretten aus der Hosentasche gefischt habe. Ich starre die Packung an, sie liegt in meiner Hand, als hätte sie sich dorthin gezaubert.
»Sepp?«
»Ja.« Ich huste. »Toni war oft krank, da hat mein Onkel sich um sie gekümmert. Wenn sie dann wieder das … dieses Flimmern gekriegt hat … Ich war ja auch schon älter, ich wusste dann, wo die Pflaster waren, und ich durfte fernsehen, wenn ich nicht zur Schule gehen konnte. Ich hatte einen Fernseher im Zimmer. Habe ich zu Tonis erstem Geburtstag bekommen. Also, das war … gut.« Ich stopfe die Schachtel zurück in meine Hosentasche, sehe Nina nicht an.
»Danke«, sagt sie. Sie schaut wieder auf ihre Unterlagen, befingert ihr Piercing. Schließlich setzt sie sich aufrecht hin. »Hast du dich als Kind einmal alleingelassen gefühlt?«
»Alleingelassen?« Ich schlucke an dem Kloß im Hals.
»Oder ignoriert«, sagt sie.
Ich kratze mich am Kopf. »Von meinem Onkel oder meiner Tante? Ja. Ich weiß noch, als Toni das erste Mal mit am See war. Meine Tante ist auch mitgekommen, dabei waren sonst immer mein Onkel und ich allein …« Im Sommerwind, der durch das auf Kipp stehende Fenster hereinweht, fröstele ich. »Es ging wieder los bei Toni. Du weißt ja, wie das war. Sie war nervös, ganz weiß. Erinnerst du dich?«
Nina schreibt etwas auf ihrem Zettel, der Bleistift kratzt auf dem Papier.
»Nina?«
»Ja«, sagt sie, ohne aufzublicken.
Ich lege meine Hand zwischen uns auf den Tisch, betrachte ihre kurzen Fingernägel. »Sie wollten sofort mit Toni nach Hause fahren. Ich wollte, dass mein Onkel bleibt. Ich wollte ihm den Stein zeigen, den ich aus dem Schlamm geholt habe. Ich wollte …«
Nina beugt sich vor, ihre Hand liegt ganz dicht vor meiner, unsere Fingerspitzen berühren sich fast. »Es muss schwer sein, darüber zu sprechen«, sagt sie.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, halte ihrem Blick stand. »Ich wollte doch nur, dass er bei mir bleibt. Ich habe mich auf den Boden geworfen, mich nicht von der Stelle gerührt. Sie sind ohne mich gefahren.«
»Wann war das?«, fragt sie.
»Ich war so egoistisch«, sage ich. »Weißt du noch, das hast du zu mir gesagt. Ich habe nur an mich gedacht.« Ich probiere ein Lächeln, doch diesmal gelingt mir kein Heben der Mundwinkel. Genauso gut hätte ich versuchen können, mit den Ohren zu wackeln – ich kann die richtigen Muskeln nicht finden. »Ich war wütend. Heute verstehe ich das. Du hattest recht.« Die Worte hinterlassen einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge.
»Und wie alt warst du da?«
»Du warst doch dabei.« Ich will die Hand ausstrecken, ihre Haut berühren. Wie damals, als ich abends zu ihr rannte, die ganze Nacht bei ihr blieb, ihrem Atem lauschte, ihrem leisen Schnarchen. Ob sie heute noch schnarcht? Ganz leicht, kaum hörbar?
Sie seufzt. »Bitte, geh einfach davon aus, wir würden uns nicht kennen. Schaffst du das?«
Ich presse die Lippen aufeinander. Steche mit den Fingernägeln in die weiche Haut am Unterarm. »Zehn, glaube ich. Oder elf?«
Sie macht sich eine Notiz. »Haben dein Onkel oder deine Tante dich irgendwann einmal bedroht? Vielleicht aus erzieherischen Gründen oder auch aus Spaß?«
Ich hole tief Luft. Meine Augen brennen. »Ja.«
»Möchtest du davon erzählen?«
»Meine Tante hat gesagt, sie würde mich weggeben. Eigentlich …« Ich reibe mir die Augen, blinzele etwas weg, das irgendwie hineingeraten ist. »… war es keine Drohung. Sie wollte es tun. Mein Onkel hat sie zurückgehalten. Er hat mir geglaubt. Sie nicht. Sie war so wütend, hat geschrien. Ich glaube, wenn ich nicht gewesen wäre, wären sie noch verheiratet.«
»Kannst du da … konkreter werden?«
»Es war danach-danach«, sage ich. Mein Atem ist flach, meine Stimme klingt seltsam. »Nach Toni.«
Sie schweigt. Sieht mich an. Ich wünschte, sie würde meinem Blick ausweichen und etwas aufschreiben.
»Ich wollte, dass alles wieder so wird wie vor Toni.« Ich hebe die Arme, meine Hände flattern durch die Luft. Meine Exfreundin hat gesagt, ich würde nur gestikulieren, wenn ich mich rechtfertige. Ich setze mich auf meine Handflächen. »Das war dumm, das weiß ich jetzt.«
»Und?«, fragt Nina, sieht mich an. »Wie war es nach Toni? Wie ist es jetzt?«
Es ist still. Ich kann meinen Atem hören, das Rascheln der Kastanie. Ich höre sogar ihren Atem.
»Das alles«, sage ich, und meine Stimme klingt fest, beherrscht, »hat dazu geführt, dass ich mich schwer fühle, unsichtbar und trotzdem störend. Wie ein Stein im Schlamm. Wenn ich daran denke, dann …« Ich begegne ihrem Blick, ihre Lippen bewegen sich, sie hat den Bleistift aus der Hand gelegt.
»… dann fühlst du dich schuldig?«, fragt sie.
»Ja.«
»Warum?«
»Ich habe das nicht geplant«, sage ich. Ich hebe die Schultern. Ich fische die Zigarettenpackung aus meiner Hosentasche, klemme mir eine Zigarette zwischen die Lippen. Auf diese Weise kann ich nicht sprechen, ich nehme die Kippe in die Hand. »Es ist einfach passiert. Wir waren allein im See, ich wollte nach Steinen tauchen, mein Onkel ist zur Eisdiele gegangen. Toni war das Wasser zu schlammig, sie hat geschrien.« Ich lege die Kippe auf den Tisch, rolle sie unter meinem Zeigefinger vor und zurück.
»Sepp.« Ninas Hand schnellt vor, legt sich auf meine. Ihre Haut ist warm, heiß. »Es ist nicht deine Schuld.«
»Das hast du gesagt. Haben alle«, sage ich. Ich ziehe meine Hand nicht weg, lasse sie liegen. Ich atme aus. »Es war ganz leicht. Ihren Kopf unter Wasser zu drücken. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich gewehrt hat.«
Nina starrt mich an. Eine Locke hängt vor ihren grünen Augen, der Mund ist leicht geöffnet, die Lippen glänzen.
In der Stille ziehe ich meine Hand unter ihrer hervor, stecke mir die Zigarette an.
»Was?«, fragt Nina, sie flüstert.
Ich schaue den blauen Rauchfähnchen nach, die zur Decke treiben. »Ja.«
»Was soll das? Warum sagst du das?«
»Ich wollte es dir immer sagen. Du hast mir nicht zugehört.«
Sie lehnt sich im Stuhl nach hinten, weicht vor mir zurück, hält sich an den Zetteln fest. Sie öffnet den Mund, schließt ihn wieder.
Mein Herz rast, das Blut pumpt in meinen Adern. »Jetzt hast du mich gehört. Hast du, oder?«
»Du verarschst mich«, sagt sie, haucht sie. »Was soll der Scheiß?«
Ich ziehe an der Kippe, verschlucke mich am Rauch, huste. »Scheiß? Wirklich?« Der Husten unterbricht mich, Tränen schießen mir in die Augen.
»Das ist so typisch«, sagt sie. »Du denkst nur an dich, willst immer im Mittelpunkt stehen. Du machst das Interview nur, weil sich dann wieder alles um dich dreht.«
Ich zerdrücke die Kippe im Aschenbecher, kann nicht sprechen. Ich versuche, nicht zu blinzeln. Wenn ich blinzele, werden die Tränen fließen.
»Ich gehe jetzt.« Ninas Augen blitzen. Sie richtet sich auf, schiebt die Zettel zusammen, wirft den Stift in die Federtasche, stoppt die Audioaufzeichnung.
Ich schaue ihr zu, als sie ihre Sachen zusammenpackt, ich blinzele. Keine Tränen. Hitze kriecht meine Luftröhre hinauf. Ich schlucke, aber die Hitze wandert weiter, steigt höher.
Zuletzt habe ich mich so gefühlt, als wir in meinem Zimmer saßen, umgeben von Kuscheltieren, zwei Gläser Vanille-Coke. Als sie mein Haar streichelte und, obwohl die Worte in meiner Kehle brannten, immer wieder sagte: Es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld.
Ich laufe ihr nach, als sie zur Tür eilt, ihre Tasche unter dem Arm. Sie fährt in die Sneakers, reißt die Wohnungstür auf. Ich mache einen Schritt auf sie zu, noch einmal streift ihr Blick mein Gesicht. Dann schlägt sie die Tür zwischen uns zu, ich spüre den Luftzug, das Zittern im Trommelfell.