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Auf halber Höhe ohne Flügel
Davina sah auf die Uhr. „Am besten bleibe ich diesmal gleich hier“, sagte sie. Amos musste zugeben, dass das vernünftig klang. Da gebe es doch irgendwo eine Matratze, sagte er. Er fand sie auf dem Speicher, schob und zog sie die Klappleiter herunter. Beim Tragen zu zweit sackte sie bis zum Boden durch. Davina entschied, sie wolle lieber, sofern es Amos nichts ausmache, neben ihm im Bett schlafen. Sie legte dort die Hand auf seinen Rücken und das war ihm nicht unangenehm, aber er rührte sich nicht. Er schlief schlecht, weil er lebhaft vom Glück träumte. Schließlich war er froh, als er von draußen durchs offene Fenster die Rotschwänzchen singen hörte. „Ich stehe auf“, flüsterte er und strich ihr eine Haarsträhne zurück. Wenn sie jetzt aufgewacht wäre, hätte er sie vielleicht geküsst.
Sie frühstückten vor Sonnenaufgang, in ihren Jacken saßen sie auf dem Balkon, dann brachen sie auf. Vom Parkplatz liefen sie geradewegs los.
Die morgendliche Luft stand kühl im Tal. Das Moos am Boden duftete noch feucht. Ein Bach perlte weiß über große Kiesel. Davina kniete auf den runden Steinen und legte die Handflächen aufs Wasser. Ihre Haare leuchteten im Gegenlicht. Das gefiel Amos. Sie tat, als wollte sie sich nicht fotografieren lassen, ließ sich bitten, bevor sie es zuließ. Drei-, vier-, fünfmal drückte Amos auf den Auslöser. Dann rannte Davina auf ihn zu, legte ihm die nasse Hand an den Nacken und schob sie lachend tief zwischen seine Schulterblätter. Das war kalt auf der Haut, so dass er zusammenzuckte. Davina sprang lachend an ihm vorbei die Böschung hinauf.
Überhaupt lachte sie heute viel, zupfte Amos an seiner Lodenjacke, - „Wie aus Opas Zeiten!“ -, stahl ihm die Baseballcap vom Kopf, so dass er ihr nachlaufen und sich die Mütze wieder schnappen musste. Sie lachte über alles, was er heute sagte, über das ganze Gesicht lachte sie und hüpfte um ihn herum.
Eine Karte hatten sie nicht, im Gehen entschieden sie sich, den Wegweisern Richtung Pik Granice zu folgen, um nicht im Kreis zu laufen. Aber nicht bis hinauf wollten sie, nur ein Stück in die Landschaft und früh zurück, denn der Wetterbericht kündigte zum Abend hin Gewitter an. Ihre Sohlenprofile griffen schneidig in den Schotter, Kuhglocken schickten einen dünnen Klangteppich durch die Luft, zudem blieb es entgegen der Vorhersage wolkenlos. Es gab keinen Grund, umzukehren. Allmählich fanden sich die beiden recht weit oben.
Sie mussten sich entscheiden. Zur einen Seite ging es den Granice hinauf. Der Berg stand so nah, dass der Weg zum Gipfel als dünne Schnur zu erkennen war. In seiner harten Flanke standen keine Bäume.
Sie wählten den anderen Weg, der einladender und kaum ansteigend weiter über die Almwiesen führte. Nur dort, nicht den Granice hoch, stand indes ein Schild, das Ungeübte vor dem Weitergehen warnte. „Gut“, sagte Davina, „ungeübt sind wir nicht.“ Amos wollte nicht widersprechen. Er nahm nur eben den Rucksack ab und steckte den Fotoapparat hinein. Anschließend folgte er Davina.
Der Fußpfad wurde bald schmaler. Er zog sich an einem Felsband entlang, seitlich fiel steil die Halde ab, es blieb jedoch leicht zu gehen. Ausgesetzt war es wohl. Abwärts wechselten Gras, Gestrüpp und Stein. Der Bewuchs am Hang ließ immer noch dem Gedanken Raum, man könne aufgehalten werden, selbst wenn man fiele. Schrofig war es hin und wieder, in solchen Fällen konnte man bergseitig ein Stahlseil zu Hilfe nehmen. Er schaute nicht nach unten, zwang seinen Blick geradewegs auf Davinas Fersen, und bald schon balancierte er die Schritte nicht mehr aus, als ginge er auf einem Seil. Nach einiger Zeit ging er Davina sogar beinahe lässig nach.
Auf einem Sattel standen sie dann und konnten mit einem Mal über den Kamm sehen, bis ins Tal auf der anderen Seite hinunter. Dort unten lag dunkel ein See, um den herum die Dächer einzelner Gehöfte prunkten. Im kurzen Gras blühten Disteln. Von den Höfen her bellte ein Hund. Da war sie ganz nah, die sichere Welt, auf der man gehen konnte, wie man wollte, ohne darauf achten zu müssen, wie man die Füße setzte. Gar nicht weit war sie.
Nur wenig voraus verlor sich der Pfad am Ende eines Wiesengrats im Fels. Es ging dort steil nach oben. Lange Eisenstäbe waren in die Wand getrieben. „Klar“, sagte Davina, indem sie mit der ausgestreckten Hand auf den Klettersteig wies, „das Schild.“ Ohne Sicherung ging man da nicht. Hier würden sie umkehren.
Davina griff in den Rucksack, holte Weintrauben heraus, stellte sich vor Amos hin und steckte erst ihm, dann sich selbst eine in den Mund. „Schön hier“, sagte sie beim Kauen, beugte sich vor, und spuckte einen Kern in die Tiefe.
Amos war zufrieden, dass der Pfad endete. Denselben Weg zurück, das war zu schaffen.
So standen sie, plauderten davon, wie es wäre, weiter zu gehen, was hinter den Felsen wohl noch käme, und ließen die Umkehr reifen.
Amos fühlte sich freier. Etwas flau sei ihm heute, gestand er, wahrscheinlich komme es daher, dass er gestern spät und schlecht geschlafen habe. Das war ja nicht falsch.
Ob ihm schwindlig sei, fragte Davina. Er protestierte und wurde einen Augenblick lang mutig, lachte, breitete die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis.
Krähen saßen am Boden, warfen sich wechselweise über den Abgrund, stehend segelten sie mit dem Kopf im Wind, bevor sie wieder landeten. Die Sonne stand jetzt ganz oben und bleichte den Fels.
Dann ging Davina weiter. Erst das kurze Stück bis an die Stelle, wo der Fußpfad durch die eisernen Trittstifte abgelöst wurde. Es sah so aus, als wollte sie dort nur einen Augenblick verweilen, am Beginn des Steigs nippen, und wieder zurück. Sie dachte es selbst. Doch dann ging sie langsam immer weiter. Sie stieg die Stahltreppe hinauf, die Eisenstangen, die aus dem Fels in die Luft und über den Abgrund hinausragten. Amos stand ganz gerade und bewegte sich nicht. Er musste hinsehen: Sie ging da wirklich hoch.
„Du darfst dich nur nicht damit befassen, was alles passieren könnte“, rief sie von oben. „Alles kann passieren.“ Wie eine unfertige Wendeltreppe führte das Gestänge nach Kurzem um den herauskragenden Fels. „I’m Canadian“, rief sie Amos auf den Kopf hinunter zu, wie wenn das eine Erklärung wäre. Sie bog um die Steinwand und war nicht mehr zu sehen.
Amos stand. Der Pfad war an dieser Stelle breiter, die ausgetretenen Spuren fächerten sich zu einer Terrasse auf. Links schützte kniehoch, hüfthoch der Grat, rechts bot eine Zirbelkiefer, deren Wurzeln über die Abbruchkante wuchsen, den Augen Halt. Unten bei den Höfen lag der Alltag. Kein Wille zum Verderben hing in der Luft, niemand lauerte, um Davina zur Strafe für ihren Wagemut hinunterzustoßen. Wie friedlich hier alles ist. Alles friedlich hier, sagte sich Amos. Da stand er nun. Davina kam lange nicht.
Als sie endlich doch wieder um die Felsen bog, strahlte sie. Amos hob die Arme, wie um sie zu sich herzuziehen, als sie sich über die Trittstifte mit den Füßen abwärts tastete. Mit den Augen zog er sie zu sich, ging ihre Bewegungen mit, damit wirklich nichts schiefging. „Huhu“, rief sie, noch bevor sie wieder festen Boden unter sich hatte, und Amos wünschte dringend, sie würde nicht winken. Gleich darauf stand sie bei ihm und erzählte mit glühenden Wangen. Im Nachhinein war es genau so, wie sie sagte: Wenn man wusste, was man tat, war es ohne wirkliche Gefahr. Erst ging es hinter dem Fels weiter auf den Eisenstiften, erzählte sie, danach kam sogar wieder ein Pfad, einer wie dieser hier, „Schwierigkeitsgrad Null“, und danach ging allerdings die Kletterei los, erst eine Leiter, die ging noch, aber dann wäre es zu heikel geworden, trotz Stahlseil an der Seite. Verlockend war es schon. „Aber tabu!“ Davina ging neben Amos, sofern es der schmale Weg zuließ, und plapperte aufgekratzt. Wie man dort oben zwar nicht auf einem Gipfel stand, aber alles sehen konnte. Rundherum Felsen und schroffe Spitzen. Gletscherreste in den Nischen, zum Greifen nah. Einsam mitten im Gebirge war man da, als gäbe es nichts anderes mehr. Großartig war das. Amos hätte mitkommen sollen. Nächstes Mal würde er sicher mitkommen, oder etwa nicht? Er brauche keine Angst zu haben, sie sei nicht leichtsinnig. „Du musst dir das klarmachen: Diese Eisenstäbe brechen nicht plötzlich weg, nur weil es tief nach unten geht.“ Sie lachte: „Die merken das gar nicht. Das musst du dir klarmachen. Das ist die Kunst.“
Amos sah vor sich auf den Weg und sagte nichts.
„Du“, sagte Davina, als die Wiesen um sie herum wieder breit und bequem waren, „das war richtig, dass du da nicht hochgegangen bist.“
Er nickte.
„Weißt du“, sagte sie, „ich bin so normalerweise nicht.“
Er ging vor ihr her und nickte.
Sie sprang zwei Schritte voraus und fasste ihn an der Manschette. „Schau mal“, sagte sie, „das war blöd.“ Sie zog ihn am Arm, dass er anhielt und sah ihm ins Gesicht. Sie hob ihm die Baseballkappe vom Kopf, setzte sie sich selbst auf, das Schild zur Seite, hielt ihr Gesicht mit beiden Händen, schaute Amos von unten her an und schob die Lippen vor. „Ich mach’s nicht wieder.“
„Ist ja okay“, sagte er und holte Luft, als wollte er noch etwas sagen. Er schüttelte den Kopf und winkte ab.
„Bergsteigerjacke“, grinste sie, und rupfte am Revers, um etwas von ihm zu spüren, seinen Körper, wie er ihn einsetzte, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kippen. Er grinste ganz wie sie, stand aber nur da, nahm sich seine Kappe nicht wieder, so dass sie mit ihm darum hätte ringen können, nahm nicht ihre Hände. Stand nur da, so wie er auch vorhin nur dagestanden hatte, als sie dort oben wieder um den Fels gekommen war, sie nicht erleichtert in seine Arme genommen hatte, nicht in die Knie gegangen war, vor Freude, dass ihr nichts geschehen war, ihr nicht gesagt hatte, wie mutig sie sei, ihr nicht gesagt hatte, dass er sie liebte.
„Angst hast du gehabt, stimmt’s?“, sagte sie. Er schaute nach unten, dann huschte sein Blick über ihr Gesicht und an ihr vorbei. Verwundbar wie ein Kind erschien er ihr, das man dafür im Arm halten und an sich drücken will. Sie ließ ihn los. Wieder ging er voraus.
„Bergsteiger“, sagte sie und stach ihm mit dem Finger in die Seite. „Almöhi-Jacke.“
Sie waren fast ganz unten. Der Wirtschaftsweg, auf dem sie gingen, war jetzt asphaltiert. Davina fand Kiesel am Wegrand, die sie Amos einzeln hinterherwarf. Sie versuchte, ihn mit den Steinchen hinter dem Ohr zu treffen, so dass er den Kopf einzog. Er wehrte sich auch jetzt nicht.
„Ich mach das nicht mehr, okay?“, sagte sie, als sie wieder im Auto saßen. „Wir machen das nicht mehr. Zufrieden?“ Amos fiel nicht ein, wie er widersprechen konnte.
Sie wolle übrigens nicht mehr mit zu ihm, sagte sie. Am Wagnerplatz könne er sie rauslassen, sie nehme die Bahn. „Nein“, sagte er. „Doch“, sagte sie und schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm herüber.
Als sie ausstieg, drehte sie sich nicht mehr zu ihm um. An der Kreuzung musste sie warten. Amos legte die Hand an den Türgriff, da sprang die Ampel auf Grün. Schnell stieß er die Tür auf und spürte hart den Ruck des Sicherheitsgurts vor seiner Brust. Er ließ sich wieder in den Sitz fallen und sah durch die offene Tür Davina nach, die auf der anderen Straßenseite die Rolltreppe betrat. Sie hatte noch immer seine Basecap auf, die sah er zuletzt.