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Aiken
Aiken sitzt am Steg. Im Wasser schwimmen oliv schimmernde Kapelane. Ein Eimer mit gefangenen Fischen steht neben ihm, dahinter liegen die Holzhäuser des Dorfes in einer Gebirgsmulde.
Ich werde Aiken zum Anleger schicken, hatte Großmutter Mühme in ihrem letzten Brief an Moose geschrieben. Er wird auf dich warten.
Moose steuert mit der „Ammassat“ den Hafen an. Die Gewässer sind ihm nicht mehr vertraut. Er sieht die kleine Gestalt dort sitzen, der er seit vier Jahren nicht mehr begegnet ist. Am Anlegeplatz schaltet er den Motor ab und steigt vom Kutter. Hinter der Schwelle zum Steg bleibt er stehen, legt den Kopf schief und sieht Aiken an. Der hält dem einen Augenblick lang stand, springt dann auf, greift nach dem Henkel seines Eimers und ruft:
„Du brauchst überhaupt nicht mehr zu kommen!“
Und er läuft davon. Wasser mit Fischen schwappt aus seinem Eimer, die Fische bilden eine zappelnde Spur. Moose folgt ihm, sammelt sie auf, legt sie in seine Mütze und kurz darauf zu den anderen, die das Kind auf der Veranda hat stehen lassen. Seine Aufgabe ist klar. Jetzt, da Mühme in Rente ist, ist sie dankbar für Mooses Unterstützung. Um Wintervorräte anzulegen, wird sie diesen Sommer auch ihn beherbergen. Er stellt das Gepäck ab. Nach seiner ersten Begegnung mit Aiken bleibt er eine Weile vor der Tür stehen. Dann atmet er aus und klopft an.
An einem frühen Morgen zog Marius Aiken an, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm zum Kai. In Anorak und Stiefeln trippelte der Junge neben seinem Vater her. Schiffskräne verluden mannshohe Rohre, die zur Sanierung der Entsalzungsanlage geliefert worden waren.
Marius brachte das Kind an den Rand der Landzunge und bedeutete ihm, da zu bleiben. Lächelnd und mit ausgebreiteten Armen beobachtete der Junge die durch die Luft schwebenden Bauteile, bis sie gebündelt auf Gestellen abgelegt worden waren. Es roch nach Eis und Öl. Marius, der beauftragt war, die Löschung der Ladung zu koordinieren, lief am Anleger mal hierhin, mal dorthin. Mit behandschuhter Hand gab er den Arbeitern auf den Gestellen Richtungsanweisungen, blinzelte in die aufgehende Sonne.
Plötzlich riss krachend die Begurtung eines Bündels, ließ die Rohre ohrenbetäubend über den Anleger donnern. Sie kreuzten Marius’ Blick und begruben ihn unter sich.
Beim Aufprall, den Schreien, den verzweifelten Rufen verlor Aiken beinahe die Besinnung, war rückwärts stolpernd ins Straucheln geraten und dem Ufer entglitten. Er tauchte ein, tauchte unter und verlor in der träge schwappenden See jede Orientierung.
Der Junge riss die Augen auf. Die Luft seiner Lungen war fast verbraucht. Aiken strampelte, gab jedoch rasch nach und trieb mit ausgebreiteten Armen unterhalb der Wasseroberfläche. Eine Stake erschien ihm vor Augen, als sein Bewusstsein schon zu schwinden begann. In einer letzten Anstrengung entwand er sich dem eisigen Griff des Wassers, klammerte und wurde emporgezogen. Emporgezogen in eine milde Windstille, in der er zu liegen kam, bis Moose ihn aufhob und nach Hause trug.
Kristian nutzte das Boot für den Eigenbedarf, indem er dann Angeln fuhr, wenn er der ewig gleichen Konserven überdrüssig geworden war. Vertäut in der Nähe des Stegs war es im Morgengrauen kaum zu erkennen. Erst, als die ersten Wellen Tageslicht hereinschwappten, erschien seine Schatten. Manchmal ließ sich der Pastor von einem Schlepper ein Stück fjordeinwärts ziehen, angelte und ruderte ausdauernd zurück.
Dieser Morgen war ein anderer, und er hatte dem Ganzen kaum Aufmerksamkeit geschenkt, bis der entsetzliche Lärm, Schreie und das Quietschen, das Rattern der Maschinen die Stille sprengten. Als er das Boot fast erreicht hatte, löste sich an der Anlegestelle ein kleiner Schemen, versank lautlos und beinahe augenblicklich. Im nächsten Moment hatte Kristian die Stake ergriffen, mit der er sich sonst von der Felsküste abstieß, und sie in die finstere See gehalten. Aiken krampfte und kniff die Augen zu, nachdem er sicher abgelegt worden war.
Mit der Stake in der Hand betrachtete Kristian den Anleger, denn dort stand Moose, wandte den Kopf von links nach rechts, von rechts nach links, nicht in der Lage, sich zu bewegen.
Als es Abend wurde, entzündete Kristian eine Kerze und an ihr seine Zigarette. Er hatte sich vorgenommen, weniger zu rauchen, brauchte es nach dem Unfallmorgen aber. Versunken schaute er in die tänzelnde Flamme auf dem kleinen Tisch, spielte mit einem Kronkorken. Gerade wollte er das Licht löschen, als ein Schrei erklang. Kristian öffnete die Tür und sah hinaus. Der Schrei stammte von Moose, der auf dem zerklüfteten Untergrund gestürzt war und nun versuchte, sich wieder aufzurichten. Als es misslang, eilte Kristian zu ihm und ließ ihn sich hochziehen. Dabei bemerkte der Pastor Mooses glasigen Blick und den alkoholschweren Atem. Der Betrunkene seufzte, drehte eine einsame Pirouette und sackte wieder in sich zusammen. Kristian hievte ihn auf einen Stein.
„S’ all’s verlor’n“, schnaufte Moose.
„Aber das Kind lebt“, erwiderte Kristian und zwängte sich neben ihn.
„‘nd? Mari’s s’ mein Bruder g’wesen.“ Der Pastor ließ ihn weinen.
„Ich weiß. Wir haben ihn heute verloren. Zumindest das, was nur der Welt gehörte.“
„Wenn i’s s’neller g’wesen wär’.“
„Die Verletzungen waren schwer.“
Schluchzen und Schweigen setzten ein. Moose ließ die Schultern hängen und wiegte sich in einem unhörbaren Takt. Kristian wartete eine Weile, fasste ihn dann unter den Achseln, stemmte ihn hoch und ließ ihn sich einhaken. So kamen sie langsam voran.
„Was wird jetzt aus dem Jungen?“, fragte er nach einer Weile.
Moose machte eine ausladende Bewegung mit dem freien Arm und blickte in den Himmel. Für einen Moment verharrte er so und richtete dann einen leeren Blick auf Kristian.
Mühmes starker Kaffee ließ ihn klarer werden. In der vergangenen Nacht hatte er tastend das Haus durchquert, bis er mit Kristians Hilfe das Kajütenzimmer erreichte.
„Es tut mir sehr leid“, sagte Mühme sanft.
„Er war der Einzige, der noch übrig war. Von unserer Familie, meine ich“, sagte Moose. „Jetzt bin ich ganz allein.“
„Es muss besonders weh tun“, erwog Mühme. Reden war für Moose noch nicht das Wichtigste.
„Wirst du dich um Aiken kümmern?“, fragte sie stattdessen. Moose blickte überrascht auf.
„Ich?“
„Wer denn sonst? Er hat jetzt nur noch dich und mich.“
„Es geht ihm hier doch gut, oder nicht?“ Moose runzelte die Stirn. Das Stechen und Brummen in seinem Kopf schwoll wieder an.
„Ja. Aber ich bin achtundsechzig. Mehr Gleichaltrige als im Dorf täten ihm bestimmt sehr gut.“
„Du hast Erfahrung.“
„Erfahrung ersetzt keine Lebendigkeit“, sagte Mühme milde.
„Was hat das denn mit mir zu tun? Die paar Besuche.“
„Du bist immer noch sein Onkel.“
Ein Lächeln zeigte sich auf Mooses Gesicht.
„Ja. Aber was ist ein Onkel, den du nicht richtig kennen gelernt hast?“
Mühme hatte die Hände gefaltet und in den Schoß gelegt. Einen Moment lang sah sie aus dem Fenster, dann sagte sie langsam:
„‘Jetzt’ ist manchmal ein sehr passender Zeitpunkt.“
Moose rührte in seiner Tasse. Das dünne Porzellan klingelte unter dem Kaffeelöffel. Nach einer Weile räusperte er sich und sagte:
„Irgendetwas kann ich bestimmt für euch tun.“
Mühme verstand.
Die Türangeln quietschten und Aiken erschien im Pyjama. Benommen blickte er an den beiden vorbei, bis Mühme ihn aufhob und an seinen Platz setzte. Er machte keine Anstalten, etwas zu essen oder zu trinken. Abwesend duldete er den Löffel, den Mühme ihm von Zeit zu Zeit in den Mund schob. Die kleinen, zu Fäusten geballten Hände öffnete er nicht.
Moose starrte auf das Wachstuch auf dem Tisch.
Am darauffolgenden Morgen startete er seinen Kutter in Richtung Neufundland und Labrador. In aller Frühe hatte er seine Sachen gepackt, Kaffee für Mühme aufgesetzt und war verschwunden.
„Es kann nicht sein, dass du nicht Schwimmen kannst“, hatte Mühme energisch befunden, als Aiken fünf Jahre alt war. Auf dem Festland gab es einige Seen, die sich zwar kaum erwärmten, dafür aber Niedrigwasser boten. Mit der Fähre setzten sie über und wanderten, bis das Wasser vor ihnen lag wie ein Spiegel. Die Großmutter blies ein paar Schwimmflügel auf, während Aiken skeptisch um sich blickte. In Shorts und Schwimmhilfen machte er ein paar Schritte an Mühmes Hand, blieb aber im knöcheltiefen Wasser stehen. Die Fläche glänzte blau und war bis an den Rand mit Wolken gefüllt.
„Sieh, ist das nicht schön? Es ist nicht gefährlich.“
Aiken zögerte. Zu seinen Füßen konnte er den Grund des Sees erkennen, ein
Wolkenloch, in dem er mit beiden Beinen steckte. Seine Haut brannte und kribbelte, ihm wurde schwindelig. Das Wasser um seine Knöchel schien ihn in die Tiefe zu ziehen, und Aiken wand seine Hand ihn Mühmes, um sich daraus zu befreien. Sie gab nicht nach, drängte ihn jedoch auch nicht, weiterzugehen.
Die Sommer über versuchten sie es. Einmal in der Woche standen sie am Badesee und froren, das Kind wie ein Stock auf dem kargen Untergrund. Manchmal schwamm Mühme hinaus, um ihm die Scheu zu nehmen.
„Wovor hast du Angst?“
Aiken konnte es nicht sagen. Sie füllte ihn bis über den Rand.
Mühme erinnerte sich daran, wie Aiken versucht hatte die Angst zu überwinden. Der Bauch der alten Frau war ein mit niedrigen Bäumen bestandenes Gebiet unweit von Nuuk, in das sie ihn mitgenommen hatte, als sie mit Lehraufgaben an der Uni betraut gewesen war. Mit nackten Füßen hatte Aiken zugelassen, abzusinken in ein noch immer kaltes Wasser, sich mit dem Grund zu verbinden und wieder daraus empor zu stemmen. Ein von Flechten überkrustetes Walskelett war sein Versteck dieser Tage gewesen, obwohl er sichtbar in dem Rippenkäfig gesessen hatte, mit blauschwarzem Schopf und aufgeschürften Knien.
Dahinter erstreckte sich das Moor, in dem die Permafrostböden tauten und absanken, Mulden und kleinere Seen aus stehendem Wasser bildeten, in denen außer einem gelegentlichen Sonnentau keine Vegetation entstand. Es faszinierte ihn, was sein Vater ihm erklärt hatte: Setzte man einen Fisch aus dem Meer in eines dieser Wasserlöcher, musste er sterben. Dass das Eintauchen in sein Element ihn, den Fisch, auch töten konnte, war ihm nicht bewusst gewesen.
Außerhalb der Torfmoore wucherten aus Steinbrech, Hahnenfuß und Weidenröschen gesprenkelte Teppiche in die Niederungen des Sommers, aber der Junge zog die Landschaft aus Tümpeln und trockenen Kuppen vor, in der das Wasser keinerlei Regung bereithielt. Die Birken, die sich in die Kuppen krallten, wuchsen als Strauß mit jeweils mehreren krummen Stämmen, glatter Rinde und zerzaustem Grün. Es waren die ersten Bäume, die Aiken je sah.
„Kletter rein!“, sagte Kristian. Seit Marius’ Beerdigung hatte er ein Auge auf den Jungen. Nun biss dieser sich auf die Zunge und wagte nicht zu widersprechen. Das Ruderboot war schmal. Zitternd streckte Aiken ein Bein nach dem Bootsinneren aus, stieg rücklings ein und setzte sich. Er roch feuchtes Holz und säuerlichen Fisch. Kristian legte sich in die Riemen. Er wird warten, bis Aiken sich irgendwann traute, die Augen aufzumachen.
„Warum willst du, dass ich mitfahre?“, fragte Aiken.
„Wir können reden. Und ich kann dir zeigen, wie man fischt.“
„Warum soll ich das lernen?“
„Weil alle hier Fischen können“, lächelte Kristian und breitete die Arme aus. Die Ruderpinnen knarzten. „Außerdem bist du Insulaner. Und musst was essen“, fügte er scherzhaft hinzu.
Es würde Wochen dauern, bis Aiken die Augen öffnete. Dann saß er steif im Boot, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Kristian ließ ihn eine Angelrute halten, doch sobald ein Fisch biss und zog, begann Aiken zu schreien, schrie und ließ die Rute los, die der Pastor dann von der Wasseroberfläche fischte.
„… aber mit der Zeit verfilzte und verschmutzte ihr prächtiges Haar von all dem Dreck, den die Leute ins Wasser warfen.“
Aiken lag im Bett. Im Schein der kleinen Lampe hatte Mühme ein Buch aufgeschlagen und las daraus vor.
„Da wurde Sedna, die Göttin des Meeres, wütend. Sie fing mit ihren langen, schwarzen Haaren alle Tiere des Meeres ein und hielt sie darin fest.“
„Sind die Tiere in einem Nest aus Filz gewesen?“, fragte Aiken.
„Nun, vielleicht“, antwortete Mühme. „Ich kann es mir gut vorstellen.“
„Es gab nichts mehr zu fangen. Die Inuit hungerten. Da riefen sie in ihrer Not Angakkoq, den Schamanen. Und Angakkoq reiste auf den Grund des Meeres, wo Sedna wohnte, beschwichtigte sie und kämmte ihr Haar.“
„Das hat bestimmt ganz lange gedauert“, sagte Aiken.
„Bestimmt. Aber die Leute hatten großen Hunger, da war es Angakkoq egal, wie lange es dauerte.“
„Er entfernte den Schmutz und warf ihn fort. Da ließ die Göttin des Meeres alle Beutetiere wieder frei, nicht aber ohne das Versprechen, dass die Inuit nicht gierig, verschwenderisch und in Gleichgültigkeit leben und jagen sollen. Der Schamane nahm die Botschaft mit zu den Leuten, und sie versprachen es und bemühen sich seither, ihr Versprechen zu halten.“
„Sedna war bestimmt glücklich, als die Haare wieder sauber waren.“ Nachdenklich sah Aiken Mühme an.
„Ja“, erwiderte sie. „Sie ist die Göttin des Meeres, aber weil sie keine Finger mehr hat, braucht sie Anggakoq.“
Vier Jahre nach dem Unglück hat Mühme bereits Kaffee vorbereitet, um ihren Gast willkommen zu heißen. Sie sitzen in der kleinen Küche und trinken zunächst, bevor Moose zu reden beginnt.
„Hat sich ja nicht viel verändert“, murmelt er verlegen.
„Aiken und ich, wir haben uns verändert“, meint Mühme mit leuchtenden Augen.
„Natürlich“, beeilt sich Moose zu sagen und blickt kurz unter sich. „Seid ihr zurechtgekommen?“
„Großteils ja. Er musste immer überall hin mit, auch ins Klassenzimmer, jeden Tag. Anfangs in einem Laufstall.“
„Das klingt nach einer Herausforderung.“
„Es war eine. Wir sind ganz gut damit umgegangen.“
„‘Du brauchst gar nicht mehr zu kommen’, hat er gesagt“, erwähnt Moose.
„Aiken ist ein Kind. Du kannst ihm nicht übel nehmen, dass er sich damals alleingelassen fühlte.“
„Denkst du etwa, mein Junggesellenleben in Rigolet wäre etwas für ihn gewesen?“, fragt Moose halb scherzhaft. Mühme bleibt ernst.
„Denkst du etwa, es wäre das Gleiche geblieben?“
„Oh, ähm … nein“, sagt Moose langsam.
Für einen Augenblick ist es still. Nur die Uhr auf der Anrichte tickt.
„Und denkst du“, fährt Mühme fort, „es wäre schlimm gewesen?“
Moose sagt eine Weile nichts. Die Fischerei und der Fernseher machen das Leben in Rigolet aus. Ein verlässliches, abgestandenes Zuhause. Er steht auf und klopft leise an die Tür des Kinderzimmers.
„Aiken? Ich bin’s, Moose.“
Als keine Antwort kommt, öffnet er die Tür einen Spaltbreit. Aiken sitzt an einem kleinen Tisch, vor sich die Abbildung eines Kapelans, die er in verschiedenen Farben ausmalt. Feindselig sieht er dem Onkel entgegen.
„Was machst du?“, bringt dieser hervor.
„Ich kann selber Fische fangen“, sagt Aiken ohne Umschweife.
Moose starrt einen Moment lang auf das Papier. Eine Ahnung keimt in ihm.
„Aber du musst das nicht. Gehst du etwa jeden Tag Kapelane fangen? Wo hast du sie?“
Moose hat sich gefangen, aber Aiken schweigt. Während der Sommermonate treibt es die Fische in großen Schwärmen in Untiefen. Manchmal branden sie in dichten Wellen an die Küste, was etliche an Land spült.
„Ich bin hierher gekommen, um euch zu helfen.“
Aiken beißt die Kiefer zusammen.
Der Eimer mit den Kapelanen steht noch immer auf der Veranda. Am nächsten Tag lehnt das Gestänge für ein Trockengestell daneben. Moose hat es einem Einheimischen abgekauft und durch den Ort befördert. Das Gebrauchtholz ist dunkel und voller Riefen, aber es gibt einen passablen Eindruck ab.
Zwei Stangen mit überkreuzten oberen Enden sind auf den Boden gestellt und müssen stabilisiert werden, damit Moose sie binden kann. „Hier, halt mal“, sagt er. Aiken kommt zögerlich näher und legt die Hände unterhalb von Mooses an den Aufbau. Dieser fixiert die Kreuzung und sie wiederholen das Ganze, bis zwei zeltähnliche Gestänge bereit sind, sprossenartig mit Leisten benagelt und dadurch verbunden zu werden. Als das Gestell fertig ist, zeigt Moose auf den kleinen Eimer. „Holst du sie mal? Die brauchen wir jetzt.“
Die Kapelane glänzen in ihrem Behälter.
Neben dem großen Fischermesser fördert Moose ein Kleineres zutage und gibt es Aiken in die Hand. Der sieht den Onkel überrascht an. „Pass gut auf damit“, sagt Moose. „Es ist nicht ungefährlich.“
Vorsichtig nimmt er einen Fisch in die Hand und beugt sich zu dem Kind. Als er den Kopf des ersten Kapelans abtrennt, japst Aiken.
„Der blutet ja gar nicht!“ entfährt es ihm. Gleich darauf verschließt sich seine Miene.
„Mhm, ja“, versucht es Moose, „es ist nicht wie bei anderen Tieren.“
Etwas verlegen wendet er den Fisch in seiner großen Hand, setzt erneut das Messer an und öffnet die Seiten bis zur Schwanzflosse. Sorgsam entfernt er die Innereien und setzt den kleinen Leib wie eine Wäscheklammer auf das Gestell. „Gleich binden wir einen Zweiten dran“, sagt er. „Jetzt du!“
Zitternd führt Aiken das Messer. Als er den Kopf fast abgetrennt hat, rutscht er ab und die Klinge fährt durch die Luft. Scharf zischt der Junge durch die Zähne und sieht Moose schuldbewusst an.
Der bemüht sich um Ruhe.
„Sieh, wenn du es so am Heft fasst, geht es besser.“
Langsam schneidet Aiken den Fisch, drückt ihn mit der flachen Hand platt und öffnet ihn wieder, um die Innereien zu entnehmen. Dann binden sie Beide an den Schwanzflossen zusammen und hängen sie auf das Gestell.
„Die Bedingungen sind nicht optimal“, murmelt Moose. „Ein bisschen kühler könnte es sein.“
Aiken schaut ihn fragend an.
„Wir tragen es ein wenig mehr in den Wind“, sagt Moose und packt an.
Die Mitternachtssonne war am Abend zuvor in tiefen Gelb- und Rottönen bis an den Horizont gesunken und ließ die Farben nun im erneuten Aufgehen wieder verblassen. Neben den Kapelanen kann man zu dieser Jahreszeit Saiblinge vom Ufer aus fangen. Im seichten Wasser wenige Meter vom Festland entfernt, waberte ein leuchtend orangefarbener Köder unter den Spiegelungen. Die Stelle in der Mündung ist mit Bedacht gewählt, ohne Wathose erreichbar und am frühen Morgen beinahe ein Garant für Fang. Moose trägt die Wathose, Aiken hat sich geweigert. Mürrisch kauert das Kind am Ufer, die Arme um die Knie geschlungen, und sieht zu, wie Moose Streamer präpariert. Eine Kunstfliege imitiert einen kleinen Fisch, eine andere ist bunt und fedrig.
„Gib mir bitte mal die Zehner!“, wendet sich Moose an Aiken und schaut ihn überrascht an, als dieser ihm die richtige Schnur herüberreicht.
„Hast du denn schon mal geangelt?“
Aiken wendet ihm den Kopf zu, meidet aber seinen Blick.
„Mit wem, mit Mühme?“, fragt Moose etwas ungläubig.
„Oma angelt nicht“, erwidert das Kind leise.
„Und es nimmt dich einfach jemand mit?“
„Ja“, flüstert Aiken, dann schweigt er.
Moose blickt ihn nachdenklich an und reicht ihm dann eine präparierte Rute, mit der er ihm zeigt, wie man die Schnur wirft und danach den Köder richtig führt. Man darf mit dem Wurf nicht gleich ins tiefere Wasser vordringen, um die Fische nicht zu vertreiben. In den Sommermonaten gibt es diese Fanggründe, in denen die Saiblinge nach Insekten an der Wasseroberfläche schnappen, bevor sie im Herbst flussaufwärts ziehen.
„Wie findest du’s?“ versucht es Moose nach einiger Zeit noch einmal und knufft Aiken in die Seite. Der versteift sich. „Ganz okay.“
„Nicht mal am Ufer richtig toll?“, neckt er.
„Nein“, antwortet Aiken und zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht beim nächsten Mal.“
„Ja, vielleicht.“
Moose weiß, dass Aiken Wasser meidet. Der Junge hält aus, bis sie dreizehn Saiblinge gefangen haben.
Es ist nicht seine Aufgabe, denkt er, als sie ins Dorf zurückkehren, aber er weiß, dass es nicht nur um Fisch geht.
Als sie die alte Kirche passieren, die als Jugendraum eingerichtet ist, öffnet sich deren Tür und Kristian erscheint. Die beiden Männer stehen sich schweigend eine Weile gegenüber, die Eimer mit Saiblingen zwischen ihnen.
„Du bist wieder hier“, lässt Kristian schließlich die Stille enden. „Damit haben wir wirklich nicht gerechnet.“
„Ich werde mich beim nächsten Mal bei dir anmelden“, lässt Moose ihn zähneknirschend wissen.
„Das wäre gar nicht so verkehrt“, lächelt Kristian und streicht Aiken über den Kopf.
Moose strafft sich und sieht Kristian ins Gesicht. „Die Dinge haben sich geändert.“
„Ach? Willst du eine Weile bleiben?“, wendet sich Kristian wieder an Moose.
„Für den Sommer. Wir legen Vorräte an. Bald geht es nach Sisimiut. Und wir fangen Fische.“ Er zeigt auf die Eimer. Kristian macht ein überraschtes Gesicht.
„Fangt Fische? Ich dachte, auf dem offenen Meer wäre nichts zu machen?“
„Es sind Saiblinge vom Ufer. Hat eine gute Weile gedauert, bis wir sie gefangen hatten“, gibt Moose freimütig zu.
Von den Versuchen des Kindes, allein vorzusorgen erzählt er nichts.
Sie sind auf dem Weg nach Sisimiut, um Vorräte einzukaufen. Mit dem selbst gefangenen Fisch kommt man nicht weit.
Sie gleiten durch das Eismeer, als plötzlich in unmittelbarer Nähe ein Narwal die Wasseroberfläche durchstößt. Es ist ein Bulle, dessen Zahn sich schäumend in den Himmel schraubt. Wenn das Tier auch nicht sonderlich mächtig ist, weiß Moose um die Gefahr, dass es im Schleppnetz verfangen ernsten Schaden anrichten kann.
„Runter“, schreit Moose. „Aiken, runter! Und bleib liegen!“
Aiken stürzt an die Reling, umklammert sie, bis seine Fingerknöchel taub sind, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Entsetzt über den jähen Seegang und das sich Neigen des Kutters. Eimer und Taue rutschen über Deck. Nur wenige Meter trennen die „Ammassat“ von dem sich aufbäumenden Leib, so dass der Junge den knotigen Rückenkamm erkennen kann. Ein Geflecht aus Narben überzieht die glänzende Haut des Tieres.
Es sinkt so schnell, wie es aufgestiegen ist, um wenig später seinen Bauch zu präsentieren. Eine speckige, einsame Küste. Das Tier scheint gegen die Gewohnheiten seiner Art allein zu sein.
Aiken rührt sich immer noch nicht. Finger für Finger entklaubt Moose der Reling, setzt das Kind in eine Taurolle. Packt es bei den Schultern.
„Es ist wichtig, dass du an Bord das tust, was ich dir sage!“
„Ich hab es nicht mit Absicht gemacht!“
„Ich weiß. Es ist trotzdem gefährlich, einfach stehen zu bleiben.“
Aiken zittert und keucht, streicht sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht und ballt die Hände.
„Und was machen wir jetzt?“, fragt er.
„Wir werden ihn nicht erlegen“, antwortetet Moose.
Eine Weile bleibt er bei Aiken sitzen, hält seine Hände. Der Junge lässt es geschehen.
Aiken ist noch nicht oft in Sisimiut gewesen. Der Großmarkt trägt seinen Namen zu Recht. Nie zuvor hat Aiken höher gestapelte Waren, größere Mengen gleicher Etiketten auf Konservendosen und Kartons, mehr Gabelstapler gesehen. Türme bereits vorbereiteter Lebensmittel werden in Säcken und Packen verräumt. Mit großen Augen wandert er durch die Warenschluchten, bis er bemerkt, dass Moose stehen geblieben ist und sich mit einem Mann in Arbeitsoverall unterhält.
„Wie gesagt, wir können das jetzt machen“, hörte er ihn zu Moose sagen, „es ist nicht der einzige Fall dieser Tage. Aus den angebrochenen Packen können wir Sachen nehmen, Neue öffnen wir aber nicht.“
Aiken verseht, dass der Markt nicht einfach ein großer Laden war, in dem jeder einkaufen konnte. Zusammen mit Moose begutachtet er Säcke mit Reis, Nudeln, haltbar gemachtes Obst und Gemüse vom Kontinent, Fischkonserven mit Heilbutt, Seewolf, Kabeljau sowie Mehl, Gewürze und Saucen. Eingedostes Fleisch, Schokolade und Salzgebäck. Als die fertige Ladung mit Hilfe einiger Männer im Kutter verstaut ist, staunt Aiken, dass Moose das alles bezahlen kann.
„Warum hast du ihn damals eigentlich nicht gleich mitgenommen?“, fragt Kristian.
„Machst du Witze? Weil ich Vollzeit arbeiten musste?“
„Mühme auch.“
„Das ist doch was anderes!“, schnaubt Moose.
„So?“
Sie sind einander im Dorf begegnet, auf einer Aschebahn nahe der Kirche. Moose ist auf dem Weg zu einem Fußballspiel, zu dem ihn die Einheimischen eingeladen haben. Es ist eine Abwechslung, auf die er sich sehr freut.
„Wenn man keine Kinder hat, ist das nicht so einfach. Das müsstest du eigentlich wissen.“
„Das weiß ich.“ Kristian seufzt. „Aber er ist mit mir Angeln gewesen. Viele Male. Kommt in den Jugendraum, spielt Fußball. Er redet mit mir.“
Das ist es also, denkt Moose.
Im Laden am Fußballfeld gibt es Mattak. Moose hat lange keinen mehr gegessen und reiht sich in die Schlange ein. Das Wasser läuft ihm im Mund zusammen als er sieht, wie der Speck mit Haut und Knorpel zu Quadern geschnitten und in Wachspapier eingewickelt wird.
Zu Hause legt er die Portion auf die Küchenanrichte und zerteilt den grau-rosa Block in Würfel. Mühme und Aiken sehen vom Tisch aus zu.
„Seinem ersten Wal standgehalten hat er“, schmunzelt Moose und hält Aiken feierlich den Teller mit dem Walspeck hin. Der nimmt ein Stück, steckt es in den Mund und spürt dem nach. Die Haut ist gummiartig, schwer zu kauen, der Knorpel auf der Zunge glatt wie ein ausgefallener Zahn. Weich sieht das Fett aus und beißt sich kernig, schmeckt nussig und ölig.
Schweigend essen alle drei für eine Weile, reichen das Aromat herum und kauen gedankenversunken.
„War es ein Narwal?“, fragt Mühme schließlich.
Aiken nickt.
„Die Biester können einen ganz schön erschrecken“, meint Moose.
„Hattest du keine Angst?“, traut Aiken sich zu fragen.
„Nein. Das heißt, ein bisschen. Man gewöhnt sich an sie.“
„Wirklich?“
„Ja. Nach einiger Zeit.“
Der Bauch der alten Frau liegt verlassen wie einst. Moose blickt sich um und kann nichts finden, was seinem Blick Halt bietet, bis er schließlich das Walskelett entdeckt. Noch dichter wuchern jetzt die Flechten und lassen es blühend erscheinen. Aiken kriecht hinein und sieht sich um. Moospolster bedecken den Grund, durchweichen Knie und Schienbeine seiner Jeans. Er umfasst zwei Rippenbögen und sieht hinaus.
Draußen stampft Moose hier und da auf, stochert mit der Fußspitze im Grund und betrachtet die Gegend. Dann lehnt er sich an das Skelett und sieht zu Aiken hinab.
„Was machen wir hier?“, will er wissen.
„Poolspringen.“ Der Junge grinst.
„Und wie geht das?“
„Ich weiß es nicht. Zu zweit habe ich es ja noch nie gespielt.“
Moose kratzt sich am Kinn. „Verstehe.“
„Es gibt mehr Pools als früher.“
In den Mulden zwischen moosbewachsenen Höckern steht schwarz das Wasser. Aiken tritt prüfend heran und taucht einen Finger hinein.
„Okay“, sagt er. „Wie früher. Ein bisschen wärmer.“
Er zieht Schuhe und Strümpfe aus und bedeutet Moose, das Gleiche zu tun.
„Du musst aus einem Pool so nah wie möglich an den nächsten heran springen. Jeder Fuß Abstand bringt fünf Miese.“ Aiken kneift die Lippen zusammen und visiert einen naheliegenden Pool an.
„Warte!“, sagt Moose, „meine Beine sind viel länger als deine.“
„So ist es also“, erwidert Aiken. „Spielen wir.“
Am Ende des Sommers geht Aiken in der Wathose bis zu den Knien ins Wasser. Mühme betrachtet es mit Befriedigung. Die Kammer in ihrem Haus ist mit Lebensmitteln gefüllt. Sie haben Fisch getrocknet, gesalzen, geräuchert, eingefroren.
Am Morgen seines Aufbruchs setzt sich Moose ein wenig nervös zu Aiken auf die Veranda.
„Hat ja ganz gut geklappt“, sagt er und lächelt. „Jetzt weißt du, wie man Kapelane trocknet.“
Aiken drückt kurz Mooses Hand. „Kommst du mal wieder?“
„Wenn die Polarnacht am schlimmsten ist“, sagt Moose.