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Abrakadabra
In unserer Klasse gab es einen Geist.
Keinen, der uns Angst einjagte, keinen, dessen Name wir flüsterten. Während des Unterrichts kauerte er nicht hinter der Tafel oder scharrte unter unseren Tischen. Diese Art Geist war er nicht.
Magnus war ein Geist, weil er grau durchs Leben schlich. Auf Klassenfotos stand er stets am Rand, kniff die Lippen zusammen und sah aus wie eine Erscheinung, die uns alljährlich heimsuchte. Er war ein Geist, weil er weder He-Man kannte noch Fussball spielte.
Wir erinnern uns nicht, wie wir ihn die ersten Jahre nannten, wenn wir sein Mäppchen vom Tisch fegten oder sein Essen in den Dreck warfen. Wir standen um ihn herum und lachten, als Magnus sein Frühstück vom Boden klaubte, an der Hose abwischte und aß. Wir fragten, ob er arm sei, aber an seine Antwort erinnern wir uns nicht.
In der dritten Klasse tauften wir ihn. An jenem Tag durften wir Haustiere in die Schule mitbringen. Beinahe jeder hatte eins – nicht weil unsere Eltern ein schlechtes Gewissen gehabt hätten, nein, Besuchsrechte und Tagesmütter kannten wir nicht. Haustiere gehörten zum guten Ton, wie Geranien oder der Zweitwagen. So kam es, dass wir an jenem Tag unsere Lieblinge in Käfigen und Schuhkartons anschleppten und das Klassenzimmer in einen Zoo verwandelten. Überall fiepte, zwitscherte, scharrte und miaute es, dazwischen erklangen unsere Rufe und das Getrappel, wenn wir von Platz zu Platz rannten und die Tiere der anderen bestaunten. Jeder durfte seinen Hansi oder seine Trixi vor der Klasse vorführen, und natürlich wollte jeder die anderen mit einer tollen Geschichte übertreffen.
Wir streichelten Hamster, steckten unsere Finger in die Käfige von Wellensittichen und spielten mit Kaninchen. Elke zeigte ein junges Kätzchen und hätte damit vermutlich die meiste Aufmerksamkeit bekommen, doch sie weigerte sich, es aus der Box zu holen. In einem Schuhkarton hielt Thomas das exotischste Tier gefangen – eine Rotwangen-Schildkröte. Obwohl – oder gerade weil – sie ihren Kopf kaum hervorstreckte, standen wir um den Karton herum und stupsten den Panzer von allen Seiten an. Thomas wurde rot, als wir ihn auslachten, weil er die Schildkröte ebenfalls Thomas nannte.
Keiner von uns beachtete Magnus, vermutlich, weil er die ganze Zeit unsichtbar auf seinem Platz saß. Benjamins Mutter, die uns ein Jahr später ins Schullandheim begleitete, hat einmal gesagt, dass Magnus niemals auffällt – weil er der einzige Junge ist, der geräuschlos auf- und untertaucht, wie ein Fisch. Wir lachten, als sie das sagte, obwohl sie besorgt aussah.
Es war Kai, der an jenem Haustiertag den Zeigefinger ausstreckte. „Was hast du da drin?“, rief er quer durchs Klassenzimmer. Unsere Blicke folgten dem Finger und landeten bei Magnus. Auf dessen Tisch stand ein Gegenstand, der ihm bis zur Brust reichte und von einer Stofftasche umschlossen war.
„Ist da ein Tier drin?“, fragte jemand, und es wurde still. Magnus rutschte auf dem Stuhl herum, als müsse er auf die Toilette. Schließlich nahm er den Gegenstand aus der Tasche, ein Einmachglas, eines von den großen mit dickem Bauch, randvoll mit Wasser. Darin schwamm ein einzelner Goldfisch.
Begeistert stürzten wir auf Magnus, klopften gegen das Glas und bewunderten den Fisch, der schwerelos im Wasser trieb. Wir wissen nicht, woher diese Faszination kam – es war der einzige Fisch an dem Tag, vielleicht spielte das eine Rolle. Vielleicht waren wir auch überrascht, weil wir an Magnus plötzlich etwas Vertrautes entdeckten. Als er eine Dose Trockenfutter hervorholte, warf jeder etwas ins Glas, bis auf Magnus selbst. Stattdessen saß er mit verschränkten Armen da, schaute uns beim Füttern zu und lächelte. Zumindest glauben wir das heute.
Sein Gesicht bröckelte, als unsere Lehrerin an den Platz kam. „Kein Futter, das haben wir doch beschlossen. Hört auf, den Fisch zu füttern und schaut lieber, dass die Katze nicht in die Nähe kommt, sonst ist der Fisch weg.“
Alle lachten. Auf schummrige Art verstanden wir, dass sich der Fisch und Magnus ähnelten – beide standen am Beginn der Nahrungskette. Unsere Sympathie für sie verschwand, und mit verkniffenem Gesicht stülpte Magnus die Stofftasche über das Glas. Wir schwärmten in alle Richtungen davon, vergaßen den Fisch, vergaßen Magnus und hätten auch diesen Tag vergessen, wäre da nicht der Schrei gewesen.
Es geschah kurz vor Schluss. Der Schrei fuhr durch unsere Körper, klang wie der eines Tieres. Erst einen Augenblick später sahen wir, dass Magnus schrie. Er hielt das Einmachglas vor seinen Körper; die aufgewirbelten Futterreste verwandelten es in eine Schneekugel, in der es einsam schneite, denn der Goldfisch war verschwunden.
„Wo ist mein Fisch?“, brüllte Magnus mit zitternden Lippen. „Wo ist er?“ Er begann zu weinen. Es war das einzige Mal, dass wir Magnus weinen sahen. Selbst wenn wir ihn auf dem Nachhauseweg in ein Gebüsch schubsten, hielt er die Tränen zurück.
„Hat ihn die Katze gefressen?“, fragte jemand, und wir wandten uns an die einzige Person im Raum, der wir zutrauten, dieses Chaos zu lösen: unsere Lehrerin.
„Hast du die Tasche mit auf die Toilette genommen?“, fragte Frau Schrank.
Magnus nickte, weil er zwischen den Schluchzern kaum sprechen konnte. Schleim troff aus seiner Nase. „Aber – nur damit ihn die Katze nicht –“
„Hast du den Fisch in die Toilette geworfen?“
Jemand lachte. Ein anderer flüsterte: „Er hat den Fisch das Klo runtergespült.“ Dann lachten alle.
Magnus schüttelte den Kopf. „Nein. Da war er – da war er – noch da.“
„Bist du sicher?“, wollte Frau Schrank wissen. Ihr Tonfall nahm die Antwort vorweg und uns jeden Zweifel. Magnus hatte seinen eigenen Fisch entsorgt, und weil er noch minutenlang nach seinem Fisch schrie, gaben wir ihm an diesem Tag den Namen, der ihn die nächsten Jahre begleitete: Fisch.
Niemand weiß, wie er zur Zauberei kam.
Selbstverständlich kann man darin eine hochtrabende Symbolik sehen und behaupten, er sei aus der Traurigkeit in die Welt der Illusion geflüchtet. Oder man sagt, Harry Houdini sei deshalb sein Vorbild geworden, weil sich Magnus von den gesellschaftlichen Fesseln habe befreien wollen. Es gab Zeiten, da dachten wir so – vermutlich, um dem Geschehenen einen Schliff zu verpassen, den es in Wirklichkeit nicht besaß.
In der achten Klasse mussten wir Goethes Zauberlehrling auswendig lernen. Zu Beginn jeder Stunde rief Herr Haag drei Schüler auf, die einzeln an sein Pult treten und die Ballade vor der Klasse aufsagen mussten. An einem Wintermorgen, draußen war es noch dunkel, war Magnus an der Reihe.
Vor einer Gruppe konnte er nicht sprechen. Seine Nervosität rochen wir bis in die hintersten Plätze, sahen das Zucken der Oberschenkel und die zittrigen Hände. Wir liebten diesen Augenblick, weil Magnus ihn hasste.
„Fisch, Fisch“, flüsterten wir und „blubb, blubb“, so laut, dass jeder es hören konnte.
Der Haag räusperte sich, und Magnus begann. „Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben und nun -“
„Halt“, unterbrach ihn der Haag. „Wie beginnt eine Ballade?“
Überall sonst hätte Magnus die Antwort gewusst, doch vor der Klasse machte er den Mund auf und zu, ohne dass ein Ton entwich.
„Titel und Autor“, sagte der Haag. „Sprich langsamer. Und achte auf die Betonung.“
Magnus begann erneut. „Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang Goethe.“
„Von Goethe.“
„Der Zauberlehrling, von Goethe.“
„Johann Wolfgang von Goethe.“
Es war herrlich. Wir gaben uns keine Mühe, leise zu sein, und weil unser Lachen die Unsicherheit von Magnus steigerte, lachten wir lauter. Er wirkte verloren, als wolle er im Boden verschwinden.
Während Magnus die Ballade entlanghaspelte, machten wir Furzgeräusche. Es war üblich, dem Schüler am Ende zu applaudieren. Als Magnus durch war, klatschten nur ein paar Mädchen. Die anderen machten „blubb, blubb“, und der Haag tat nichts weiter, als den Kopf zu schütteln.
Wir dachten, der Auftritt sei vorbei, bis wir merkten, dass Magnus nicht auf seinen Platz zurückging. „Ich kann euch einen echten Zauber zeigen“, sagte er. „Wollt ihr ihn sehen? Es dauert nicht lang.“
Der Augenblick ähnelte jenem fünf Jahre zuvor, als wir die Stofftasche mit dem Goldfischglas auf seinem Tisch gesehen hatten: Magnus überraschte uns. Und wie damals kehrte angespannte Stille ein, als müssten wir innehalten und uns fragen, wer dieser Junge war.
„Dürfen wir den Trick sehen, Herr Haag?“, fragte eines der Mädchen, vielleicht Ulrike. Auch andere Mädchen quengelten, ebenso der eine oder andere Junge, und der Haag sagte: „In Ordnung. Drei Minuten.“
Magnus nickte. Nie zuvor hatten wir ihn zaubern gesehen, aber wir erkannten sofort, wie gut er war. Er verwandelte sich, tauchte in eine Rolle ein, stülpte sie über wie ein Kostüm. Die Nervosität verfloss, das Zittern erstarb. Der graue Junge verschwand vor unseren Augen und wurde durch einen routinierten Unterhalter ersetzt. Plötzlich strahlte er die Souveränität eines Menschen mit jahrelanger Erfahrung aus, obwohl das – wie uns Sabine später erzählte – sein erster Auftritt war.
„Das Ziel eines jeden Magiers ist“, begann er, „sein Publikum zu verblüffen.“ Er griff in die Hosentasche und zog einen 20-Mark-Schein hervor, strich ihn glatt, hielt ihn vor das Gesicht, drehte ihn. „Ein normaler Geldschein, wie ihn jeder kennt. Und jetzt seht genau hin.“
Er knüllte den Schein zu einem Papierball zusammen.
Einige lachten, andere murmelten. Selbst der Haag wirkte interessiert.
„Keine Sorge, den kann man noch verwenden“, sagte Magnus, als hätte sich einer von uns um sein Geld gesorgt. Wir waren zu überrascht für einen Kommentar; wäre es Magnus um unsere Verblüffung gegangen, hätte er die Vorstellung an dieser Stelle abbrechen können.
„Und jetzt –“, fuhr Magnus fort, doch anstatt den Satz zu beenden, nahm er die Hände von der zerknüllten Kugel – und ließ sie schweben. Seine Augen waren auf den Geldschein geheftet, als würde er ihn mit seinem Blick festhalten – wenn Magnus in diesem Moment in unsere Gesichter geschaut hätte, was hätte er gesehen? Erstaunen? Verwirrung? Bewunderung?
„Wie macht er das?“, flüsterten einige, während Magnus die Hände kugelförmig um den Geldschein bewegte. Der Schein drehte sich und blieb scheinbar schwerelos in der Luft hängen.
„Bis jetzt ist es ein einfacher Trick, der niemanden verblüfft“, sagte Magnus, ohne die Augen von dem Schein zu nehmen. „Aber jeder Zauber braucht ein Überraschungsmoment.“
Wir fanden unsere Sprache wieder, vielleicht, weil Magnus von einem Trick gesprochen hatte, und wir riefen: „Fisch, wir sehen die Schnur“, obwohl keiner von uns etwas sah.
„Ach ja?“ Magnus richtete den Blick direkt auf uns. „Was seht ihr denn?“
Was dann geschah, machte diese erste Vorstellung von Magnus unvergesslich: Er zog die Hände zurück und trat drei Schritte nach hinten. Der Geldschein schwebte weiterhin an derselben Stelle, und nicht nur das, er drehte sich noch. Magnus verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte.
In diesem Moment fiel der Schein zu Boden. In der Klasse war es so still, dass wir den Aufschlag hörten.
Was wir an diesem Tag sahen, war mehr als Zauberei, es war Magie. Obwohl wir uns seitdem viel mit den Illusionen der Großen beschäftigt haben, können wir sagen, dass wir einen der fantastischsten Zaubertricks unseres Lebens vorgeführt bekamen. Übertroffen nur von der Vorstellung fünf Jahre später, der Vorstellung am letzten Abend.
In den folgenden Wochen sahen wir eine Menge Hokuspokus.
Jeweils in den Pausen versammelte sich eine Gruppe von Schülern um Magnus und beobachtete, wie er Münzen verschwinden und auftauchen ließ, Karten erriet oder Ringe ineinander verhakelte und löste. Das waren keine besonderen Tricks, besonders war, dass Magnus sie aufführte – jener Junge, der in den Pausen stets allein über den Hof geschlurft war. Irgendwann kamen sogar Schüler aus den Parallelklassen vorbei.
Selbst wir standen manchmal um ihn herum, pöbelten dazwischen und versuchten, ihn aus dem Konzept zu bringen. Wir behaupteten, die Tricks zu kennen, aber wir durchschauten keinen einzigen. Und Magnus ließ sich nie beirren – wenn er zauberte, schien er zu reifen, aus dem Fisch wurde ein Mann mit fester Stimme und ruhigen Händen. Diese Verwandlung war erstaunlich, sie faszinierte auf eine Art, die schwer zu benennen war – es war sein größter Trick, und den zauberte Magnus an sich selbst. Wir glauben, viele rannten nur deshalb in jeder Pause an seinen Platz, auch wenn sie das womöglich nicht wussten. Oft riefen sie nach dem schwebenden Geldschein, aber Magnus schüttelte den Kopf und erklärte, ein guter Künstler wiederhole keinen Zauber.
Als der Winter in das Frühjahr überging, schrumpfte Magnus' Publikum wie die Schneehaufen im Schulhof. Das Interesse schwand, wie immer, wenn das Besondere gewöhnlich wird. Wir können bloß erahnen, wie das an Magnus genagt haben musste. Das Ausmaß seiner Verzweiflung wurde greifbar, als er sich zu einer Aktion hinreißen ließ, die in einem Debakel enden musste: Er lud die komplette Stufe zu seinem Geburtstag ein.
In der zweiten Klasse wurden wir zum ersten Mal von ihm eingeladen, zu einer Zeit, als man noch Reise nach Jerusalem und Hänschen piep einmal spielte und am Ende ein Päckchen Süßigkeiten mit nach Hause bekam. Normalerweise freuten sich unsere Mütter über Einladungen und gingen nachmittags mit uns Geschenke kaufen, doch als sie die Karte von Magnus sahen, runzelten sie die Stirn und begannen, miteinander zu telefonieren. Sie wollten wissen, wer der Junge war, wo er wohnte und was er für Eltern hatte, und jede musste ein Detail gewusst haben, denn am Ende ergab sich ein vollständiges Bild: Die Mutter von Magnus verließ selten die Wohnung, war aber schon beobachtet worden, wie sie im Morgenmantel den Müll rausbrachte. Der Vater kam oft spätabends nach Hause, entweder, weil er einer zwielichtigen Arbeit nachging oder gerne gurgelte – in dem Punkt waren unsere Mütter sich uneins und vermuteten am Ende beides. Wir verstanden das nicht. Es klang gruselig, und selbst wenn uns erlaubt worden wäre, zu dem Geburtstag zu gehen, hätten wir uns nicht getraut.
In den folgenden Jahren dachten wir nicht einmal an seinen Geburtstag, bis wir in der achten Klasse eines Morgens einen Zettel in die Hand gedrückt bekamen. Magnus feiert Geburtstag, stand darauf und bringt alle mit, die ihr kennt. Natürlich nicht zu ihm nach Hause, sondern in einen gemieteten Gemeinderaum. Spätestens der Zusatz inklusive Zaubervorstellung klang nach einem schlechten Scherz, nach Kindergeburtstag. Aber wir waren keine Kinder mehr, auf unseren Feiern gab es Bier anstelle von Mohrenköpfen, statt Topfschlagen wurde das Licht gedimmt und Stehblues getanzt. Und Magnus hatte ernsthaft vor, Kartentricks aufzuführen.
Er verteilte die Zettel in allen Parallelklassen, und nur wenige hatten den Anstand, ihm direkt ins Gesicht zu lachen. Viele nahmen die Einladung entgegen und warfen sie in den Müll, als Magnus nicht hinschaute. Und natürlich gab es die Gemeinen, zu denen wir zählten. Wir heuchelten Interesse und beschlossen, hinzugehen, aus Schadenfreude, aus demselben Grund, aus dem man stehenbleibt, wenn einer vom Dach eines Hochhauses springen will. Es gibt wenige Dinge, die faszinierender sind als der tiefe Fall eines anderen Menschen.
Wir fuhren mit den Rädern zum Gemeindehaus, das muss gegen einundzwanzig Uhr gewesen sein. Sogar an ein Geschenk hatten wir gedacht, in der Größe eines Schuhkartons, lieblos verpackt. Wir hatten damit gerechnet, auf ein Trauerspiel zu treffen, aber als wir in den Gemeinderaum trampelten, wurden unsere Erwartungen übertroffen: Magnus hatte etwa siebzig Jugendliche eingeladen, gekommen waren bis zu diesem Zeitpunkt zwei. Eine davon war seine Schwester, eine pummelige Fünfzehnjährige, die wir noch nie gesehen hatten, der andere Gast war Sabine.
Wir grölten, hauten Magnus kumpelhaft auf die Schulter und fragten, ob die große Show schon vorbei sei und er sein Publikum weggezaubert habe. Nein, er vermute, die meisten kommen später – er scheiterte beim Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen, was uns belustigte. Wir drückten ihm unser Geschenk in die Hand. „Mach es schnell auf“, sagten wir, „und sei vorsichtig, hoffentlich lebt es noch.“
Er machte ein blödes Gesicht und fummelte an dem Papier herum. Als er es entfernt hatte, kam eine Schachtel zum Vorschein. Er öffnete sie.
„Vorsicht, Fisch, nicht fallen lassen.“
Er zog die Augenbrauen zusammen und nahm das mit Wasser gefüllte Einmachglas heraus. Wir spielten die Überraschten. „Mann, Fisch, wir schwören dir, da war ein Goldfisch drin. Ehrlich, Mann, der muss einfach verschwunden sein.“ Unser Lachen schallte durch den Saal.
Vielleicht war es dieser Hall, den es in einem gefüllten Raum nie gegeben hätte, vielleicht waren es die Getränkekisten, die an der Seite gestapelt waren und unberührt bleiben würden, vielleicht auch die glasigen Augen von Magnus, als er sich wegdrehte – wir spürten, wie der Spaß zurückwich und etwas wie Mitgefühl in uns dämmerte. Da stand er, ein naiver Junge, der wieder einmal auf die harte Tour lernen musste, wo sein Platz im sozialen Gefüge war. Der versucht hatte, sich zu erheben, und einmal mehr verloren hatte. Wir würgten dieses Gefühl ab, indem wir uns verabschiedeten.
Als wir gerade auf unsere Räder stiegen, kam Sabine angerannt, allein.
„Sagt mal, wie blöd seid ihr eigentlich? Könnt ihr Magnus nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Er hat uns doch eingeladen“, antworteten wir. „Ist selber schuld, dass keiner kommt.“
„Die letzten Wochen ist er richtig aufgeblüht, habt ihr das nicht bemerkt? Er dachte, dass die Leute kommen, die seine Tricks mögen.“
Sabine kapierte es nicht, sie verwechselte Aufmerksamkeit mit Sympathie. Magnus war ein Äffchen, das Kunststücke machte, und ein paar Mitschüler – inzwischen verschwindend wenige – warfen ihm Erdnüsse in Form von Interesse vor die Füße. Solange es hampelt, lacht man über das Äffchen, aber sobald man sich wegdreht, vergisst man seinen Tanz, und spätestens dann will keiner mehr den Affen sehen. Wir erklärten ihr das, soweit wir es damals verstanden.
„Er arbeitet an neuen Tricks. Er wird besser. Er arbeitet an Tricks, die noch nie jemand aufgeführt hat.“
Wir verschwanden im Dunkel der Nacht, ohne auf ihre Worte zu hören. Von diesem Tag an zauberte Magnus nicht mehr. Erst fünf Jahre später, am Abend unseres Abiballs, bat er zum nächsten Tanz.
Um ein Haar hätte dieser Auftritt nie stattgefunden.
Wir haben das Abendprogramm aufgehoben, sauber gefaltet, mit einem Gruppenfoto aller Abiturienten vorne drauf, doch die Vorstellung von Magnus sucht man darin vergeblich. Bis zwei Stunden vor Beginn wusste nicht einmal Ulrike Bescheid. Sie erfuhr es in der Cafeteria direkt neben der Aula, wo der Abend stattfinden würde. Wir lungerten ebenfalls dort herum, einigermaßen nüchtern.
„Er will was?“, rief Ulrike. Sie liebte das Organisieren großer Anlässe, war Stufensprecherin und Vorsitzende der verantwortlichen Gruppe für den Abiball. Das alles schützte sie nicht vor der nervösen Hektik, die kurz vor Beginn jeden packt, der einen Anlass für über zweihundert Menschen geplant hat. Insbesondere, wenn jemand kommt und eine Programmänderung verlangt.
„Es wird nicht lange dauern“, sagte Sabine. „Eine Viertelstunde. Vielleicht weniger.“
„Unmöglich. Das Programm steht“, sagte Ulrike und fächerte sich mit ebendiesem Luft zu.
„Komm schon. Auf die paar Minuten kommts nicht an.“
„Warum hat er das nicht früher gesagt? Und wo ist er überhaupt?“ Magnus war nirgends zu sehen.
„Er übt den Trick. Es ist bloß einer. Aber der lohnt sich, versprochen. So etwas“ – hier zögerte Sabine einen Moment, ihr Blick geisterte durch den Raum – „bekommt man sonst nur in Las Vegas zu sehen.“
„Was ist das für ein Trick?“, fragte jemand.
„Wird nicht verraten. Lasst euch überraschen.“
„Und du machst da mit?“ Das kam von Ulrike, die inzwischen das Programm durchblätterte, auf der Suche nach einer Lücke, die es nicht gab.
„Ich assistiere ihm. Ihr werdet begeistert sein. Er wird den Saal rocken, das wird spektakulärer als der Geldschein. Die Leute werden sich noch jahrelang daran erinnern.“
„Es gibt keinen freien Platz“, sagte Ulrike und schüttelte den Kopf. „Der Abend ist voll.“
„Hey Sabine“, riefen wir. „Wer sagt, dass Magnus keine Pumpgun aus einem Hut zaubert und ins Publikum ballert? Das wäre spektakulär.“ Zwar hatten die Sticheleien gegen Magnus nachgelassen, aber jeder ignorierte ihn. Seine Noten waren in den letzten beiden Jahren in den Keller gerauscht, vielleicht, weil das Gefühl, nie beachtet zu werden, verletzender sein konnte als alles andere.
„Blödmänner“, antwortete Sabine, dann, zu Ulrike: „Da ist eine Pause von halb zehn bis viertel elf. Kein Mensch braucht eine Dreiviertelstunde, um ein Bier zu kaufen und aufs Klo zu gehen.“
„Also“, sagte Benjamin, ein Junge, der nicht zu unserer Clique gehörte, „vielleicht kommt er mit einer großen Guillotine und zerhackt eine Wassermelone. Als nächstes bittet er einen Freiwilligen aus dem Publikum, sich drunter zu legen. Natürlich ist es eine umgebaute Guillotine. Sie hat einen kleinen Schalter. Wenn man den betätigt, schadet einem das Beil nicht. Ich hab das neulich in einer Columbo-Folge gesehen. Wer weiß – vielleicht drückt Magnus den Schalter nicht? Wäre auch spektakulär, oder? Ich würd mich nicht drunter legen, wenn er eine Guillotine auf die Bühne rollt.“
Wir würden uns auch nicht drunter legen, soviel stand fest.
Ulrike war einverstanden. Magnus bekam einen Platz um halb zehn, vor der Pause, aber Sabine musste versprechen, dass es nicht länger als zehn Minuten dauern und der Saal toben würde. Und so kam es, dass die Vorstellung nirgends offiziell erwähnt wurde.
Um kurz vor halb zehn wurde ein Video gezeigt, in dem Lehrer veräppelt wurden, gefilmt mit versteckter Kamera. Die Gags waren mau, die Zuschauer euphorisch, wie immer, wenn sie sich selbst feiern – an diesem Abend für ihre klugen Sprösslinge. Im hitzigen Saal waberte die Luft und roch nach Alkohol, wir saßen zusammengedrängt auf Bierbänken. Magnus war nirgends zu sehen. Wir spekulierten, ob er Muffensausen gekriegt hatte und längst verschwunden war, weil sein Trick nicht hinhaute. Als das Video zu Ende war, erhoben sich einige Leute – offenbar jene, die das Programm gelesen hatten.
„Einen Augenblick bitte“, unterbrach Ulrike, die auf die Bühne geeilt war. „Wir wissen, dass der eine oder andere es kaum erwarten kann, eine zu rauchen.“ Zaghaftes Gelächter. „Aber wir haben spontan beschlossen, einen weiteren Punkt ins Programm aufzunehmen – und wir hätten das nicht gemacht, wenn es kein spektakulärer Auftritt wäre.“
Ein paar der Aufgestandenen setzten sich wieder.
„Einer unserer Mitschüler hat ein besonderes Talent. Er ist sozusagen der David Copperfield unserer Schule, ein begnadeter Künstler, ein großer Illusionist. Begrüßen Sie mit mir Magnus – den Magier.“
Das Licht wurde heruntergefahren, ein Meer aus Schwarz flutete die Bühne.
„Magnus der Magier. Sie hätte ihn einfach Magnier nennen sollen“, flüsterten wir und kicherten – nur kurz, denn es breitete sich Stille im Publikum aus, als würde in der Dunkelheit etwas lauern. Jeder starrte auf die Bühne, ein Schwarzes Loch, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann hörten wir die Stimme von Magnus aus den Lautsprechern.
„Was Sie jetzt sehen, werden Sie nie vergessen. Das verspreche ich.“
Etwas klackte, grelles Licht ergoss sich über die Bühne – und wir sahen Magnus, der einsam in der Mitte stand. Lautlos war er aufgetaucht.
„Guten Abend“, sagte er und deutete eine Verbeugung an.
Wir spürten sofort, dass etwas nicht stimmte – zumindest möchten wir das heute glauben. Wahrscheinlich ist es Wunschdenken. Wir sagen, das Gedächtnis täuscht uns, aber wir verschweigen, dass wir es so wollen.
„Ist das Magnus?“, fragte jemand. Schon früher war er bei seinen Auftritten kaum zu erkennen gewesen – ein Junge, der in das Kostüm eines Magiers geschlüpft war, ohne sich zu verkleiden. An diesem Abend wirkte es, als habe sich jemand Fremdes in ein Magnus-Kostüm gezwängt, allerdings ein schlechtes, weil es soviel besser war als das Original.
Sein schwarzes Haar war zurückgekämmt, Pomade ließ es glänzen. Er musste den Tag im Solarium verbracht oder Selbstbräuner aufgetragen haben. Im Scheinwerferlicht wirkte seine Haut glatt, ohne jeden Pickel. Nie zuvor hatte er sein Äußeres durch kosmetische Produkte aufgebessert, nie zuvor hatte er so gut ausgesehen. Er trug ein schwarzes Hemd, eine schwarze Stoffhose – keinen Umhang oder Zylinder.
„Was ich Ihnen jetzt zeige, haben Sie noch nie gesehen.“ Die Stimme klang fest, tiefer als sonst – in manchen Körpern musste sie Vibrationen auslösen, denn einige Leute rutschten auf ihren Sitzen herum. „Ich garantiere das, denn diese Vorstellung ist meine ganz persönliche. Es ist kein Zufall, dass ich sie heute uraufführe.“
Stille im Saal. Jeder blickte nach vorne. Jeder. Magnus hatte mehr Aufmerksamkeit als je zuvor.
„Heute feiern wir Abitur. Heute schauen wir zurück auf dreizehn Jahre Schule. Auch ich tue das. Ich möchte, dass Sie mit mir gemeinsam zurückschauen. Ich möchte, dass Sie sehen, was mir von den Jahren geblieben ist.“
Manchmal träumen wir von diesem Abend. Dann sind wir wieder jung, sitzen in der Aula und lauschen seinen Worten. Spätestens an dieser Stelle wollen wir schreien, wir wollen auf die Bühne stürmen und diesen ewig fremden Jungen schütteln. Aber wie in vielen Träumen – und manchmal auch im echten Leben – sind wir in den entscheidenden Momenten erstarrt.
„Meine Künste. Davon spreche ich. Meine Zauberkünste.“ Er verzog die Lippen zu einer Grimasse. Erst nach einem Augenblick erkannten wir, dass er zu lächeln versuchte. „Heute Abend zeige ich bloß einen Zauber. Bevor wir damit beginnen, begrüßen Sie mit mir meine Assistentin – Sabine.“
Er deutete auf einen Bereich im hinteren Teil der Bühne, der mit schwarzem Tuch abgedeckt war. Unter dem Applaus des Publikums trat Sabine hervor. Sie trug ein blaues Kleid, ihr Lächeln wirkte falsch. Die Sorge in ihren Augen hielten wir anfangs für Nervosität.
An das Publikum gerichtet, fuhr Magnus fort. „Wie jeder große Zauber hat auch dieser einen Namen. Ich nenne ihn Der stille Wanderer. Ich werde quer über diese Bühne gehen, von einem Ende zum anderen. Nur werden Sie das nicht sehen.“
Ein Geräusch brandete durch das Publikum – nicht ganz ein Raunen, aber mehr als ein Murmeln.
„Sabine, würdest du bitte alles Notwendige aufbauen?“
Wir bemerkten die Verzögerung, ihren Mund, der lautlos eine Frage formulierte – Magnus nickte, und Sabine verschwand hinter dem Tuch. Überall um uns herum saßen angespannte Körper.
Als Sabine hervortrat, begann das Publikum zu tuscheln. Sie schob etwas vor sich her, keine Guillotine, sondern ein Gestell, auf das eine Holzkiste geschraubt war. Die Kiste war etwa zwei Meter lang, geöffnet und schräg montiert, so dass wir direkt hineinsehen konnten. Sabine schob diese Apparatur an Magnus vorbei zum rechten Rand der Bühne. Dann verschwand sie erneut und holte ein zweites, identisches Gestell mit Kiste hervor, das sie auf der linken Seite abstellte.
Währenddessen stand Magnus regungslos auf der Bühne. Sein Blick ruhte in der Ferne. Obwohl die Bühne stark beleuchtet war, wirkte sein Gesicht entspannt. Wir blickten direkt hinein, aber den Jungen, den wir seit unserer Kindheit kannten, sahen wir nicht.
Als Sabine die zweite Kiste positioniert hatte, trat Magnus zu ihr. „Danke. Bitte überzeugen Sie sich, dass es sich bei diesen Kisten um massives Holz handelt.“ Die Kiste war offen, und Magnus klopfte gegen den Boden. „Kein doppelter Boden. Keine versteckte Klappen.“ Er nickte. „Ich werde mich nun in diese Kiste legen. Sabine wird sie verriegeln, ebenso die Kiste auf der anderen Seite.“ Er deutete hinüber. „Dann werde ich aus dieser Kiste steigen und mich in die andere legen. Dabei gehe ich quer über die Bühne. Und obwohl das direkt vor Ihren Augen geschieht, werden Sie mich nicht sehen.“
Ungläubiges Flüstern, Kopfschütteln im Dunkeln.
„Sabine, bist du bereit?“
Sie nickte. Irgendwann in den letzten Minuten musste das Lächeln aus ihrem Gesicht geflüchtet sein.
Magnus kletterte in die Kiste. Er passte bequem hinein. Als Sabine den Deckel schließen wollte, hielt er ihn zurück. „Eins noch.“ Er blickte ins Publikum. „Abrakadabra“, sagte er. Dann klappte er den Deckel zu, und Sabine verriegelte ihn mit einem Vorhängeschloss. Sie rüttelte daran, um zu beweisen, dass es zu war.
Während sie auf die andere Seite ging, blieb unser Blick auf der verschlossenen Kiste kleben. Jetzt, da alle Augen auf Sabine gerichtet waren, wäre der perfekte Moment, um zu entkommen, aber die Bühne war zu hell, die Sicht zu frei – Magnus konnte nicht aus der Kiste steigen, ohne gesehen zu werden.
Nachdem Sabine die zweite Kiste verriegelt hatte, trat sie in die Mitte der Bühne und sprach zum ersten Mal während der Vorstellung: „Magnus befreit sich genau in diesem Moment. Seht ihr ihn?“
Jeder starrte auf die Kiste. Die Stille im Saal fraß alles auf. Nichts bewegte sich.
„Er ist jetzt draußen. Seht ihr, wie er über die Bühne geht? Seht ihr ihn?“
Eine Gänsehaut überzog unsere Arme. Wir blickten von links nach rechts, als würden wir einem Tennisspiel zusehen, bei dem unsichtbare Spieler einen unsichtbaren Ball schlugen.
„Jetzt legt er sich in die zweite Kiste. Habt ihr ihn gesehen?“
Aufgeregtes Gemurmel setzte ein. „Er verarscht uns“, dachten wir, aber wir sagten es nicht, weil wir uns an den Geldschein erinnerten. Niemals würde Magnus es wagen, den ganzen Saal zum Narren zu halten.
Sabine trat an die Kiste auf der linken Seite, die, in die wir Magnus hatten steigen sehen. Sie entriegelte das Schloss und blickte ins Publikum. „Was habt ihr gesehen?“ Als keiner antwortete, wiederholte sie die Frage.
„Den Fisch“, rief jemand.
„Der liegt da noch drin“, ein anderer.
Sabine schlug den Deckel zurück. Einen Wimpernschlag, bevor wir die leere Kiste sahen, wussten wir es. Münder klappten auf, manche Leute sprangen hoch, einige kreischten. Die Anspannung trieb die Temperatur nach oben, Sabines Gesicht verformte sich, zäh wie das Wachs einer niederbrennenden Kerze. Sie ging zur anderen Kiste.
„Was habt ihr gesehen?“, fragte sie erneut, und das Publikum antwortete mit Tuscheln und Flüstern, mit Erregung und Erwartung. Sabine fingerte am Schloss herum, die Hände zitterten. Dann war es offen, und sie stellte die Frage wieder, aber keiner antwortete, und wenn doch, ging es im Rauschen der Anspannung unter.
Sie öffnete die Kiste, und die Zeit blieb stehen. Das Raunen erstarb mit einem kollektiven Krächzen, die Stille kehrte zurück wie eine Flutwelle und schwemmte jeden Laut davon. Jeder erstarrte, für einen Moment atmete nicht eine Person im Saal. Wir sahen das Gesicht von Sabine, wie es zerfiel, wie es zu einer Fratze wurde. Plötzlich wirkte sie verloren – wie einst ein kleiner Junge mit einem Einmachglas in den Händen.
Auch die zweite Kiste war leer.
Wie sich herausstellte, war Sabine die einzige, die an diesem Abend zum Narren gehalten worden war.
„So war es nicht abgesprochen“, sagte sie später, als der Abend längst zu Ende war. „Da sollten Tücher über den Gestellen hängen, und ich sollte die Kisten vertauschen, während er in einer liegt. Wenn beide nebeneinander stehen, wollte er unter den Tüchern durchkriechen und die Kiste wechseln.“
Elke saß neben ihr, das Gesicht weiß wie ihr Kleid. „Und wie wollte er aus den Kisten kommen?“
„Wir haben andere Kisten bei den Proben verwendet. Kleinere. Da konnte man den Boden aufklappen. Die Holzkisten hab ich heute zum ersten Mal gesehen. Er kam erst ein paar Minuten vor der Aufführung und hat gesagt, dass wir den Trick anders zeigen. Ich hab selbst nicht gewusst, wie. Aber ich hab ihm vertraut.“
Elke nickte und strich Sabine über den Rücken. „Mach dir keine Sorgen. Er taucht wieder auf. Sorgen musst du dich erst, wenn ihn Ulrike in die Finger kriegt.“
Die Pause nach Magnus' Vorstellung dauerte fast eine Stunde. Wir untersuchten die Kisten, schauten unter und hinter die Bühne. Das Publikum wurde fahrig, kaum jemand kaufte Getränke. Manche spekulierten, wie Magnus entkommen sein konnte, andere beteiligten sich an der Suche. Und es gab solche, die nichts weiter taten, als mit blassen Gesichtern nach vorne zu starren. In der Cafeteria ging Ulrike auf Sabine los und beschuldigte sie, Magnus zu decken.
Irgendwann wurde das Programm fortgesetzt, ohne dass Magnus aufgetaucht war. Die Zuschauer wirkten abwesend. Vermutlich sagten sie sich, dass es ein Trick war, dass es nur ein Trick sein konnte – aber die Finger des Zweifels strichen durch ihr Bewusstsein und trübten es.
Am Ende des Abends gingen alle Abiturienten auf die Bühne und sangen gemeinsam ein selbst getextetes Lied zur Melodie von Hölle Hölle – und obwohl sich nie jemand um Magnus geschert hatte, spürten wir, dass er fehlte. Die Lücke, die er hinterließ, erschien größer, als er je gewesen war.
„Er taucht nicht wieder auf“, sagte Sabine.
„Sag so was nicht. Das kannst du nicht wissen.“
„Doch. Ich weiß das.“
„Woher denn?“
Sabine antwortete erst nach einer Weile. „Er wollte, dass ich das Publikum immer wieder frage, was es gesehen hat. Stell ihnen die Frage, hat er gesagt. Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gesehen?“
Der Abend liegt fast zwanzig Jahre zurück, und es gibt heute noch Tage, da denken wir an Magnus, wie er in die Kiste stieg und nie herauskam. Man kann so etwas nicht sehen und verdrängen. Der Junge, den wir am schnellsten vergessen hätten, hat sich am tiefsten in unser Bewusstsein gebrannt, indem er nichts weiter tat, als zu verschwinden. Das ist die große Ironie unseres Lebens.
Seine Familie war nicht anwesend an jenem Abend. Selbst wenn – wer von uns hätte den Mut gehabt, zu ihr zu gehen und sich zu entschuldigen? Wer hätte gestanden, dass Magnus nicht freiwillig verschwunden ist, sondern fortgejagt wurde? Dass in Wirklichkeit wir diesen Zauber vollbracht haben, dass es unser Trick war, der über ein Jahrzehnt gedauert hatte? Und mit wir meinen wir alle, jeden einzelnen von uns.
Am Ende war uns Magnus überlegen, und dafür bezahlen wir den Preis. Wir wissen nicht, was wir mehr fürchten – die andauernde Ungewissheit oder das Ende dieses längsten Zaubertricks aller Zeiten. Denn es ist erst vorbei, wenn Magnus wieder auftaucht.
Wenn wir im Kino hinter uns ein Lachen hören, wenn uns in der Dämmerung auf leerer Straße jemand entgegenkommt, wenn das Telefon klingelt und sich niemand meldet – dann denken wir an Magnus. Immer. Wir sehen ihn in spiegelnden Schaufenstern und in Restaurants am Nachbartisch. Er setzt sich in der S-Bahn auf den Platz gegenüber und steht im Supermarkt in der Schlange vor uns. In jedem fremden Gesicht erkennen wir einen Teil von ihm. Er ist der Schwarze Mann, der große Unbekannte, der Mann, den wir ständig sehen, obwohl er nie da ist.
In ein paar Monaten haben wir Klassentreffen. Viele der ehemaligen Kameraden kommen, aber keiner wird gegenwärtiger sein als Magnus. Über keinen werden wir häufiger sprechen. Er ist der Geist, der zwischen uns schwebt, unser Geist, den wir nicht mehr loswerden.
Auch ein stiller Wanderer erreicht eines Tages sein Ziel.
Wir fragen uns, ob wir erfahren, wenn es soweit ist. Ob er uns dann endlich in Ruhe lässt.