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Abrakadabra

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01.01.2010
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Abrakadabra

In unserer Klasse gab es einen Geist.
Keinen, der uns Angst einjagte, keinen, dessen Name wir flüsterten. Während des Unterrichts kauerte er nicht hinter der Tafel oder scharrte unter unseren Tischen. Diese Art Geist war er nicht.
Magnus war ein Geist, weil er grau durchs Leben schlich. Auf Klassenfotos stand er stets am Rand, kniff die Lippen zusammen und sah aus wie eine Erscheinung, die uns alljährlich heimsuchte. Er war ein Geist, weil er weder He-Man kannte noch Fussball spielte.
Wir erinnern uns nicht, wie wir ihn die ersten Jahre nannten, wenn wir sein Mäppchen vom Tisch fegten oder sein Essen in den Dreck warfen. Wir standen um ihn herum und lachten, als Magnus sein Frühstück vom Boden klaubte, an der Hose abwischte und aß. Wir fragten, ob er arm sei, aber an seine Antwort erinnern wir uns nicht.
In der dritten Klasse tauften wir ihn. An jenem Tag durften wir Haustiere in die Schule mitbringen. Beinahe jeder hatte eins – nicht weil unsere Eltern ein schlechtes Gewissen gehabt hätten, nein, Besuchsrechte und Tagesmütter kannten wir nicht. Haustiere gehörten zum guten Ton, wie Geranien oder der Zweitwagen. So kam es, dass wir an jenem Tag unsere Lieblinge in Käfigen und Schuhkartons anschleppten und das Klassenzimmer in einen Zoo verwandelten. Überall fiepte, zwitscherte, scharrte und miaute es, dazwischen erklangen unsere Rufe und das Getrappel, wenn wir von Platz zu Platz rannten und die Tiere der anderen bestaunten. Jeder durfte seinen Hansi oder seine Trixi vor der Klasse vorführen, und natürlich wollte jeder die anderen mit einer tollen Geschichte übertreffen.
Wir streichelten Hamster, steckten unsere Finger in die Käfige von Wellensittichen und spielten mit Kaninchen. Elke zeigte ein junges Kätzchen und hätte damit vermutlich die meiste Aufmerksamkeit bekommen, doch sie weigerte sich, es aus der Box zu holen. In einem Schuhkarton hielt Thomas das exotischste Tier gefangen – eine Rotwangen-Schildkröte. Obwohl – oder gerade weil – sie ihren Kopf kaum hervorstreckte, standen wir um den Karton herum und stupsten den Panzer von allen Seiten an. Thomas wurde rot, als wir ihn auslachten, weil er die Schildkröte ebenfalls Thomas nannte.
Keiner von uns beachtete Magnus, vermutlich, weil er die ganze Zeit unsichtbar auf seinem Platz saß. Benjamins Mutter, die uns ein Jahr später ins Schullandheim begleitete, hat einmal gesagt, dass Magnus niemals auffällt – weil er der einzige Junge ist, der geräuschlos auf- und untertaucht, wie ein Fisch. Wir lachten, als sie das sagte, obwohl sie besorgt aussah.
Es war Kai, der an jenem Haustiertag den Zeigefinger ausstreckte. „Was hast du da drin?“, rief er quer durchs Klassenzimmer. Unsere Blicke folgten dem Finger und landeten bei Magnus. Auf dessen Tisch stand ein Gegenstand, der ihm bis zur Brust reichte und von einer Stofftasche umschlossen war.
„Ist da ein Tier drin?“, fragte jemand, und es wurde still. Magnus rutschte auf dem Stuhl herum, als müsse er auf die Toilette. Schließlich nahm er den Gegenstand aus der Tasche, ein Einmachglas, eines von den großen mit dickem Bauch, randvoll mit Wasser. Darin schwamm ein einzelner Goldfisch.
Begeistert stürzten wir auf Magnus, klopften gegen das Glas und bewunderten den Fisch, der schwerelos im Wasser trieb. Wir wissen nicht, woher diese Faszination kam – es war der einzige Fisch an dem Tag, vielleicht spielte das eine Rolle. Vielleicht waren wir auch überrascht, weil wir an Magnus plötzlich etwas Vertrautes entdeckten. Als er eine Dose Trockenfutter hervorholte, warf jeder etwas ins Glas, bis auf Magnus selbst. Stattdessen saß er mit verschränkten Armen da, schaute uns beim Füttern zu und lächelte. Zumindest glauben wir das heute.
Sein Gesicht bröckelte, als unsere Lehrerin an den Platz kam. „Kein Futter, das haben wir doch beschlossen. Hört auf, den Fisch zu füttern und schaut lieber, dass die Katze nicht in die Nähe kommt, sonst ist der Fisch weg.“
Alle lachten. Auf schummrige Art verstanden wir, dass sich der Fisch und Magnus ähnelten – beide standen am Beginn der Nahrungskette. Unsere Sympathie für sie verschwand, und mit verkniffenem Gesicht stülpte Magnus die Stofftasche über das Glas. Wir schwärmten in alle Richtungen davon, vergaßen den Fisch, vergaßen Magnus und hätten auch diesen Tag vergessen, wäre da nicht der Schrei gewesen.
Es geschah kurz vor Schluss. Der Schrei fuhr durch unsere Körper, klang wie der eines Tieres. Erst einen Augenblick später sahen wir, dass Magnus schrie. Er hielt das Einmachglas vor seinen Körper; die aufgewirbelten Futterreste verwandelten es in eine Schneekugel, in der es einsam schneite, denn der Goldfisch war verschwunden.
„Wo ist mein Fisch?“, brüllte Magnus mit zitternden Lippen. „Wo ist er?“ Er begann zu weinen. Es war das einzige Mal, dass wir Magnus weinen sahen. Selbst wenn wir ihn auf dem Nachhauseweg in ein Gebüsch schubsten, hielt er die Tränen zurück.
„Hat ihn die Katze gefressen?“, fragte jemand, und wir wandten uns an die einzige Person im Raum, der wir zutrauten, dieses Chaos zu lösen: unsere Lehrerin.
„Hast du die Tasche mit auf die Toilette genommen?“, fragte Frau Schrank.
Magnus nickte, weil er zwischen den Schluchzern kaum sprechen konnte. Schleim troff aus seiner Nase. „Aber – nur damit ihn die Katze nicht –“
„Hast du den Fisch in die Toilette geworfen?“
Jemand lachte. Ein anderer flüsterte: „Er hat den Fisch das Klo runtergespült.“ Dann lachten alle.
Magnus schüttelte den Kopf. „Nein. Da war er – da war er – noch da.“
„Bist du sicher?“, wollte Frau Schrank wissen. Ihr Tonfall nahm die Antwort vorweg und uns jeden Zweifel. Magnus hatte seinen eigenen Fisch entsorgt, und weil er noch minutenlang nach seinem Fisch schrie, gaben wir ihm an diesem Tag den Namen, der ihn die nächsten Jahre begleitete: Fisch.

Niemand weiß, wie er zur Zauberei kam.
Selbstverständlich kann man darin eine hochtrabende Symbolik sehen und behaupten, er sei aus der Traurigkeit in die Welt der Illusion geflüchtet. Oder man sagt, Harry Houdini sei deshalb sein Vorbild geworden, weil sich Magnus von den gesellschaftlichen Fesseln habe befreien wollen. Es gab Zeiten, da dachten wir so – vermutlich, um dem Geschehenen einen Schliff zu verpassen, den es in Wirklichkeit nicht besaß.
In der achten Klasse mussten wir Goethes Zauberlehrling auswendig lernen. Zu Beginn jeder Stunde rief Herr Haag drei Schüler auf, die einzeln an sein Pult treten und die Ballade vor der Klasse aufsagen mussten. An einem Wintermorgen, draußen war es noch dunkel, war Magnus an der Reihe.
Vor einer Gruppe konnte er nicht sprechen. Seine Nervosität rochen wir bis in die hintersten Plätze, sahen das Zucken der Oberschenkel und die zittrigen Hände. Wir liebten diesen Augenblick, weil Magnus ihn hasste.
„Fisch, Fisch“, flüsterten wir und „blubb, blubb“, so laut, dass jeder es hören konnte.
Der Haag räusperte sich, und Magnus begann. „Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben und nun -“
„Halt“, unterbrach ihn der Haag. „Wie beginnt eine Ballade?“
Überall sonst hätte Magnus die Antwort gewusst, doch vor der Klasse machte er den Mund auf und zu, ohne dass ein Ton entwich.
„Titel und Autor“, sagte der Haag. „Sprich langsamer. Und achte auf die Betonung.“
Magnus begann erneut. „Der Zauberlehrling, von Johann Wolfgang Goethe.“
Von Goethe.“
„Der Zauberlehrling, von Goethe.“
Johann Wolfgang von Goethe.“
Es war herrlich. Wir gaben uns keine Mühe, leise zu sein, und weil unser Lachen die Unsicherheit von Magnus steigerte, lachten wir lauter. Er wirkte verloren, als wolle er im Boden verschwinden.
Während Magnus die Ballade entlanghaspelte, machten wir Furzgeräusche. Es war üblich, dem Schüler am Ende zu applaudieren. Als Magnus durch war, klatschten nur ein paar Mädchen. Die anderen machten „blubb, blubb“, und der Haag tat nichts weiter, als den Kopf zu schütteln.
Wir dachten, der Auftritt sei vorbei, bis wir merkten, dass Magnus nicht auf seinen Platz zurückging. „Ich kann euch einen echten Zauber zeigen“, sagte er. „Wollt ihr ihn sehen? Es dauert nicht lang.“
Der Augenblick ähnelte jenem fünf Jahre zuvor, als wir die Stofftasche mit dem Goldfischglas auf seinem Tisch gesehen hatten: Magnus überraschte uns. Und wie damals kehrte angespannte Stille ein, als müssten wir innehalten und uns fragen, wer dieser Junge war.
„Dürfen wir den Trick sehen, Herr Haag?“, fragte eines der Mädchen, vielleicht Ulrike. Auch andere Mädchen quengelten, ebenso der eine oder andere Junge, und der Haag sagte: „In Ordnung. Drei Minuten.“
Magnus nickte. Nie zuvor hatten wir ihn zaubern gesehen, aber wir erkannten sofort, wie gut er war. Er verwandelte sich, tauchte in eine Rolle ein, stülpte sie über wie ein Kostüm. Die Nervosität verfloss, das Zittern erstarb. Der graue Junge verschwand vor unseren Augen und wurde durch einen routinierten Unterhalter ersetzt. Plötzlich strahlte er die Souveränität eines Menschen mit jahrelanger Erfahrung aus, obwohl das – wie uns Sabine später erzählte – sein erster Auftritt war.
„Das Ziel eines jeden Magiers ist“, begann er, „sein Publikum zu verblüffen.“ Er griff in die Hosentasche und zog einen 20-Mark-Schein hervor, strich ihn glatt, hielt ihn vor das Gesicht, drehte ihn. „Ein normaler Geldschein, wie ihn jeder kennt. Und jetzt seht genau hin.“
Er knüllte den Schein zu einem Papierball zusammen.
Einige lachten, andere murmelten. Selbst der Haag wirkte interessiert.
„Keine Sorge, den kann man noch verwenden“, sagte Magnus, als hätte sich einer von uns um sein Geld gesorgt. Wir waren zu überrascht für einen Kommentar; wäre es Magnus um unsere Verblüffung gegangen, hätte er die Vorstellung an dieser Stelle abbrechen können.
„Und jetzt –“, fuhr Magnus fort, doch anstatt den Satz zu beenden, nahm er die Hände von der zerknüllten Kugel – und ließ sie schweben. Seine Augen waren auf den Geldschein geheftet, als würde er ihn mit seinem Blick festhalten – wenn Magnus in diesem Moment in unsere Gesichter geschaut hätte, was hätte er gesehen? Erstaunen? Verwirrung? Bewunderung?
„Wie macht er das?“, flüsterten einige, während Magnus die Hände kugelförmig um den Geldschein bewegte. Der Schein drehte sich und blieb scheinbar schwerelos in der Luft hängen.
„Bis jetzt ist es ein einfacher Trick, der niemanden verblüfft“, sagte Magnus, ohne die Augen von dem Schein zu nehmen. „Aber jeder Zauber braucht ein Überraschungsmoment.“
Wir fanden unsere Sprache wieder, vielleicht, weil Magnus von einem Trick gesprochen hatte, und wir riefen: „Fisch, wir sehen die Schnur“, obwohl keiner von uns etwas sah.
„Ach ja?“ Magnus richtete den Blick direkt auf uns. „Was seht ihr denn?“
Was dann geschah, machte diese erste Vorstellung von Magnus unvergesslich: Er zog die Hände zurück und trat drei Schritte nach hinten. Der Geldschein schwebte weiterhin an derselben Stelle, und nicht nur das, er drehte sich noch. Magnus verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte.
In diesem Moment fiel der Schein zu Boden. In der Klasse war es so still, dass wir den Aufschlag hörten.
Was wir an diesem Tag sahen, war mehr als Zauberei, es war Magie. Obwohl wir uns seitdem viel mit den Illusionen der Großen beschäftigt haben, können wir sagen, dass wir einen der fantastischsten Zaubertricks unseres Lebens vorgeführt bekamen. Übertroffen nur von der Vorstellung fünf Jahre später, der Vorstellung am letzten Abend.

In den folgenden Wochen sahen wir eine Menge Hokuspokus.
Jeweils in den Pausen versammelte sich eine Gruppe von Schülern um Magnus und beobachtete, wie er Münzen verschwinden und auftauchen ließ, Karten erriet oder Ringe ineinander verhakelte und löste. Das waren keine besonderen Tricks, besonders war, dass Magnus sie aufführte – jener Junge, der in den Pausen stets allein über den Hof geschlurft war. Irgendwann kamen sogar Schüler aus den Parallelklassen vorbei.
Selbst wir standen manchmal um ihn herum, pöbelten dazwischen und versuchten, ihn aus dem Konzept zu bringen. Wir behaupteten, die Tricks zu kennen, aber wir durchschauten keinen einzigen. Und Magnus ließ sich nie beirren – wenn er zauberte, schien er zu reifen, aus dem Fisch wurde ein Mann mit fester Stimme und ruhigen Händen. Diese Verwandlung war erstaunlich, sie faszinierte auf eine Art, die schwer zu benennen war – es war sein größter Trick, und den zauberte Magnus an sich selbst. Wir glauben, viele rannten nur deshalb in jeder Pause an seinen Platz, auch wenn sie das womöglich nicht wussten. Oft riefen sie nach dem schwebenden Geldschein, aber Magnus schüttelte den Kopf und erklärte, ein guter Künstler wiederhole keinen Zauber.
Als der Winter in das Frühjahr überging, schrumpfte Magnus' Publikum wie die Schneehaufen im Schulhof. Das Interesse schwand, wie immer, wenn das Besondere gewöhnlich wird. Wir können bloß erahnen, wie das an Magnus genagt haben musste. Das Ausmaß seiner Verzweiflung wurde greifbar, als er sich zu einer Aktion hinreißen ließ, die in einem Debakel enden musste: Er lud die komplette Stufe zu seinem Geburtstag ein.
In der zweiten Klasse wurden wir zum ersten Mal von ihm eingeladen, zu einer Zeit, als man noch Reise nach Jerusalem und Hänschen piep einmal spielte und am Ende ein Päckchen Süßigkeiten mit nach Hause bekam. Normalerweise freuten sich unsere Mütter über Einladungen und gingen nachmittags mit uns Geschenke kaufen, doch als sie die Karte von Magnus sahen, runzelten sie die Stirn und begannen, miteinander zu telefonieren. Sie wollten wissen, wer der Junge war, wo er wohnte und was er für Eltern hatte, und jede musste ein Detail gewusst haben, denn am Ende ergab sich ein vollständiges Bild: Die Mutter von Magnus verließ selten die Wohnung, war aber schon beobachtet worden, wie sie im Morgenmantel den Müll rausbrachte. Der Vater kam oft spätabends nach Hause, entweder, weil er einer zwielichtigen Arbeit nachging oder gerne gurgelte – in dem Punkt waren unsere Mütter sich uneins und vermuteten am Ende beides. Wir verstanden das nicht. Es klang gruselig, und selbst wenn uns erlaubt worden wäre, zu dem Geburtstag zu gehen, hätten wir uns nicht getraut.
In den folgenden Jahren dachten wir nicht einmal an seinen Geburtstag, bis wir in der achten Klasse eines Morgens einen Zettel in die Hand gedrückt bekamen. Magnus feiert Geburtstag, stand darauf und bringt alle mit, die ihr kennt. Natürlich nicht zu ihm nach Hause, sondern in einen gemieteten Gemeinderaum. Spätestens der Zusatz inklusive Zaubervorstellung klang nach einem schlechten Scherz, nach Kindergeburtstag. Aber wir waren keine Kinder mehr, auf unseren Feiern gab es Bier anstelle von Mohrenköpfen, statt Topfschlagen wurde das Licht gedimmt und Stehblues getanzt. Und Magnus hatte ernsthaft vor, Kartentricks aufzuführen.
Er verteilte die Zettel in allen Parallelklassen, und nur wenige hatten den Anstand, ihm direkt ins Gesicht zu lachen. Viele nahmen die Einladung entgegen und warfen sie in den Müll, als Magnus nicht hinschaute. Und natürlich gab es die Gemeinen, zu denen wir zählten. Wir heuchelten Interesse und beschlossen, hinzugehen, aus Schadenfreude, aus demselben Grund, aus dem man stehenbleibt, wenn einer vom Dach eines Hochhauses springen will. Es gibt wenige Dinge, die faszinierender sind als der tiefe Fall eines anderen Menschen.
Wir fuhren mit den Rädern zum Gemeindehaus, das muss gegen einundzwanzig Uhr gewesen sein. Sogar an ein Geschenk hatten wir gedacht, in der Größe eines Schuhkartons, lieblos verpackt. Wir hatten damit gerechnet, auf ein Trauerspiel zu treffen, aber als wir in den Gemeinderaum trampelten, wurden unsere Erwartungen übertroffen: Magnus hatte etwa siebzig Jugendliche eingeladen, gekommen waren bis zu diesem Zeitpunkt zwei. Eine davon war seine Schwester, eine pummelige Fünfzehnjährige, die wir noch nie gesehen hatten, der andere Gast war Sabine.
Wir grölten, hauten Magnus kumpelhaft auf die Schulter und fragten, ob die große Show schon vorbei sei und er sein Publikum weggezaubert habe. Nein, er vermute, die meisten kommen später – er scheiterte beim Versuch, seine Enttäuschung zu verbergen, was uns belustigte. Wir drückten ihm unser Geschenk in die Hand. „Mach es schnell auf“, sagten wir, „und sei vorsichtig, hoffentlich lebt es noch.“
Er machte ein blödes Gesicht und fummelte an dem Papier herum. Als er es entfernt hatte, kam eine Schachtel zum Vorschein. Er öffnete sie.
„Vorsicht, Fisch, nicht fallen lassen.“
Er zog die Augenbrauen zusammen und nahm das mit Wasser gefüllte Einmachglas heraus. Wir spielten die Überraschten. „Mann, Fisch, wir schwören dir, da war ein Goldfisch drin. Ehrlich, Mann, der muss einfach verschwunden sein.“ Unser Lachen schallte durch den Saal.
Vielleicht war es dieser Hall, den es in einem gefüllten Raum nie gegeben hätte, vielleicht waren es die Getränkekisten, die an der Seite gestapelt waren und unberührt bleiben würden, vielleicht auch die glasigen Augen von Magnus, als er sich wegdrehte – wir spürten, wie der Spaß zurückwich und etwas wie Mitgefühl in uns dämmerte. Da stand er, ein naiver Junge, der wieder einmal auf die harte Tour lernen musste, wo sein Platz im sozialen Gefüge war. Der versucht hatte, sich zu erheben, und einmal mehr verloren hatte. Wir würgten dieses Gefühl ab, indem wir uns verabschiedeten.
Als wir gerade auf unsere Räder stiegen, kam Sabine angerannt, allein.
„Sagt mal, wie blöd seid ihr eigentlich? Könnt ihr Magnus nicht einfach in Ruhe lassen?“
„Er hat uns doch eingeladen“, antworteten wir. „Ist selber schuld, dass keiner kommt.“
„Die letzten Wochen ist er richtig aufgeblüht, habt ihr das nicht bemerkt? Er dachte, dass die Leute kommen, die seine Tricks mögen.“
Sabine kapierte es nicht, sie verwechselte Aufmerksamkeit mit Sympathie. Magnus war ein Äffchen, das Kunststücke machte, und ein paar Mitschüler – inzwischen verschwindend wenige – warfen ihm Erdnüsse in Form von Interesse vor die Füße. Solange es hampelt, lacht man über das Äffchen, aber sobald man sich wegdreht, vergisst man seinen Tanz, und spätestens dann will keiner mehr den Affen sehen. Wir erklärten ihr das, soweit wir es damals verstanden.
„Er arbeitet an neuen Tricks. Er wird besser. Er arbeitet an Tricks, die noch nie jemand aufgeführt hat.“
Wir verschwanden im Dunkel der Nacht, ohne auf ihre Worte zu hören. Von diesem Tag an zauberte Magnus nicht mehr. Erst fünf Jahre später, am Abend unseres Abiballs, bat er zum nächsten Tanz.

Um ein Haar hätte dieser Auftritt nie stattgefunden.
Wir haben das Abendprogramm aufgehoben, sauber gefaltet, mit einem Gruppenfoto aller Abiturienten vorne drauf, doch die Vorstellung von Magnus sucht man darin vergeblich. Bis zwei Stunden vor Beginn wusste nicht einmal Ulrike Bescheid. Sie erfuhr es in der Cafeteria direkt neben der Aula, wo der Abend stattfinden würde. Wir lungerten ebenfalls dort herum, einigermaßen nüchtern.
„Er will was?“, rief Ulrike. Sie liebte das Organisieren großer Anlässe, war Stufensprecherin und Vorsitzende der verantwortlichen Gruppe für den Abiball. Das alles schützte sie nicht vor der nervösen Hektik, die kurz vor Beginn jeden packt, der einen Anlass für über zweihundert Menschen geplant hat. Insbesondere, wenn jemand kommt und eine Programmänderung verlangt.
„Es wird nicht lange dauern“, sagte Sabine. „Eine Viertelstunde. Vielleicht weniger.“
„Unmöglich. Das Programm steht“, sagte Ulrike und fächerte sich mit ebendiesem Luft zu.
„Komm schon. Auf die paar Minuten kommts nicht an.“
„Warum hat er das nicht früher gesagt? Und wo ist er überhaupt?“ Magnus war nirgends zu sehen.
„Er übt den Trick. Es ist bloß einer. Aber der lohnt sich, versprochen. So etwas“ – hier zögerte Sabine einen Moment, ihr Blick geisterte durch den Raum – „bekommt man sonst nur in Las Vegas zu sehen.“
„Was ist das für ein Trick?“, fragte jemand.
„Wird nicht verraten. Lasst euch überraschen.“
„Und du machst da mit?“ Das kam von Ulrike, die inzwischen das Programm durchblätterte, auf der Suche nach einer Lücke, die es nicht gab.
„Ich assistiere ihm. Ihr werdet begeistert sein. Er wird den Saal rocken, das wird spektakulärer als der Geldschein. Die Leute werden sich noch jahrelang daran erinnern.“
„Es gibt keinen freien Platz“, sagte Ulrike und schüttelte den Kopf. „Der Abend ist voll.“
„Hey Sabine“, riefen wir. „Wer sagt, dass Magnus keine Pumpgun aus einem Hut zaubert und ins Publikum ballert? Das wäre spektakulär.“ Zwar hatten die Sticheleien gegen Magnus nachgelassen, aber jeder ignorierte ihn. Seine Noten waren in den letzten beiden Jahren in den Keller gerauscht, vielleicht, weil das Gefühl, nie beachtet zu werden, verletzender sein konnte als alles andere.
„Blödmänner“, antwortete Sabine, dann, zu Ulrike: „Da ist eine Pause von halb zehn bis viertel elf. Kein Mensch braucht eine Dreiviertelstunde, um ein Bier zu kaufen und aufs Klo zu gehen.“
„Also“, sagte Benjamin, ein Junge, der nicht zu unserer Clique gehörte, „vielleicht kommt er mit einer großen Guillotine und zerhackt eine Wassermelone. Als nächstes bittet er einen Freiwilligen aus dem Publikum, sich drunter zu legen. Natürlich ist es eine umgebaute Guillotine. Sie hat einen kleinen Schalter. Wenn man den betätigt, schadet einem das Beil nicht. Ich hab das neulich in einer Columbo-Folge gesehen. Wer weiß – vielleicht drückt Magnus den Schalter nicht? Wäre auch spektakulär, oder? Ich würd mich nicht drunter legen, wenn er eine Guillotine auf die Bühne rollt.“
Wir würden uns auch nicht drunter legen, soviel stand fest.
Ulrike war einverstanden. Magnus bekam einen Platz um halb zehn, vor der Pause, aber Sabine musste versprechen, dass es nicht länger als zehn Minuten dauern und der Saal toben würde. Und so kam es, dass die Vorstellung nirgends offiziell erwähnt wurde.
Um kurz vor halb zehn wurde ein Video gezeigt, in dem Lehrer veräppelt wurden, gefilmt mit versteckter Kamera. Die Gags waren mau, die Zuschauer euphorisch, wie immer, wenn sie sich selbst feiern – an diesem Abend für ihre klugen Sprösslinge. Im hitzigen Saal waberte die Luft und roch nach Alkohol, wir saßen zusammengedrängt auf Bierbänken. Magnus war nirgends zu sehen. Wir spekulierten, ob er Muffensausen gekriegt hatte und längst verschwunden war, weil sein Trick nicht hinhaute. Als das Video zu Ende war, erhoben sich einige Leute – offenbar jene, die das Programm gelesen hatten.
„Einen Augenblick bitte“, unterbrach Ulrike, die auf die Bühne geeilt war. „Wir wissen, dass der eine oder andere es kaum erwarten kann, eine zu rauchen.“ Zaghaftes Gelächter. „Aber wir haben spontan beschlossen, einen weiteren Punkt ins Programm aufzunehmen – und wir hätten das nicht gemacht, wenn es kein spektakulärer Auftritt wäre.“
Ein paar der Aufgestandenen setzten sich wieder.
„Einer unserer Mitschüler hat ein besonderes Talent. Er ist sozusagen der David Copperfield unserer Schule, ein begnadeter Künstler, ein großer Illusionist. Begrüßen Sie mit mir Magnus – den Magier.“
Das Licht wurde heruntergefahren, ein Meer aus Schwarz flutete die Bühne.
„Magnus der Magier. Sie hätte ihn einfach Magnier nennen sollen“, flüsterten wir und kicherten – nur kurz, denn es breitete sich Stille im Publikum aus, als würde in der Dunkelheit etwas lauern. Jeder starrte auf die Bühne, ein Schwarzes Loch, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Dann hörten wir die Stimme von Magnus aus den Lautsprechern.
„Was Sie jetzt sehen, werden Sie nie vergessen. Das verspreche ich.“
Etwas klackte, grelles Licht ergoss sich über die Bühne – und wir sahen Magnus, der einsam in der Mitte stand. Lautlos war er aufgetaucht.
„Guten Abend“, sagte er und deutete eine Verbeugung an.

Wir spürten sofort, dass etwas nicht stimmte – zumindest möchten wir das heute glauben. Wahrscheinlich ist es Wunschdenken. Wir sagen, das Gedächtnis täuscht uns, aber wir verschweigen, dass wir es so wollen.
„Ist das Magnus?“, fragte jemand. Schon früher war er bei seinen Auftritten kaum zu erkennen gewesen – ein Junge, der in das Kostüm eines Magiers geschlüpft war, ohne sich zu verkleiden. An diesem Abend wirkte es, als habe sich jemand Fremdes in ein Magnus-Kostüm gezwängt, allerdings ein schlechtes, weil es soviel besser war als das Original.
Sein schwarzes Haar war zurückgekämmt, Pomade ließ es glänzen. Er musste den Tag im Solarium verbracht oder Selbstbräuner aufgetragen haben. Im Scheinwerferlicht wirkte seine Haut glatt, ohne jeden Pickel. Nie zuvor hatte er sein Äußeres durch kosmetische Produkte aufgebessert, nie zuvor hatte er so gut ausgesehen. Er trug ein schwarzes Hemd, eine schwarze Stoffhose – keinen Umhang oder Zylinder.
„Was ich Ihnen jetzt zeige, haben Sie noch nie gesehen.“ Die Stimme klang fest, tiefer als sonst – in manchen Körpern musste sie Vibrationen auslösen, denn einige Leute rutschten auf ihren Sitzen herum. „Ich garantiere das, denn diese Vorstellung ist meine ganz persönliche. Es ist kein Zufall, dass ich sie heute uraufführe.“
Stille im Saal. Jeder blickte nach vorne. Jeder. Magnus hatte mehr Aufmerksamkeit als je zuvor.
„Heute feiern wir Abitur. Heute schauen wir zurück auf dreizehn Jahre Schule. Auch ich tue das. Ich möchte, dass Sie mit mir gemeinsam zurückschauen. Ich möchte, dass Sie sehen, was mir von den Jahren geblieben ist.“
Manchmal träumen wir von diesem Abend. Dann sind wir wieder jung, sitzen in der Aula und lauschen seinen Worten. Spätestens an dieser Stelle wollen wir schreien, wir wollen auf die Bühne stürmen und diesen ewig fremden Jungen schütteln. Aber wie in vielen Träumen – und manchmal auch im echten Leben – sind wir in den entscheidenden Momenten erstarrt.
„Meine Künste. Davon spreche ich. Meine Zauberkünste.“ Er verzog die Lippen zu einer Grimasse. Erst nach einem Augenblick erkannten wir, dass er zu lächeln versuchte. „Heute Abend zeige ich bloß einen Zauber. Bevor wir damit beginnen, begrüßen Sie mit mir meine Assistentin – Sabine.“
Er deutete auf einen Bereich im hinteren Teil der Bühne, der mit schwarzem Tuch abgedeckt war. Unter dem Applaus des Publikums trat Sabine hervor. Sie trug ein blaues Kleid, ihr Lächeln wirkte falsch. Die Sorge in ihren Augen hielten wir anfangs für Nervosität.
An das Publikum gerichtet, fuhr Magnus fort. „Wie jeder große Zauber hat auch dieser einen Namen. Ich nenne ihn Der stille Wanderer. Ich werde quer über diese Bühne gehen, von einem Ende zum anderen. Nur werden Sie das nicht sehen.“
Ein Geräusch brandete durch das Publikum – nicht ganz ein Raunen, aber mehr als ein Murmeln.
„Sabine, würdest du bitte alles Notwendige aufbauen?“
Wir bemerkten die Verzögerung, ihren Mund, der lautlos eine Frage formulierte – Magnus nickte, und Sabine verschwand hinter dem Tuch. Überall um uns herum saßen angespannte Körper.
Als Sabine hervortrat, begann das Publikum zu tuscheln. Sie schob etwas vor sich her, keine Guillotine, sondern ein Gestell, auf das eine Holzkiste geschraubt war. Die Kiste war etwa zwei Meter lang, geöffnet und schräg montiert, so dass wir direkt hineinsehen konnten. Sabine schob diese Apparatur an Magnus vorbei zum rechten Rand der Bühne. Dann verschwand sie erneut und holte ein zweites, identisches Gestell mit Kiste hervor, das sie auf der linken Seite abstellte.
Währenddessen stand Magnus regungslos auf der Bühne. Sein Blick ruhte in der Ferne. Obwohl die Bühne stark beleuchtet war, wirkte sein Gesicht entspannt. Wir blickten direkt hinein, aber den Jungen, den wir seit unserer Kindheit kannten, sahen wir nicht.
Als Sabine die zweite Kiste positioniert hatte, trat Magnus zu ihr. „Danke. Bitte überzeugen Sie sich, dass es sich bei diesen Kisten um massives Holz handelt.“ Die Kiste war offen, und Magnus klopfte gegen den Boden. „Kein doppelter Boden. Keine versteckte Klappen.“ Er nickte. „Ich werde mich nun in diese Kiste legen. Sabine wird sie verriegeln, ebenso die Kiste auf der anderen Seite.“ Er deutete hinüber. „Dann werde ich aus dieser Kiste steigen und mich in die andere legen. Dabei gehe ich quer über die Bühne. Und obwohl das direkt vor Ihren Augen geschieht, werden Sie mich nicht sehen.“
Ungläubiges Flüstern, Kopfschütteln im Dunkeln.
„Sabine, bist du bereit?“
Sie nickte. Irgendwann in den letzten Minuten musste das Lächeln aus ihrem Gesicht geflüchtet sein.
Magnus kletterte in die Kiste. Er passte bequem hinein. Als Sabine den Deckel schließen wollte, hielt er ihn zurück. „Eins noch.“ Er blickte ins Publikum. „Abrakadabra“, sagte er. Dann klappte er den Deckel zu, und Sabine verriegelte ihn mit einem Vorhängeschloss. Sie rüttelte daran, um zu beweisen, dass es zu war.
Während sie auf die andere Seite ging, blieb unser Blick auf der verschlossenen Kiste kleben. Jetzt, da alle Augen auf Sabine gerichtet waren, wäre der perfekte Moment, um zu entkommen, aber die Bühne war zu hell, die Sicht zu frei – Magnus konnte nicht aus der Kiste steigen, ohne gesehen zu werden.
Nachdem Sabine die zweite Kiste verriegelt hatte, trat sie in die Mitte der Bühne und sprach zum ersten Mal während der Vorstellung: „Magnus befreit sich genau in diesem Moment. Seht ihr ihn?“
Jeder starrte auf die Kiste. Die Stille im Saal fraß alles auf. Nichts bewegte sich.
„Er ist jetzt draußen. Seht ihr, wie er über die Bühne geht? Seht ihr ihn?“
Eine Gänsehaut überzog unsere Arme. Wir blickten von links nach rechts, als würden wir einem Tennisspiel zusehen, bei dem unsichtbare Spieler einen unsichtbaren Ball schlugen.
„Jetzt legt er sich in die zweite Kiste. Habt ihr ihn gesehen?“
Aufgeregtes Gemurmel setzte ein. „Er verarscht uns“, dachten wir, aber wir sagten es nicht, weil wir uns an den Geldschein erinnerten. Niemals würde Magnus es wagen, den ganzen Saal zum Narren zu halten.
Sabine trat an die Kiste auf der linken Seite, die, in die wir Magnus hatten steigen sehen. Sie entriegelte das Schloss und blickte ins Publikum. „Was habt ihr gesehen?“ Als keiner antwortete, wiederholte sie die Frage.
„Den Fisch“, rief jemand.
„Der liegt da noch drin“, ein anderer.
Sabine schlug den Deckel zurück. Einen Wimpernschlag, bevor wir die leere Kiste sahen, wussten wir es. Münder klappten auf, manche Leute sprangen hoch, einige kreischten. Die Anspannung trieb die Temperatur nach oben, Sabines Gesicht verformte sich, zäh wie das Wachs einer niederbrennenden Kerze. Sie ging zur anderen Kiste.
„Was habt ihr gesehen?“, fragte sie erneut, und das Publikum antwortete mit Tuscheln und Flüstern, mit Erregung und Erwartung. Sabine fingerte am Schloss herum, die Hände zitterten. Dann war es offen, und sie stellte die Frage wieder, aber keiner antwortete, und wenn doch, ging es im Rauschen der Anspannung unter.
Sie öffnete die Kiste, und die Zeit blieb stehen. Das Raunen erstarb mit einem kollektiven Krächzen, die Stille kehrte zurück wie eine Flutwelle und schwemmte jeden Laut davon. Jeder erstarrte, für einen Moment atmete nicht eine Person im Saal. Wir sahen das Gesicht von Sabine, wie es zerfiel, wie es zu einer Fratze wurde. Plötzlich wirkte sie verloren – wie einst ein kleiner Junge mit einem Einmachglas in den Händen.
Auch die zweite Kiste war leer.

Wie sich herausstellte, war Sabine die einzige, die an diesem Abend zum Narren gehalten worden war.
„So war es nicht abgesprochen“, sagte sie später, als der Abend längst zu Ende war. „Da sollten Tücher über den Gestellen hängen, und ich sollte die Kisten vertauschen, während er in einer liegt. Wenn beide nebeneinander stehen, wollte er unter den Tüchern durchkriechen und die Kiste wechseln.“
Elke saß neben ihr, das Gesicht weiß wie ihr Kleid. „Und wie wollte er aus den Kisten kommen?“
„Wir haben andere Kisten bei den Proben verwendet. Kleinere. Da konnte man den Boden aufklappen. Die Holzkisten hab ich heute zum ersten Mal gesehen. Er kam erst ein paar Minuten vor der Aufführung und hat gesagt, dass wir den Trick anders zeigen. Ich hab selbst nicht gewusst, wie. Aber ich hab ihm vertraut.“
Elke nickte und strich Sabine über den Rücken. „Mach dir keine Sorgen. Er taucht wieder auf. Sorgen musst du dich erst, wenn ihn Ulrike in die Finger kriegt.“
Die Pause nach Magnus' Vorstellung dauerte fast eine Stunde. Wir untersuchten die Kisten, schauten unter und hinter die Bühne. Das Publikum wurde fahrig, kaum jemand kaufte Getränke. Manche spekulierten, wie Magnus entkommen sein konnte, andere beteiligten sich an der Suche. Und es gab solche, die nichts weiter taten, als mit blassen Gesichtern nach vorne zu starren. In der Cafeteria ging Ulrike auf Sabine los und beschuldigte sie, Magnus zu decken.
Irgendwann wurde das Programm fortgesetzt, ohne dass Magnus aufgetaucht war. Die Zuschauer wirkten abwesend. Vermutlich sagten sie sich, dass es ein Trick war, dass es nur ein Trick sein konnte – aber die Finger des Zweifels strichen durch ihr Bewusstsein und trübten es.
Am Ende des Abends gingen alle Abiturienten auf die Bühne und sangen gemeinsam ein selbst getextetes Lied zur Melodie von Hölle Hölle – und obwohl sich nie jemand um Magnus geschert hatte, spürten wir, dass er fehlte. Die Lücke, die er hinterließ, erschien größer, als er je gewesen war.
„Er taucht nicht wieder auf“, sagte Sabine.
„Sag so was nicht. Das kannst du nicht wissen.“
„Doch. Ich weiß das.“
„Woher denn?“
Sabine antwortete erst nach einer Weile. „Er wollte, dass ich das Publikum immer wieder frage, was es gesehen hat. Stell ihnen die Frage, hat er gesagt. Was habt ihr gesehen? Was habt ihr gesehen?“

Der Abend liegt fast zwanzig Jahre zurück, und es gibt heute noch Tage, da denken wir an Magnus, wie er in die Kiste stieg und nie herauskam. Man kann so etwas nicht sehen und verdrängen. Der Junge, den wir am schnellsten vergessen hätten, hat sich am tiefsten in unser Bewusstsein gebrannt, indem er nichts weiter tat, als zu verschwinden. Das ist die große Ironie unseres Lebens.
Seine Familie war nicht anwesend an jenem Abend. Selbst wenn – wer von uns hätte den Mut gehabt, zu ihr zu gehen und sich zu entschuldigen? Wer hätte gestanden, dass Magnus nicht freiwillig verschwunden ist, sondern fortgejagt wurde? Dass in Wirklichkeit wir diesen Zauber vollbracht haben, dass es unser Trick war, der über ein Jahrzehnt gedauert hatte? Und mit wir meinen wir alle, jeden einzelnen von uns.
Am Ende war uns Magnus überlegen, und dafür bezahlen wir den Preis. Wir wissen nicht, was wir mehr fürchten – die andauernde Ungewissheit oder das Ende dieses längsten Zaubertricks aller Zeiten. Denn es ist erst vorbei, wenn Magnus wieder auftaucht.
Wenn wir im Kino hinter uns ein Lachen hören, wenn uns in der Dämmerung auf leerer Straße jemand entgegenkommt, wenn das Telefon klingelt und sich niemand meldet – dann denken wir an Magnus. Immer. Wir sehen ihn in spiegelnden Schaufenstern und in Restaurants am Nachbartisch. Er setzt sich in der S-Bahn auf den Platz gegenüber und steht im Supermarkt in der Schlange vor uns. In jedem fremden Gesicht erkennen wir einen Teil von ihm. Er ist der Schwarze Mann, der große Unbekannte, der Mann, den wir ständig sehen, obwohl er nie da ist.
In ein paar Monaten haben wir Klassentreffen. Viele der ehemaligen Kameraden kommen, aber keiner wird gegenwärtiger sein als Magnus. Über keinen werden wir häufiger sprechen. Er ist der Geist, der zwischen uns schwebt, unser Geist, den wir nicht mehr loswerden.
Auch ein stiller Wanderer erreicht eines Tages sein Ziel.
Wir fragen uns, ob wir erfahren, wenn es soweit ist. Ob er uns dann endlich in Ruhe lässt.

 

Hej Schwups,

ich bin unentschlossen, was die Geschichte betrifft.

Sie liest sich durchgehend gut und ich fand sie spannend. An bestimmten Punkten verstehe ich Deine Intention aber nicht richtig und dadurch entsteht eine ganz leichte Schieflage.

Ich verstehe irgendwie, dass Du Magnus gleich zu Beginn einen Geist nennst, dann schliesst sich am Ende der Kreis, aber für mich nimmst Du damit etwas vorweg und bemühst den Begriff zu sehr. Ein unscheinbarer Junge ist kein Geist (nebenbei: Für mich z.B. gehören Cordhosen und verwaschene Strickpullis einfach mal zum guten Ton, in der Zeit, die ich der Geschichte unbewusst verpasse), da mag er noch so fremdartig und leise sein.

Dann hat mich irritiert, dass ausschließlich die Gruppe Erzähler ist. Das ist zwar irgendwie sinnvoll, schließlich ist es das Verhalten der Gruppe, Clique, Klasse, das Magnus zu dem macht, was er am Ende ist.

Wir erinnern uns nicht, wie wir ihn bis zu diesem Tag nannten,
Ich weiß nicht, ob ich das verständlich erklären kann. Dieses "Wir erinnern" klingt, als würden sie immer noch gemeinsam in irgendeinem vergessenen Klassenraum hocken. Das ist ein toller Effekt, wenn man das wirklich zeigen möchte, dass sie wie Verfluchte niemals aus diesen Räumen, dieser Situation herausgefunden haben (wie beim Gespensterschiff).
Aber das scheint es mir nicht ausdrücken zu wollen. Eher wirkt der sonstige Text auf mich gemäßigt, gezeigt werden soll, dass Magnus Verschwinden sie alle nach wie vor emotional und intellektuell belastet.
Ich vermute, Du hast das mit Absicht gemacht und vielleicht erzeugt das ja bei anderen eine entsprechende Wirkung. Mich hat es jedes mal rausgehauen.
Und:
In ein paar Monaten haben wir Klassentreffen. Viele der ehemaligen Kameraden kommen, aber keiner wird gegenwärtiger sein als Magnus.
Dieser Satz hier legt nahe, dass keine andauernde Verbindung besteht (was Du vermutlich auch nicht gemeint hast, es liest sich aber so, es ist zu dick aufgetragen), wohlmöglich würde dann ein Klassentreffen eher gemieden werden, weil alle des ständigen schlechten Gewissens längst überdrüssig geworden sind.
Mir drängen sich da eher Formulierungen wie "keiner von uns ..." o.ä auf, die wirken nicht so resolut, so fest wie dieses "Wir" in Kombination mit Präsens. Das hat was von einer Mauer.

Womit ich auch so meine Schwierigkeiten habe, ist das Ende. Es ist hochmoralisch, es verurteilen sich diejenigen selbst, die verurteilt haben, aber dadurch entsteht beinahe das Gefühl, nun wäre es ja irgendwie abgegolten. Der letzte Satz

Ob er uns dann endlich in Ruhe lässt.
klingt entsprechend. Magnus hat sie nie gestört, weil sie ihn nie wirklich gesehen haben, sie haben das durch sein Verschwinden begriffen, also soll er sie jetzt endgültig in Ruhe lassen. Mögliche Botschaft wäre: Selbst so überirdische Zaubertricks wie der von Magnus werden nichts daran ändern, dass Magnusse einfach immer nur stören.
Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass Du das sagen wolltest.

Bisschen Textkram:

An jenem Tag durften wir Haustiere in die Schule mitbringen. Beinahe jeder hatte eins – nicht weil unsere Eltern ein schlechtes Gewissen gehabt hätten, nein, Besuchsrechte und Tagesmütter kannten wir nicht. Haustiere gehörten zum guten Ton, wie Geranien oder der Zweitwagen. So kam es, dass wir an jenem Tag unsere Lieblinge in Käfigen und Schuhkartons anschleppten und das Klassenzimmer in einen Zoo verwandelten.
Find ich gut. Würde sich auch gut als Einstieg für die Geschichte eignen. Zack - wär man gleich da, wo es passiert.

Benjamins Mutter, die uns ein Jahr später ins Schullandheim begleitete, hat einmal gesagt, dass Magnus niemals auffällt – weil er der einzige Junge ist, der geräuschlos auf- und untertaucht, wie ein Fisch. Wie ein Fisch. Wir lachten, als sie das sagte, obwohl sie selbst besorgt aussah.
Nimmt den Spitznamen irgendwie vorweg.

das Aufblitzen seiner Zunge, als er den Schweißfilm über seiner Lippe verrieb.
Das war mir zu stark. Als wär da ein optischer Filter drüber gesetzt.

„Dürfen wir den Trick sehen, Herr Haag?“, fragte eines der Mädchen, vielleicht Ulrike.
würd ich eindeutig machen. Entweder eins der Mädchen oder Ulrike, ohne vllt.

wie uns Sabine später erzählte
da hab ich gesucht, weil ich dachte ich hätte Sabine überlesen, aber vorher tauchte sie nicht auf. Vllt könnte man sie anders vorstellen.

Es gibt wenige Dinge, die faszinierender sind als der tiefe Fall eines anderen Menschen.
Für mich der eigentliche Dreh und Angelpunkt. Aber nicht unbedingt der Schwerpunkt der Geschichte, oder?

Wir spürten sofort, dass etwas nicht stimmte
Damit erweckst Du bei mir enorme Erwartungen. Dass etwas oder jemand verschwindet, das wär für mich nichts, was nicht stimmt. Es passiert. Natürlich nicht auf die Magnus-Art, aber die wertet das Verschwinden ja enorm auf und gibt ihm insofern etwas Positives. Magnus hat seinen Auftritt gehabt.
Ich war nicht etwa enttäuscht, als Magnus dann eben nicht ins Publikum schiesst oder sich selber öffentlich hinrichtet. Aber sein Verschwinden wird für meinen Geschmack zu ausführlich vorbereitet, dadurch verpufft die Wirkungs des Verschwindens selbst.

Manchmal träumen wir von diesem Abend.
Hach, ich vermisse den guten alten Ich-Erzähler aus reiner Faulheit, das geb ich zu. Weil dieses Wir (das ich oben schon beanstande) mich nötigt, mir vorzustellen, wie die ehemaligen Klassenkameraden sich regelmäßig zumindest zu so etwas wie einer Telefonkonferenz zusammenfinden.
"Auch wieder von Magnus geträumt?"
"Jepp. Das dritte mal diesen Monat."
"Und du, Carsten?"
"In der Nacht von Sonntag auf Montag."
Sorry. Aber nur um deutlich zu machen, wie mich das rausbringt.

Ich hab die Geschichte gern gelesen.

LG
Ane

 
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Hallo Schwups,

von mir eine kurze Rückmeldung.

Ich habe die Geschichte sehr gern gelesen. Sie gefällt mir außerordentlich gut, sowohl inhaltlich und sprachlich als auch strukturell. Du greifst ein wichtiges Thema auf und obwohl deine erzählte Zeit recht lang ist, verfällst du nicht in die Falle, vieles rückblickend zu beschreiben, sondern du zeigst den Werdegang an vielen einzelnen Beispielen, die sich insgesamt zu einem Bild zusammenfügen. Damit meine ich die Sticheleien, das Mobbing. Da stecken viele Ideen drin.

Was mir auch gut gefällt: Du bleibst konsequent in der Perspektive deines/deiner Erzähler. In der Geschichte gibt es nichts und wird nichts behauptet, was sie nicht selbst so erlebt haben oder was sie sich schließlich zusammenreimen. Und dennoch fühlt man als Leser die Verzweiflung von Magnus - obwohl der nie Perspektivträger ist und man nie seine Gedanken und Gefühle aus erster Hand präsentiert bekommt. Das finde ich sehr stark.

Was mich beim Lesen selbst verblüfft hat: Hätte ich mich hypothetisch gefragt, ob mir eine Geschichte mit einem sehr unsympathischen Erzähler gefallen könnte, ob ich sie überhaupt zuende lesen würde, hätte ich verneint. Deine Geschichte hat bei mir aber einen Sog ausgelöst, sodass ich sie unbedingt zuende lesen musste. Warum? Dein(e) Erzähler sind nicht die Protagonisten des Textes. Protagonist ist Magnus. Er ist die Hauptfigur, derjenige, der sich abstrampelt, derjenige, der sich im Laufe der Geschichte verändert. Und bei ihm liegen die Sympathien des Lesers. So funktioniert es also auch mit einem unsympathischen Erzähler, den Leser zu fesseln. Diese Erkenntnis fand ich spannend.

Worin ich Ane aber recht geben muss: Dieses "Wir", die Gruppe als Erzähler, funktioniert für mich auch nicht gut. Mich hat das auch ab und zu herausgerissen. Die Gründe hat sie ja schon genannt. Ich würde einen Ich-Erzähler wählen und der könnte ab und zu so etwas sagen wie: "Wenn wir uns treffen, ist Magnus immer noch das Hauptgesprächsthema - und dann sind wir uns alle darin einig, dass ..."
Wenn ich nun aber noch einmal darüber nachdenke, ist es schwierig. Eines der Themen ist ja, dass da ein Einzelner einer Gruppe gegenübersteht. Und das wird in jetziger Form im Text selbst natürlich durch die Gruppe als Erzähler widergespiegelt und verstärkt. Das verstehe ich schon. Das hat auch einen gewissen Effekt. Dennoch haut es einen ab und zu raus. Ich würde mal mit einem Ich-Erzähler experimentieren, ein paar Absätze entsprechend umschreiben und sehen, welche Wirkung der Text dann auslöst.

Da ich gerade schon Bezug zu Anes Kommentar genommen habe, noch ein weiterer: Ich finde nicht, dass das Verschwinden zu ausführlich vorbereitet wird. Da immer wieder auch die Reaktion des Publikums einbezogen wird, auch die Nervosität von Sabine, baut sich eine enorme Spannung auf. Das würde ich nicht kürzen und damit einen Teil der Spannung herausnehmen. Das ist vielleicht aber auch Geschmackssache.

Eine gute Geschichte, die ich gern gelesen habe.

 

He Schwups,

vorweg, eine schöne Geschichte hast du da geschaffen, die mich sehr gut, wie man so sagt, unterhalten hat.
Magnus, eigentlich ja nicht der Name fürs Bedeutungslose, ließ vorausgreifend ahnen, dass hier das Unauffälige, Gespensterhafte zu Anderem, Größerem heranreifen würde. So geschah es ja auch.
Die Szene mit dem Klassenzoo ist eine starke, das mysteriöse Verschwinden des Goldfisches, eine Vorwegnahme des kardinalen Verschwindens deines Prot selber.
Der Teil, welcher die Slots beim Abi-Fest behandelt - so als einziger, kleiner Kritikpunkt -, vielleicht ein wenig breit-lang, die sich dann aufbauende Spannung (im Saal und beim Leser) jedoch gründlich gelungen, auch wenn ich 's ja ahnte ...
Dieses kollektive Bewußtsein des Wir ist mir auch aufgefallen, und klar es hat bisweilen ein Komisches, sich ein gleichgeschaltetes Hirn vorzustellen, dass dem Prot erzählend gegenübersteht. Ich habe diese Ungewöhnlichkeit nicht als störend wahrgenommen, doch auch nicht als ein für diese Story unvermeidlichen Kunstgriff.
Die Vorschläge es hier mit einem non-dominanten Ichler zu versuchen (ähnlich dem, der bei "Auf dem Gummiplatz" bei randundband durch den Plot führt / eine KG, die auch sonst zu deiner interessante Parallelen aufweist), wär vllt einen Versuch wert.
Gern gelesen
7

 
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Hallo Schwups,
ich habe ein paar Probleme mit der Geschichte. Ich will voranstellen, dass ich deine Vorhölle gelesen habe und dich jetzt nun mal an diesem tollen Text messen muss.
Daher zunächst was zu der Atmosphäre. Du setzt dich ja hier mit dem Thema Mobbing auseinander. Das ist ja schon was sehr Bedrückendes und man fragt sich, wie ein Mensch, der in eine solche Isolation getrieben ist, sich fühlen muss. Ich finde, das ist ein sehr schwieriges Thema und für meinen Geschmack gehst du es etwas zu analytisch an. Da sind so ein paar Sätze, wenn der Erzähler die Dinge ordnet, die waren mir zu erklärend. Ich meine dabei sowas:

Also taten wir, was Kinder mit dem Fremden machen, das sie nicht fürchten: wir suchten die Konfrontation.
oder
Wie in vielen Fällen wird die Wahrheit banal gewesen sein: Magnus hatte erkannt, dass besonders der einsame Mensch etwas braucht, in dem er gut ist.
oder
Es gibt wenige Dinge, die faszinierender sind als der tiefe Fall eines anderen Menschen.
Da sind noch ein paar. So untergeschobene Erkenntnisse/Weisheiten. Ich weiß nicht, stellenweise fühle ich mich in dem Text ein wenig geschubst. Da fehlt mir der Platz für eigene Gedanken, weil der Autor das ganze schon vorab entschieden hat, die Rollen verteilt hat und mir gesagt hat, was ich von den Dingen zu halten habe. Und dann alles leicht überzeichnet hat, damit man sich ja nicht bei seinem Urteil irrt.
Du willst auch so ein eindeutiges Opfer aus Magnus machen und schießt, finde ich, ein wenig über das Ziel hinaus, indem die Verhältnisse nach meinem Geschmack zu eindeutig, ich will nicht sagen, klischeehaft dargestellt sind.
oder sein Essen – selten mehr als ein trockenes Brötchen
Muss es wirklich ein trockenes Brötchen sein? Haben seine Eltern kein Geld für ein Stück Käse drauf? Und müssen die Lehrer auch so gemein zu ihm sein? Da heult ein Junge, zum ersten Mal in seinem Leben vor den anderen und der Lehrerin fällt nichts besseres ein, als zu behaupten, er hätte seinen Fisch das Klo heruntergespült. Und dann muss er noch in Simpsonsmanier diesen komischen Satz an die Tafel schreiben. Ne, das ist mir eindeutig zu viel.
Und der Haag muss auch ein Herz aus Stein haben und den Jungen fertigmachen. Das ist mir auch zu zugespitzt. Von wegen, seht her, hier ist ein Opfer und die ganze Welt hat sich gegen ihn verschworen. Ich hätte es gerne subtiler gehabt.
Die Jungs sind auch recht eindimensional und im Rückblick auch alle zu einheitlich bestürzt. Diese Verhältnisse haben für mich keine Überraschung. Mir ist es immer lieber, wenn ich die Charaktere mit gemischten Gefühlen betrachten kann und ich finde, dass dein Text dafür keinen Platz bietet.
Dann hat die Geschichte meiner Meinung nach auch eine Länge. Und zwar dort, wo sie sich bei dem Abibal versuchen zu einigen, wann Magnus auftreten kann. Da ist mir zu viel hin und her. Ohne Not, wie ich finde.
So, genug kritisiert. Ich glaube, die schwierigen Stellen habe ich jetzt hervorgehoben.
Was ich echt gut fand, war diese Verwandlung, die mit Magnus passiert, wenn er anfängt zu zaubern. Dieser Gedanke gefällt mir. Auch dass sich die Leute daran irgendwann sattsehen und ihn das ärgert. Diese Momente konnte ich gut nachfühlen. Das hat funktioniert. Auch das Ende mochte ich. Dass er verschwunden ist, passt mir gut. Es hinterlässt eine Beklommenheit, die des Themas angemessen ist.
Ich hoffe, du kannst mit meinem Kommentar was anfangen. Bitte versteh mich nicht falsch. Ich finde, du kannst echt gut schreiben, dass dein Stil sehr leserlich ist, muss ich dir wohl gar nicht sagen. Aber wenn man mal einen richtig guten Text geschrieben hat, dann sind die Erwartungen halt sehr hoch.
lg, randundband

 
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Servus Schwups,

an sich bin ich ja jeglichem paranormalen Kram abhold und gerade dieser spielt in deiner Geschichte eine einigermaßen tragende Rolle, das beginnt ja schon im ersten Satz mit der Erwähnung eines Geistes, dann verschwindet ein Goldfisch und ein Geldschein levitiert, ganz zu schweigen von dem mysteriösen Ende. Erstaunlicherweise stellte ich während des Lesens diese Absurditäten überhaupt nicht in Frage, ich empfand die Geschichte auch nicht als in der falschen Rubrik stehend, sondern war einfach von Anfang an gefesselt. Natürlich wartete ich die ganze Zeit auf eine plausible Erklärung, gegen Ende allerdings, als auch noch die Hauptfigur spurlos verschwindet - was ab dem Vorbereiten der beiden Kisten auf der Bühne für mich zwar vorhersehbar, aber deswegen nicht minder spannend zu lesen war – trat mein Bedürfnis nach Aufklärung immer mehr in den Hintergrund.
Dass ich die Handlung der Geschichte so vorbehaltlos akzeptieren und nachvollziehen konnte, liegt wohl in erster Linie an deiner sprachlichen und stilistischen Souveränität und an der Glaubwürdigkeit, mit der du die Figuren und das gesamte Ambiente entwirfst, diesen gnadenlosen Schulalltag, die Grausamkeit der Kinder einem Außenseiter gegenüber, die Gefühllosigkeit und Brutalität der Clique der Alphatiere. Das hat ja auf die eine oder andere Art jeder selbst erlebt, in jeder Klasse gab und gibt es mindestens einen, der aus den fadenscheinigsten Gründen zum Paria wird, und, so er einmal als Looser abgestempelt ist, dieser Rolle bis zum Ende seiner Schullaufbahn nicht mehr entkommt. Und dass diese konsequente psychische Zerrüttung eines Kindes letztendlich in einer physischen Selbstauslöschung gipfelt, hat halt eine gewisse Folgerichtigkeit und es gelingt dir, die sehr plausibel zu beschreiben.
Das ist alles schon sehr packend und berührend geschrieben, und obendrein leider von zeitloser Aktualität.

Eine Kleinigkeit noch:
Ähnlich wie Ane ließen mich von Beginn an die Cordhosen und abgetragenen Pullover an die 60er, 70er denken, der Eindruck wurde etwas später durch diese unpackbar arschlöchigen Lehrer bestätigt, die mir aus einem wirklich finsteren Jahrhundert zu stammen schienen. Ich hinterfragte das auch nicht weiter, bis ich dann später darüber stolperte:

„Es gibt keinen freien Slot“, sagte Ulrike
Dieser Begriff schien mir so überhaupt nicht in die von mir imaginierte Zeit zu passen. Da musste ich sozusagen mein bisheriges Verständnis der Geschichte revidieren. Ja, eine Kleinigkeit nur, aber doch ein winziger Stolperstein halt.

Für mich eine wirklich gelungene und vor allem toll geschriebene Geschichte, Schwups.


offshore

 
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Hallo Schwups,

zunächst einmal Punkte, zu denen ich etwas anmerken möchte

1. Zitat: Seine Cordhosen und abgetragenen Pullover fielen schon auf, als Kleidung für uns noch keine Rolle spielte.

Anmerkung: Das finde ich mehr als nur unpräzise ausgedrückt. Ich weiß natürlich, was du meinst, aber beim ersten Lesen geriet ich in Stolpern. Die Frage ist doch, was du da eigentlich ausdrücken willst. „Fiel auf“ ist dafür genau die falsche Beschreibung. Im Grunde genommen willst du doch die Unauffälligkeit dieses Jungen hervorheben. Er fiel eben nicht auf, was seine graue Kleidung nur noch verstärkte. Er war ein Geist. Oder (wie ich finde) noch präziser als diese Geistmetapher: Er war ein Phantom. Ich will dir da keine Verbesserungsvorschläge machen, weil du mit deinen sprachlichen Fähigkeiten selbst eine Lösung finden wirst. Aber dieses „fiel auf“ ist nicht nur unpräzise, sondern widersprüchlich.

2. Zitat: Er war ein Geist, weil er He-Man nicht kannte und Fußball nicht spielte, weil er fremd blieb.

Anmerkung: Schon wieder gestolpert. Ich empfinde diesen Satz holprig, und die die Erwähnung, dass er „fremd blieb“ unnötig. Das sagst du ja schon mit den beiden ersten Beschreibungen, die das viel konkreter und mit zeitgenössischen Beispielen erledigen. Die hinterhergeschobene Erklärung saugt den Beispielen die Kraft aus und gibt dem Leser zu verstehen: Falls du das mit den Beispielen nicht verstanden hast, hier noch mal die allgemeine Erklärung. Aber warum?
Der erste Teil des Satzes ist umständlich. Warum nicht einfach:

Er war ein Geist, weil er weder He-Man kannte noch Fußball spielte.

3. Zitat: Also taten wir, was Kinder mit dem Fremden machen, das sie nicht fürchten: wir suchten die Konfrontation.

Anmerkung: Tja, schon wieder gestolpert. Du merkst, mich hat dein Einstieg nicht so überzeugt. Ich finde das mega Kompliziert ausgedrückt. Du betonst die Einfachheit, mit der Kinder denken und Entscheidungen fällen in einem echt komplizierten Satz. Das erzielt bei mir keine Wirkung. Auch da weiß ich natürlich, was du meinst, aber ich finde es nicht auf den Punkt gebracht-

„... mit dem Fremden machen, das sie nicht fürchten ...“ Das liest sich wie eine Tatsache, eine Weisheit. Ich halte sie aber für falsch. Die ganze Aussage ist irgendwie wackelig. Auch hier müsstest du genau hinterfragen, was du dem Leser mit diesem Satz eigentlich sagen willst.
- Magnus Verhalten ist den Kindern fremd.
- Sie halten ihn für schwach
- Und weil sie ich für schwach halten, bekommt er regelmäßig was auf die Mütze

Insofern taten sie das, was fast alle Kinder machen. Sie entdeckten einen schwachen Außenseiter und begannen, auf ihm herumzuhacken.

4. Zitat: In der dritten Klasse tauften wir ihn.
Wir erinnern uns nicht, wie wir ihn bis zu diesem Tag nannten, wenn wir sein Mäppchen vom Tisch fegten oder sein Essen – selten mehr als ein trockenes Brötchen – in den Dreck warfen. Wir standen dann um ihn herum, hielten Tupperware-Schüsseln mit Wurstbroten und geschnittenen Äpfeln in den Händen und lachten, wenn Magnus sein Frühstück vom Boden klaubte, an der Hose abwischte und aß. Wir fragten, ob er arm sei, aber an seine Antwort erinnern wir uns nicht.
An jenem Tag durften wir Haustiere in die Schule mitbringen.

Anmerkung: Hier finde ich den ersten Satz falsch platziert. Mein Vorschlag:

Wir erinnern uns nicht, wie wir ihn anfangs nannten, wenn wir sein Mäppchen vom Tisch fegten oder sein Essen – selten mehr als ein trocknes Brötchen – in den Dreck warfen. Wir standen dann um ihn herum, hielten Tupperware-Schüsseln mit Wurstbroten und geschnittenen Äpfeln in den Händen und lachten, wenn Magnus sein Frühstück vom Boden klaubte, an der Hose abwischte und aß. Wir fragten, ob er arm sei, aber an seine Antwort erinnern wir uns nicht.
Erst in der dritten Klasse tauften wir ihn. An jenem Tag durften wir Haustiere in die Schule mitbringen.

5. Zitat: Alle lachten. Auf schummrige Art verstanden wir, dass sich der Fisch und Magnus ähnelten – beide standen am Beginn der Nahrungskette. Unsere Sympathie für sie verschwand, und mit verkniffenem Gesicht stülpte Magnus die Stofftasche über das Glas.

Anmerkung: Also zunächst finde ich die Einsicht der Wir-Perspektive, die sich ja zunächst selbst dazu bekennt, nur auf eine „schummrige Art“ die Ähnlichkeit zwischen Magnus und dem Fisch zu erkennen, und diese „schummrige“Art (die doofen Mitschüler eben) schafft dann aber doch noch diesen schon sehr beeindruckenden Vergleich mit der Nahrungskette. Nach meinem Empfinden beißt sich da was in den Aussagen, und du kannst entweder den ersten Teil dieser Aussage nehmen oder den zweiten Teil.

6. Zitat: die aufgewirbelten Futterreste verwandelten es in eine Schneekugel,

Anmerkung: ein tolles Bild!

7. Zitat: Magnus verschränkte die Arme vor der Brust. „Jetzt seid ihr verblüfft.“

Anmerkung: Bitte die wörtliche Rede weglassen. Das raubt ihm diesen Moment und macht ich wieder klein.

8. Zitat: Übertroffen nur von der Vorstellung fünf Jahre später, der Vorstellung am letzten Abend.

Anmerkung: Ja, ja, die guten, alten Cliffhanger ;-)

9. Zitat: Sie trug ein blaues Kleid mit einem falschen Lächeln.

Anmerkung: Das klingt komisch, als wäre das Lächeln aufs Kleid genäht. Ja, es ist schon klar wie du es meinst, aber in diesem Zusammenhang funzt das nicht. Sie trug echte Perlen und ein falsches Lächeln - das wäre lustig. Oder eben einfacher. Sie trug ein blaues Kleid und lächelte unsicher/falsch/gespielt/maskenhaft/starr/unecht.

Tja, nach so vielen kritischen Anmerkungen wirst du mir es wahrscheinlich kaum noch glauben, aber ich fand die Story gut und fesselnd und der Spannungsbogen hat mich trotz der Länge gut durch die Handlung getragen. Aber auch ich tat mich schwer mit der Erzähler-Perspektive. Eine erzählende, namenlose und gesichtslose Gruppe, das war an einigen Stellen passend, aber oft fand ich es ... seltsam. Dennoch ist es ein mutiger Schritt, bei dem du dir sicher etwas gedacht hast. Für mich steht dieses "WIR" einfach für die Tatsache, dass der Außenseiter halt immer gegen die Menge kämpft, und das die Menge vor ihm wie eine Wand steht. In ihrer kollektiven Verachtung ist die Menge und damit das WIR jämmerlich und erbärmlich und dein Erzähler wirkt immer noch feige, weil er sich in dieser Menge auch noch versteckt, als er Magnus' Geschichte erzählt. Wenn du diese Wirkung so haben wolltest, dann kann ich dir bestätigen, dass es bei mir so ankam. Aber man fühlt sich als Leser mit dieser Perspektive nie richtig wohl. Sie ist unangenehm. Sie gibt einem ein zwiespältiges Gefühl.

Da ich Zauberstorys liebe (Prestige ist einer meiner Lieblingsfilme!), hat mich die Handlung grundsätzlich begeistert. Mir fehlt an einigen Stellen ein wenig der Fluss und ich denke, du könnest noch Einges kürzen und raffen. Aber was mich besonders begeistert hat, ist der Ausgang der Story. Dass Magnus einfach verschwindet. Und was ich (ich bin halt für das Spektakuläre) so ein bisschen gehofft habe: Wenn die zweite Kiste geöffnet wird, ist da statt "Nichts" ein Goldfischglas mit einem Goldfisch drinnen, das hätte das ohnehin schon tolle Ende in meinen Augen noch etwas ... magischer gemacht. Als Filmszene stelle ich mir das geil vor. Aber es ist deine Story, und vielleicht will ich da auch zu viel.

Diese Gemeinschaftsstimme ist mir insgesamt etwas zu geschwätzig, neigt zu philosophischen Vergleichen und gibt Weisheiten von sicht, die mal nicht stimmig klingen, und mal schon sehr (und damit zu) tiefsinnig/feinfühlig klingen. Das ist dann recht widersprüchlich (siehe Beispiel 3.)

Nicht zum ersten Mal erinnert mich dein Stil und deine Themenauswahl an Stephen King. Du hast es echt drauf, den Leser zu packen und heiß auf den Ausgang deiner Stroy zu machen.

Aber ich finde, da steckt noch etwas Arbeit drin, um den Text zu optimieren.

Rick

 

So, erstmal vielen Dank euch allen – Ane, katzano, 7miles, randundband, Ernst und Rick – für eure Zeit und das hilfreiche und konstruktive Feedback.

Bei der Geschichte hab ich lange überlegt, ob ich sie einstellen oder nochmals überarbeiten soll, weil ich mit bestimmten Teilen nicht glücklich war – aber letzten Endes hatte ich einen Punkt erreicht, wo ich nicht mehr sicher war, ob der Text besser oder schlechter wird, also hab ich beschlossen, es wird Zeit für Rückmeldung von anderen Leuten. Und eure Antworten helfen mir da schon sehr weiter.

Ich habe jetzt zunächst den Einstieg geändert, die Sache mit der Kleidung, das wurde ja öfter genannt. Außerdem ein paar offensichtliche Dinge, auch das Verhalten von Hr. Haag gegenüber Magnus habe ich etwas „abgeschwächt“, er wirkt jetzt nicht mehr ganz so ruppig. Das waren mal die Dinge, die ich „auf die Schnelle“ gemacht habe.

Ich werde jedem von euch noch ausführliches Feedback zum jeweiligen Kommentar geben, heute schaffe ich das leider nicht mehr. Nur zu einem Punkt möchte ich noch was sagen, weil der auch oft genannt wurde (womit ich auch gerechnet habe): die Perspektive des Erzählers.

Das war tatsächlich mal ein Versuch, wie eine Geschichte ankommt, die konsequent in der 1. Person Plural erzählt ist. Der Ich-Erzähler wird ja oft gewählt und eignet sich auch sehr gut für Kurzgeschichten (was mir aufgefallen ist, er wurde in allen Geschichten gewählt, die für die Top-Wahl 2012 nominiert waren). Mir war klar, dass er auch hier naheliegend gewesen wäre, aber mich hat es einfach mal gereizt, da was anderes zu probieren, weil es auch zum Thema passt – klar, es geht darum, dass sich hier eine Gemeinschaft gegen den einzelnen stellt, und der Erzähler in diesem Kollektiv verschwindet. Zwar ist ihm die Schuld bewusst, aber er wird nicht so weit gehen zu sagen: ich übernehme die Verantwortung für mein Handeln. Er verteilt die auf mehrere Schultern, indem er immer vom „wir“ spricht. Ich hatte dabei einen von den Typen vor Augen, die sich immer in der Gruppe stark fühlen - da fand ich es konsequent, auch nur aus Sicht der Gruppe zu erzählen.
Mir ist klar, dass bei aller Ähnlichkeit zum Ich-Erzähler es ein paar feine Unterschiede gibt, und ich die nicht immer sauber eingehalten hab in der Geschichte. Ich hab das an einigen Stellen überstrapaziert, wenn es dann bspw. heisst: „Wir träumten“. Da ist dann wohl eine Grenze erreicht, wo es schwierig wird in der Perspektive, und da werde ich sicher auch nochmal drübergehen.
Grundsätzlich möchte ich aber versuchen, das „wir“ durchzuziehen. Aber ich muss da nochmal über das nachdenken, was ihr geschrieben habt.

Soweit mal mein erstes Feedback – ausführlicher wird es dann die nächsten Tage.

Bis dahin,
viele Grüße
Schwups

 

Hallo Schwups, ich muss gleich los und hab auch eigentlich keine Zeit, trotzdem ein knappes Feedback zu der Perspektive von "Abrakadabra".
Ich hab deine Geschichte, die ich übrigens sehr gut finde, schon länger gelesen und die Perspektivenfrage geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich würde sie unbedingt lassen. Keinen Icherzähler dafür einsetzen.
Ich finde es auch nicht schlimm zu lesen: "Wir träumten".
Man könnte das Ganze ja auch folgendermaßen sehen:
Den einen Grund für diese Perspektive hast du selbst genannt: Der einzelne Mobber verschwindet in diesem Wir, übernimmt keine Verantwortung, ist nur als "Wir" stark.
Dieser Punkt hat aber auch noch eine andere Seite. Rick hat es so beschrieben, dass er die Erzählstimme als feige bezeichnet. Und: man würde sich mit dieser Perspektive nicht wohlfühlen. Und genau deswegen musst du sie beibehalten. Das ist der Blick einer Menge ganz normaler Jungs, die einen anderen zur Auflösung getrieben haben. , Und dabei erzählst du Verhaltensweise, die jeder kennt. Manchmal leider sogar von sich, obwohl man sich das nicht zugestehen will. Aber: Keiner ist doch der strahlende Ritter, der mit dem Antimobbingschwert durch die Gegend rennt. Jeder hat doch schon mal weggeschaut.
Es sind Jungs, die im Nachhinein Angst und Schuld empfinden, aber als Kollektiv eben. Nein, Teil dieses Wir möchte man nicht sein, du zwingst einen aber dazu, diese Sicht einzunehmen.
Deine Geschichte hat eine Einsaugwirkung, spannend geschrieben ist sie sowieso, sie zwingt einen dazu, einen sehr selbstkritischen Blick einzunehmen und man erhält gleichzeitig einen Blick auf Magnus, der ja trotz (oder vielleicht wegen der Perspektive) sehr mitfühlend gezeichnet ist, der immer einer Masse gegenübersteht. Der immer allein ist. Ich meine, dass dieses Ineinandergreifen der Perspektve auf die Gruppe und auf Magnus, den Nichtprotagonisten, auch ein Grund für diese Saugwirkung ist. Von daher sehe ich diese Perspektive als aufdeckend, aufklärerisch, zur Reflexion einladend an.
Gefällt mir ausgesprochen gut.
Lass es dir gut gehen, lieber Schwups

 

Hallo Schwups,

eine ordentliche Geschichte, welche mich sofort an die Mutter aller Teenagergeschichten „Carrie“ erinnerte. Ich mag auch diese Zaubergeschichten: „Prestige“ ist ein ganz toller Film und auch „Potter“ hat starke Momente.

Zur Story: Der erste Satz verwirrt mich. Ich würde schneller oder anders mitteilen, das Magnus, ein Mensch, dieser Geist ist, beispielsweise:
Magnus war ein Geist. Ein leibhaftiger Geist in unserer Klasse …

Als die Kinder ihre Haustiere mitbrachten, schwante mir schon angenehm Böses, das nenne ich mal Suspense.

Dann geht es professionell weiter, eigentlich ist ja schon alles gesagt worden.
Alle Achtung, das Ding ist ziemlich gut,

Danke nastro.

 

Hallo Schwups,

An deiner Geschichte finde ich besonders den Vergleich des gehemmten und isolierten Knaben mit einem Geist gelungen. Ich musste an Goethes Drama Tasso denken, deren Hauptfigur Tasso, ein menschenscheuer Dichter, sich selbst als einen "Abgeschiedenen" bezeichnet. "Abgeschieden" bedeutet "einsam", "isoliert (von der Welt, von den Menschen und ihrem Getriebe)"; "abgeschieden" nennt man zugleich auch einen Verstorbenen. Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen Goethes Tasso und deinem Magnus: Tasso ist nicht von den Menschen aus ihrer Gemeinschaft herausgemobbt worden, sondern hat sich aus eigenem Antrieb in seinen Elfenbeinturm zurückgezogen. Gemeinsam aber ist: Beide nehmen nicht voll am Leben der Menschen teil (Magnus spielt zum Beispiel nicht mit beim Fußball), beide führen eine zurückgezogene, schattenhafte Existenz - Stichwort "Schatten" - in der Antike glaubte man, dass die Verstorbenen, die Abgeschiedenen als Schatten in der Unterwelt leben, also unkörperlich, als Gespenster, als Geister - und solch eine schattenhafte Existenz muss Magnus schon als Kind führen, weil die "Klassenkameraden" ihn nicht an ihrem Leben teilnehmen lassen. Als Geister pflegen im Volksglauben auch die Abgeschiedenen zu den Lebenden zurückzukehren, vor allem, wenn die Lebenden ein schlechtes Gewissen haben und deshalb Gespensterfurcht empfinden - so die Klassen"kameraden" beim Klassentreffen.

Gut finde ich auch den Vergleich des gehemmten Knaben mit einem Fisch. Als Archetyp, also als allen Menschen angeborene Vorstellung, steht ein Fisch für einen noch ungeborenen Menschen, der im Fruchtwasser des Uterus wie ein Fisch im Wasser lebt. Und die Existenz im Mutterschoß steht oft für Regression, wenn ein Mensch nicht (wieder) ins feindliche Leben hinaus will, sondern zurückgezogen in der mütterlichen Geborgenheit lebt. Deinen Magnus zieht es ja hinaus ins Leben, aber die Klassen"kameraden" empfangen ihn mit Kränkungen, so dass Magnus seine zurückgezogene, regressive Lebensweise nie vollständig aufgeben kann und sich am Schluss in sie zurückzieht.

Grüße
gerthans

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ane

Ich verstehe irgendwie, dass Du Magnus gleich zu Beginn einen Geist nennst, dann schliesst sich am Ende der Kreis, aber für mich nimmst Du damit etwas vorweg und bemühst den Begriff zu sehr. Ein unscheinbarer Junge ist kein Geist (nebenbei: Für mich z.B. gehören Cordhosen und verwaschene Strickpullis einfach mal zum guten Ton, in der Zeit, die ich der Geschichte unbewusst verpasse), da mag er noch so fremdartig und leise sein.

Die Cordhosen sind inzwischen rausgeflogen. Der passende Begriff hier ist schwierig. „Geist“ ist natürlich nicht im Sinne eines übernatürlichen Wesens gemeint, es soll wirklich das Fremde betonen, das im Text immer wieder Erwähnung findet. Aber „In unserer Klasse gab es einen Fremden“ klingt irgendwie komisch. Rick hat „Phantom“ als möglichen Begriff in die Runde geworfen, den finde ich auch nicht schlecht.

Man muss berücksichtigen, dass hier rückblickend erzählt wird. Ereignisse, welche der Erzähler als Kind erlebt hat, mischen sich mit seinen Deutungen aus der Gegenwart. Das passiert an vielen Stellen. Und aus heutiger Sicht beurteilt er Magnus als Geist. Insofern muss diese Erwähnung nicht bedeuten, dass die Kinder Magnus schon in der 3. Klasse als Geist empfunden haben – er ist eher im Rückblick zu einem geworden.

"Wir erinnern" klingt, als würden sie immer noch gemeinsam in irgendeinem vergessenen Klassenraum hocken.

Wenn in der Geschichte „wir“ erwähnt wird, dann ist eine kleine, abgegrenzte Gruppe gemeint. Jeder Name, der gesondert erwähnt wird, gehört nicht mehr zu dem „wir“. Das ist eine Clique von vier, fünf, vielleicht drei Leuten, mehr sollen das gar nicht sein. Und ja, die haben auch 20 Jahre nach dem Abi noch Kontakt miteinander und reden natürlich noch oft über Magnus.

Diese Abgrenzung zwischen dem „wir“ und „den anderen“, das muss ich noch stärker rausarbeiten. Vielleicht reicht da irgendwie ein Satz oder so. Ich lass mir das mal durch den Kopf gehen.

Dieser Satz hier legt nahe, dass keine andauernde Verbindung besteht (was Du vermutlich auch nicht gemeint hast, es liest sich aber so, es ist zu dick aufgetragen), wohlmöglich würde dann ein Klassentreffen eher gemieden werden, weil alle des ständigen schlechten Gewissens längst überdrüssig geworden sind.

Das hast du schon richtig gelesen, es gibt keine andauernde Verbindung zum Grossteil der Leute, die zum Klassentreffen kommen. Aber die kleine Gruppe, die damals schon zusammengehörte, die treffen sich noch immer regelmässig. Ich denke, das wird den meisten so gehen – zu vielen früheren Klassenkameraden hat man keinen oder nur noch sehr wenig Kontakt, nur mit wenigen trifft man sich auch nach 20 Jahren noch regelmässig.

Womit ich auch so meine Schwierigkeiten habe, ist das Ende. Es ist hochmoralisch, es verurteilen sich diejenigen selbst, die verurteilt haben, aber dadurch entsteht beinahe das Gefühl, nun wäre es ja irgendwie abgegolten.

Ich finde es gar nicht so moralisch, aber ich verstehe deine Argumentation. Die wirkliche Intention von Magnus, seinem Verschwinden, bleibt ja unklar. Es ist also durchaus möglich, dass er nicht verschwunden ist, um es seinen Peinigern „heimzuzahlen“ – ich finde das sogar die schönere Lösung (auch wenn die Geschichte es offenlässt). Letzten Endes geht das alles nur auf das Gefühl des Erzählers zurück, und ich wollte damit andeuten, wie schwierig es ist, so etwas zu verarbeiten. Und das glaube ich wirklich, gar nicht in einem moralischen Kontext betrachtet, sondern es ist grundsätzlich mal schlimm, wenn ein Mensch, den man 13 Jahre jeden Tag gesehen hat, einfach verschwindet. Und wenn es dann auf die Art und Weise passiert – ich denke, das nagt dann schon an einem. Das wollte ich mit dem Ende ausdrücken. Und wenn er wieder auftaucht, dann könnte auch der Erzähler dieses Kapitel abschliessen.

Nimmt den Spitznamen irgendwie vorweg.

Das war natürlich Absicht. Aber ich denke, in dem Moment, wenn man die Stelle liest und den Spitznamen nicht kennt, sagt einem das nicht viel. Ein paar Absätze später sollte dann der „Aha“-Effekt kommen – na ja, hat wohl nicht so ganz geklappt :)

Das war mir zu stark. Als wär da ein optischer Filter drüber gesetzt.

Einverstanden. Es klingt auch nicht so toll, ist geändert.

würd ich eindeutig machen. Entweder eins der Mädchen oder Ulrike, ohne vllt.

Mir gefällt das hier, an einigen Stellen finden sich vielleichts und vermutlichs etc. Es soll betonen, dass hier aus der Erinnerung erzählt wird, aber aus einer Erinnerung, deren Details immer mehr verblassen.

da hab ich gesucht, weil ich dachte ich hätte Sabine überlesen, aber vorher tauchte sie nicht auf. Vllt könnte man sie anders vorstellen.

Bin ich absolut einverstanden. Hinter Sabine hab ich noch ein Fragezeichen, da war ich gespannt, wie das so ankommt, weil ja extrem wenig über sie erzählt wird. Ich hatte da zwar Stellen drin mit Hintergründen zu ihr, aber die haben nie so richtig reingepasst. Aber ich werde sie anders einführen, auch das ist als Punkt notiert.

Für mich der eigentliche Dreh und Angelpunkt. Aber nicht unbedingt der Schwerpunkt der Geschichte, oder?

Nein, nicht der Schwerpunkt. Aber Mobbing hängt ja immer mit Schadenfreude zusammen, man will sich stark fühlen, indem man jemand anderen schwächer macht. Ich denke schon, dass ein solches Gefühl da auch eine wichtige Rolle spielt.

Damit erweckst Du bei mir enorme Erwartungen. Dass etwas oder jemand verschwindet, das wär für mich nichts, was nicht stimmt.

Na ja – es handelt sich ja schon nicht um einen gewöhnlichen Zaubertrick. Dieses „nicht stimmt“ - es wird halt kein normaler Abend, sondern es passiert etwas Denkwürdiges.

Aber sein Verschwinden wird für meinen Geschmack zu ausführlich vorbereitet, dadurch verpufft die Wirkungs des Verschwindens selbst.

Damit wird der Höhepunkt ein bisschen verzögert. Diese Unterhaltung, was Magnus für einen Trick zeigen könnte – da wird mit der Erwartung des Lesers gespielt.

Hach, ich vermisse den guten alten Ich-Erzähler aus reiner Faulheit, das geb ich zu. Weil dieses Wir (das ich oben schon beanstande) mich nötigt, mir vorzustellen, wie die ehemaligen Klassenkameraden sich regelmäßig zumindest zu so etwas wie einer Telefonkonferenz zusammenfinden.*

Ja, wie ich es schon geschrieben habe, ist hier vielleicht eine Grenze der gewählten Perspektive erreicht. Ich bin da noch unschlüssig.

Ich hab die Geschichte gern gelesen.

Das freut mich – ebenso wie dein Kommentar mit vielen guten Hinweisen.

***

Hallo katzano

und obwohl deine erzählte Zeit recht lang ist, verfällst du nicht in die Falle, vieles rückblickend zu beschreiben, sondern du zeigst den Werdegang an vielen einzelnen Beispielen, die sich insgesamt zu einem Bild zusammenfügen.

Bei dieser Rückmeldung ist mir echt ein Stein vom Herzen gefallen – da hab ich auch lang überlegt, kann man das so machen? Im Prinzip drei Szenen, zwischen denen jeweils fünf Jahre liegen? Ist für eine Kurzgeschichte ja eher ungewöhnlich. Ich hab überlegt, Magnus den Trick früher aufführen zu lassen, vielleicht schon in der siebten Klasse oder so, aber das erschien mir einfach nicht passend. Schön, wenn es sich dennoch alles zu einem Bild zusammenfügt.

In der Geschichte gibt es nichts und wird nichts behauptet, was sie nicht selbst so erlebt haben oder was sie sich schließlich zusammenreimen.

Genau. Wie ich in der Rückmeldung zu Ane geschrieben habe, es wird hier vermischt. Sie erzählen Szenen von damals, lassen aber Erklärungen aus heutiger Sicht hineinfliessen.

Was mich beim Lesen selbst verblüfft hat: Hätte ich mich hypothetisch gefragt, ob mir eine Geschichte mit einem sehr unsympathischen Erzähler gefallen könnte, ob ich sie überhaupt zuende lesen würde, hätte ich verneint. Deine Geschichte hat bei mir aber einen Sog ausgelöst, sodass ich sie unbedingt zuende lesen musste. *

Ich glaube, es spielt gar nicht so eine Rolle, ob man die Erzähler sympathisch oder unsympathisch findet, beide können gute Geschichten erzählen. Jede Emotion gegenüber einem Erzähler oder einer Figur ist grundsätzlich mal gut – denn dann hat man den Leser irgendwie erreicht. Am schlimmsten sind die Erzähler/Figuren, die einem egal sind. Die einen langweilen.
Auch die Erwähnung des Sogs hat mir gefallen. Das war natürlich schon die Absicht – alles steuert auf den letzten Abend zu, wo dann vor hunderten von Leuten das grosse Finale stattfindet.

Ich würde mal mit einem Ich-Erzähler experimentieren, ein paar Absätze entsprechend umschreiben und sehen, welche Wirkung der Text dann auslöst.

Ich habe überlegt, vielleicht im letzten Absatz umzuschwenken. Aber ich tu mich schwer damit, das gebe ich zu. Auf mich wirkt das dann wie ein Bruch. Denn die Weigerung des Erzählers, mit eigenem Namen für das Geschehene einzustehen (oder auch schon mit einem: Ich), soll das Gruppengefühl von damals hervorheben. Es ist ja oft so: eine Gruppe tut irgendwas, und am Ende weiss keiner so Recht, wer eigentlich die Idee gehabt hat. Da gibt es dann kein „ich“ mehr, da spielt nur noch das „wir“ eine Rolle. Im letzten Absatz könnte ich da noch am ehesten umschwenken, weil das in der Gegenwart spielt. Mal sehen.


Da immer wieder auch die Reaktion des Publikums einbezogen wird, auch die Nervosität von Sabine, baut sich eine enorme Spannung auf.

Du hast viele Dinge so gelesen, wie ich wollte, dass sie beim Leser ankommen :). Das freut mich dann immer besonders, wenn ich solche Rückmeldungen bekomme.

Ich danke dir, katzano, für dein Lob und deine Beobachtungen zum Text.

***

Hallo 7miles

vorweg, eine schöne Geschichte hast du da geschaffen, die mich sehr gut, wie man so sagt, unterhalten hat.

Das ist vermutlich mein Hauptantrieb, warum ich überhaupt schreibe (oder lese): wegen der Unterhaltung. Ich finde das mit das schönste Kompliment, was man bekommen kann.


Die Szene mit dem Klassenzoo ist eine starke, das mysteriöse Verschwinden des Goldfisches, eine Vorwegnahme des kardinalen Verschwindens deines Prot selber.

Genau, wohl der deutlichste Hinweis auf das, was am Ende geschieht. Es finden sich noch an zwei oder drei anderen Stellen Andeutungen dafür.


Der Teil, welcher die Slots beim Abi-Fest behandelt - so als einziger, kleiner Kritikpunkt -, vielleicht ein wenig breit-lang, die sich dann aufbauende Spannung (im Saal und beim Leser) jedoch gründlich gelungen, auch wenn ich 's ja ahnte ...

Ja, das ist Vorbereitung und soll der Spannung dienen.
Ja ich glaube man ahnt was kommt. Die Möglichkeiten sind nicht so zahlreich. Erst hatte ich ein Ende geplant, in dem es nur eine Kiste gibt – aber das, dachte ich dann, ist zu offensichtlich. Also gab es die zweite Kiste und den Hinweis, er würde sich von einer in die andere bewegen. Aber es ist schwierig, das Verschwinden so in einen Trick einzubauen, dass keiner damit rechnet …

Die Vorschläge es hier mit einem non-dominanten Ichler zu versuchen (ähnlich dem, der bei "Auf dem Gummiplatz" bei randundband durch den Plot führt / eine KG, die auch sonst zu deiner interessante Parallelen aufweist), wär vllt einen Versuch wert.

Wie ich oben geschrieben habe – vielleicht im letzten Absatz, da kann ich es mir vorstellen.

Dir auch vielen Dank für deinen Kommentar und die Komplimente.

Auf die weiteren Kommentare gehe ich in den nächsten Tagen ein.

Bis dahin,
viele Grüsse
Schwups

 

Hallo Schwups,

diese Geschichte fand ich besonders interessant; sie liest sich leicht und flüssig. Die Thematik bleibt aktuell.

Für mich jedoch wird Magnus ab dann unsympathisch, als er beginnt zu Sabine, seiner einzigen Helferin, nicht mehr offen zu sein:

Wie sich herausstellte, war Sabine die einzige, die an diesem Abend zum Narren gehalten worden war.

Magnus verdient ab hier kein Mitleid. Sabine wird zur "Heldin" der Geschichte. Aufopferung ohne Dank. Aber vielleicht ist diese Wendung ja so beabsichtigt?

Viele Grüsse
Fugusan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey Schwups,

sehr schöne Geschichte! Das tut schon weh beim Lesen. Und ich fand den Wir-Erzähler gegen den Einzel-Magnus echt gut. Das hat eine befremdliche Wirkung irgendwie, man wird als Leser ja (gegen seinen Willen) Teil dieser Gruppe und somit zum Mitschuldigen. Man lehnt sich innerlich zwar immer wieder dagegen auf, und sagt, oh wie furchtbar, wie fies, und doch ist man ständig "wir". Das ist schon tricky und ich finde es auch sehr gelungen umgesetzt. Dieses kollektive Schuldgefühl als Thema hat mich an Köhlmeiers Musterschüler erinnert, weiß nicht ob Du das kennst, aber da wird das auch ganz stark herausgearbeitet.

Ich hatte noch die alte Version als Ausdruck und habe da hübsch drin rumgemalt. Mal schauen, was noch geblieben ist. Habe die Kommentare jetzt nur überflogen und festgestellt, wurde schon erwähnt. Ich sag es trotzdem nochmal, sofern ich es im Text noch wiederfinde :).


Er versteckte sich in farbloser Kleidung und wollte stets allein sein.

Ja, will er das? Deswegen Zauber und Party und so? Ich dachte immer, der wird alleinsein gemacht.

In der Grundschule hatten wir kein Wort für Schüchternheit, keines für Unterwürfigkeit, aber wir waren alt genug, um beides als Schwäche zu erkennen.
Und weil wir uns gegenüber dem Schwachen so stark fühlten, griffen wir ihn immer wieder an.

Ist noch drin. Also, mit dieser Art Zwischengequatsche habe ich mich wirklich schwer. Das hat zwei Gründe. Du springst da irgendwie von - ich erzähl Euch mal was von Früher - zu - reflektierten Gedanken Jahre später. Und, diese reflektierten Gedanken verkaufst Du mir dann auch noch als Wir-Gedanken, und das haut für mich nicht hin. Das sind nicht die Gedanken einer ganzen Gruppe. Die mögen vielleicht ähnliches denken und empfinden, aber es kann nur von einer Einzelperson kommen. Zudem finde ich, es erklärt auch über, das sind eigentlich so Gedanken, die deine Geschichte beim Leser auslösen sollte (und auch tun!), die müssen für mich gar nicht da drin stehen.

Wie ein Fisch. Wir lachten, als sie das sagte, obwohl sie (selbst) besorgt aussah.

Streichkandidat?

„Ist da ein Tier drin?“, fragte jemand, und es wurde still. Magnus rutschte auf dem Stuhl herum; zu oft schlug Aufmerksamkeit für ihn in Demütigung um, und jetzt musste er in zwanzig neugierige Gesichter blicken.

Da auch - das denkt doch kein Drittklässler. Ich bin aber gerade in der dritten Klasse, ich will da auch sein. Ich fühle mit Magnus mit, wenn er da auf seinem Stuhl zappelt und dann kommt dieser Erwachsene daher und analysiert mir das erst mal. Schade, schade.

Sein Gesicht bröckelte, als unsere Lehrerin an den/seinen Platz kam.

Alte Bauernregel: Niemals Körperteile entmenschlichen. Und brökeln ist nichts menschliches. Na gut, ist nicht von den Bauern, ist mein Empfinden aber trotzdem. Sein Lächeln bröckelte, seine Fassade bröckelte, das ja, aber sein Gesicht?
Ist das Gleiche wie mit: Seine Augen suchten ihn - tun sie nicht, sein Blick suchte ihn.

Auf schummrige Art verstanden wir, dass sich der Fisch und Magnus ähnelten – beide standen am Beginn der Nahrungskette. Unsere Sympathie für sie verschwand,

weißt schon. Ist das letzte Beispiel was ich zitiere. Vielleicht willst Du davon ja auch gar nichts hören :).

Er hielt das Einmachglas vor seinen Körper; die aufgewirbelten Futterreste verwandelten es in eine Schneekugel, in der es einsam schneite, denn der Goldfisch war verschwunden.

Sehr schön in Bezug auf das Ende!

„Hast du die Tasche mit auf die Toilette genommen?“, fragte Frau Schrank.

Frau Schrank? Echt? Frau Schrank - okay die Frau ist sensibel wie ein Stück Holz und null poetisch und feinfühlig in ihrem Wesen, aber Schrank. Ich musste lachen bei dem Namen.

Oder?
Manche Entscheidungen ähneln Fußstapfen im Schnee, sie sind flüchtig und verwehen in der Erinnerung. Andere hinterlassen dauerhafte Spuren. Als wir Magnus einen Namen gaben, war uns nicht einmal bewusst, dass wir eine Entscheidung trafen – doch ihre Folgen brannten sich in unsere Haut, so tief, dass wir die Narben heute noch sehen.

Doch, ich zitiere noch mal. Wofür?

Selbstverständlich kann man darin eine hochtrabende Symbolik sehen und behaupten, er sei aus der Traurigkeit in die Welt der Illusion geflüchtet. Oder man sagt, Harry Houdini sei deshalb sein Vorbild geworden, weil sich Magnus von den gesellschaftlichen Fesseln habe befreien wollen. Es gab Zeiten, da dachten wir so – vermutlich, um dem Geschehenen einen Schliff zu verpassen, den es in Wirklichkeit nicht besaß. Wie in vielen Fällen wird die Wahrheit banal gewesen sein: Magnus hatte erkannt, dass besonders der einsame Mensch etwas braucht, in dem er gut ist. Und im Zaubern war er besser als alle anderen.

Ich will das nicht ... ich will bei den Kids bleiben und nicht so Analysekram lesen. Aber gut, scheint dein Ding zu sein. Ich höre jetzt wirklich auf damit. Versprochen. Und weil ich mir lauter solche Stellen angemalt hab, bin ich auch schon durch :).

Ja. Bis auf mein persönliches Ding, finde ich den Text wirklich gut. Der ist grausam, der hat Sog und er hat wirklich viele Momente, die mich emotional berührten. Ich mag auch so Geschichten, wo man was wörtlich nimmt. Wir ignorierten ihn weg. Meno - ich will auch so eine Ideen haben. Und da sind viele Dinge drin, die die Geschichte wirklich rund machen. Das "Wir", der Fisch als Haustier, sein Name und Wesen = Fisch, Fisch weg - Magnus weg, schön. Mehr kann man eigentlich gar nicht sagen. Wird mir lange im Kopf bleiben, die Geschichte.

Beste Grüße, Fliege

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo randundband

Ich will voranstellen, dass ich deine Vorhölle gelesen habe und dich jetzt nun mal an diesem tollen Text messen muss.

Das ist der Fluch der guten Texte, oder :)?

Da sind so ein paar Sätze, wenn der Erzähler die Dinge ordnet, die waren mir zu erklärend.

Ja, will ich gar nicht bestreiten. Da sind einige Deutungen drin. Ich wollte damit ausdrücken, dass sich der Erzähler, die ganze Gruppe, immer wieder mit Magnus befasst hat, auch nach dessen Verschwinden. Sie schauen heute zurück auf die Zeit und versuchen, Erklärungen zu finden. Und dabei analyiseren sie die Situationen, wie sie sie heute sehen. Damit wollte ich ausdrücken, wie viel sie immer noch an damals denken.

Den Vorwurf, zu wenig subtil zu sein, habe ich schon öfter bekommen. Ich weiss, dass ich einige Dinge überzeichne, aber meist sehe ich das erst, wenn mich jemand drauf hinweist. Ich hab sogar irgendwann einiges aus dem Text wieder rausgenommen, um ihn weniger direkt zu machen – also es gab eine Fassung, da war Magnus noch deutlicher als Opfer zu erkennen.
Egal, ich hab mir deine Anmerkungen zu Herzen genommen. Der letzte Satz aus dem ersten Absatz ist anders, das Brötchen nicht mehr so trocken und Hr. Haag nicht mehr ganz so gemein.

Und müssen die Lehrer auch so gemein zu ihm sein? Da heult ein Junge, zum ersten Mal in seinem Leben vor den anderen und der Lehrerin fällt nichts besseres ein, als zu behaupten, er hätte seinen Fisch das Klo heruntergespült. Und dann muss er noch in Simpsonsmanier diesen komischen Satz an die Tafel schreiben. Ne, das ist mir eindeutig zu viel.

Ich seh den Punkt. Auch diese Strafarbeit ist rausgefallen (er sollte den Satz übrigens nicht an die Tafel schreiben). Was die Lehrerin angeht – der Fisch ist weg, und Magnus war zuletzt mit dem Glas auf der Toilette. Da ist die Frage naheliegend, finde ich.

Aber klar, ich wollte zeigen, dass Magnus nirgendwo gut ankommt, nicht nur bei den Mitschülern. Die Lehrer, die Eltern, die tragen alle ihren Teil dazu bei. Wie gesagt, ich habe einige der Stellen jetzt entschärft, aber ganz rausnehmen will ich sie nicht, weil mir der Punkt wichtig ist.

Die Jungs sind auch recht eindimensional und im Rückblick auch alle zu einheitlich bestürzt. Diese Verhältnisse haben für mich keine Überraschung. Mir ist es immer lieber, wenn ich die Charaktere mit gemischten Gefühlen betrachten kann und ich finde, dass dein Text dafür keinen Platz bietet.

Das liegt auch ein Stück weit an dem anonymen „wir“. Das bietet wenig Platz für individuelle Charakterzeichnung. Ich denke, wenn man das Thema Mobbing wirklich aufarbeiten will, gründlicher nach den Ursachen forschen möchte und das ganze etwas differenzierter aufarbeiten will, dann braucht man solche Charaktere, wie du sie beschrieben hast. So tief wollte ich in dem Text aber gar nicht gehen – er ist ja selbst ein wenig wie ein Zaubertrick aufgebaut, es geht hier viel um den Effekt am Ende. Der steht ganz klar im Mittelpunkt.

Dann hat die Geschichte meiner Meinung nach auch eine Länge. Und zwar dort, wo sie sich bei dem Abibal versuchen zu einigen, wann Magnus auftreten kann. Da ist mir zu viel hin und her. Ohne Not, wie ich finde.

Ane und 7miles haben sich da ähnlich geäussert. Ich habe mir das auch als Punkt notiert. Ich dachte, das würde die Spannung auf das Ende noch steigern, weil der Absatz ja auch dazu dient, den Trick anzukündigen und erste Spekulationen beginnen, um was es gehen könnte. Aber ich werde auch da bei der Überarbeitung nochmal rangehen, weil es öfter erwähnt wurde. Sicher wird nicht der ganze Absatz rausfliegen, aber ich versuche das zu straffen.


Ich finde, du kannst echt gut schreiben, dass dein Stil sehr leserlich ist, muss ich dir wohl gar nicht sagen. Aber wenn man mal einen richtig guten Text geschrieben hat, dann sind die Erwartungen halt sehr hoch.*

Das Lob freut mich. Klar wird man an seinen anderen Texten gemessen, ist doch ganz normal, und das ist auch ok. Ich bin auch froh über die kritischen Anmerkungen. Einiges habe ich schon geändert, andere Punkte werde ich bei einer ausführlicheren Überarbeitung nochmal berücksichtigen.

Ich danke dir auf jeden Fall für das gründliche Feedback und die Denkanstösse!

***


Hallo ernst


an sich bin ich ja jeglichem paranormalen Kram abhold und gerade dieser spielt in deiner Geschichte eine einigermaßen tragende Rolle, das beginnt ja schon im ersten Satz mit der Erwähnung eines Geistes, dann verschwindet ein Goldfisch und ein Geldschein levitiert, ganz zu schweigen von dem mysteriösen Ende.

Ja – paranormal oder nicht, das ist so ne Sache. Also was den Geldschein angeht, den Trick hat mal ein Bekannter von mir aufgeführt, da war ich sehr überrascht, weil er eigentlich nie erwähnt hat, dass er zaubert. Mich hat das fasziniert. War wirklich genial. Natürlich hat er auch nicht verraten, wie der Trick funktioniert – nichtsdestotrotz wollte ich es unbedingt wissen. Nun, so viele Möglichkeiten gibt es nicht, und das ist immer schade an Zaubertricks: man will wissen, was dahinter steckt, aber sobald man es weiss, verlieren sie ihren Reiz.
Magnus fügt diesem – eigentlich doch simplen – Trick eine Komponente hinzu, indem er den Schritt zurück macht. Ich denke, für einen einigermassen talentierten Zauberer dürfte das nicht so schwierig sein.

Und was das Ende angeht – ich denke, auch das sollte für einen guten Zauberer noch im Bereich des Möglichen liegen, ohne dass es paranormal wird. Wie in einer guten Zaubervorstellung sollte auch hier der Leser überrascht sein – aber nicht denken, dass es nicht mehr mit rechten Dingen zugeht.

Natürlich wartete ich die ganze Zeit auf eine plausible Erklärung, gegen Ende allerdings, als auch noch die Hauptfigur spurlos verschwindet - was ab dem Vorbereiten der beiden Kisten auf der Bühne für mich zwar vorhersehbar, aber deswegen nicht minder spannend zu lesen war – trat mein Bedürfnis nach Aufklärung immer mehr in den Hintergrund.

Da bin ich froh. Ich will auch nicht, dass der Leser beim Lesen sich die ganze Zeit den Kopf zerbricht, wo der Fisch hin ist, wie der Geldschein schweben konnte etc.
Und was das vorhersehbare Ende angeht – mir ist da einfach nichts eingefallen, wie man das unvorhersehbarer machen kann. Er kann ja nicht einfach so verschwinden, er muss zuerst in eine Kiste, hinter ein Tuch oder sonstwohin. Hm, wenn ich jetzt gerade darüber nachdenke – er könnte sich ja in ein Tuch einwickeln lassen und eine Verwandlung ankündigen. Aber der aufmerksame Leser würde wohl auch hier vermuten, dass die Verwandlung darin besteht, sich verschwinden zu lassen.

und, so er einmal als Looser abgestempelt ist, dieser Rolle bis zum Ende seiner Schullaufbahn nicht mehr entkommt.

Ich sehe das auch so. Deshalb sind auch die Versuche von Magnus, aus seiner Rolle zu entkommen, zum Scheitern verurteilt.

Das ist alles schon sehr packend und berührend geschrieben, und obendrein leider von zeitloser Aktualität.

Vielen Dank ernst, das freut mich wirklich sehr, dieses Lob in deinem Kommentar. So sollte die Geschichte sein. Und was die Kleinigkeiten angeht: die Cordhose ist rausgefallen. Und was in aller Welt mich – der ich englische Begriffe zu vermeiden versuche, wann immer es geht (auch wenn ich jetzt öfter Feedback geschrieben habe) – dazu bewogen hat, hier Slots zu schreiben – keine Ahnung. Ist natürlich ausgebessert.

***

Hallo Rick

zunächst einmal Punkte, zu denen ich etwas anmerken möchte

Ich habe fast alle deiner Punkte übernommen. Vieles bezog sich ja auf den ersten Absatz. Hierzu möchte ich noch etwas sagen (Hervorhebung von mir):

Also zunächst finde ich die Einsicht der Wir-Perspektive, die sich ja zunächst selbst dazu bekennt, nur auf eine „schummrige Art“ die Ähnlichkeit zwischen Magnus und dem Fisch zu erkennen, und diese „schummrige“Art (die doofen Mitschüler eben) schafft dann aber doch noch diesen schon sehr beeindruckenden Vergleich mit der Nahrungskette. Nach meinem Empfinden beißt sich da was in den Aussagen, und du kannst entweder den ersten Teil dieser Aussage nehmen oder den zweiten Teil.

Das ist ein Vergleich, den der erwachsene Erzähler macht. Ich wollte damit nicht ausdrücken, dass es den Kindern damals schon in dieser Deutlichkeit bewusst war – sie haben etwas gespürt (vielleicht, dass beide schwach sind), konnten es aber nicht genau einordnen, daher schummrig. Dieses „beide standen am Beginn der Nahrungskette“ ist aber die Aussage des Erwachsenen. Ähnliche Beispiele gibt es auch später noch im Text, vielleicht ist es an den Stellen deutlicher zu unterscheiden.

Hm, sonst sehe ich, hab ich eigentlich alles übernommen. Ok, bis auf das Phantom. Da halte ich am Geist fest – wobei Phantom durchaus auch ginge. Und was den Cliffhanger angeht – ich steh drauf ;).

Tja, nach so vielen kritischen Anmerkungen wirst du mir es wahrscheinlich kaum noch glauben, aber ich fand die Story gut und fesselnd und der Spannungsbogen hat mich trotz der Länge gut durch die Handlung getragen

Doch, ich glaube es dir und freu mich drüber :)

Deine Interpretation der Perspektive trifft es sehr genau. Interessant finde ich deine Anmerkung, dass man sich darin nicht wohlfühlt. Ich frage mich, ob es an der Perspektive liegt oder doch vielleicht an der Art, wie erzählt wird. Denn an vielen Stellen wäre die Geschichte gar nicht so viel anders, wenn es einen Ich-Erzähler gäbe.

Ich finde alles, was mit guten Zaubertricks zu tun hat, auch faszinierend. Prestige kam mir beim Schreiben natürlich auch in den Sinn. Und weil ich was zum Ende sage, mache ich mal einen Spoiler draus:

Gestört hat mich dort das übernatürliche Element am Schluss. Das fand ich ziemlich ärgerlich, weil ich dadurch den Film in einem ganz anderen Licht gesehen habe. Genau so etwas wollte ich mit dieser Geschichte nicht machen, dass man am Ende denkt, es geht nicht mehr mit rechten Dingen zu.

Wenn die zweite Kiste geöffnet wird, ist da statt "Nichts" ein Goldfischglas mit einem Goldfisch drinnen, das hätte das ohnehin schon tolle Ende in meinen Augen noch etwas ... magischer gemacht.

Genau über sowas hab ich tatsächlich nachgedacht. Nochmal das Goldfischglas bringen. Aber ich wollte so wenig wie möglich über Magnus' Motive bekanntgeben, das Verschwinden sollte möglichst geheimnisvoll bleiben, und da war mir die schlichte Lösung dann lieber. Das Goldfischglas hätte wieder bedeutet: „Seht ihr, jetzt hab ichs euch heimgezahlt, weil ihr mir damals meinen Fisch weggenommen habt“ oder sowas. Eine solche Aussage wollte ich nicht andeuten.

Nicht zum ersten Mal erinnert mich dein Stil und deine Themenauswahl an Stephen King. Du hast es echt drauf, den Leser zu packen und heiß auf den Ausgang deiner Stroy zu machen.
Ja wie ich es weiter oben schon geschrieben habe – der Effekt am Ende spielt eine grosse Rolle in der Geschichte, es war das Ziel, dass der Leser genau darauf hinfiebert. Wenn das geklappt hat, ist das ein schönes Kompliment.

Aber ich finde, da steckt noch etwas Arbeit drin, um den Text zu optimieren.

Das stimmt. Ein bisschen was habe ich schon gemacht, und es kommt auch noch etwas. Ich danke dir, Rick, für deine vielen guten Hinweise und deine ausführliche Analyse des Textes. Da konnte ich sehr viel mitnehmen.

Fortsetzung folgt.

Viele Grüße,
Schwups

 

Hallo Schwups

Abrakadabra, erst zweifelte ich, meinte meine Wahrnehmung täusche mich, dies könne nicht der Titel einer Geschichte von dir sein. Doch, auch ein erneutes Anklicken des Titels änderte nichts, dein Nick stand da.

Nun nach einigen Tagen des Rätselns, ich wusste es würde Zeit beanspruchen die Geschichte zu lesen und zu bedenken, vertiefte ich mich darin, vollkommen ungewiss, was mich da erwartet. Kommentare hatte ich keine gelesen, es sollte unbeeinflusst auf mich einwirken, doch das inzwischen aufgetretene Empfehlungs-Zeichen thronte unübersehbar daneben.

Meine Überraschung wuchs mit den Zeilen. Zu Beginn kam mir das Gefühl auf, es würde thematisch ausgezeichnet in die Jugend-Rubrik passen. Doch zunehmend nahm ich den Gehalt zwischen den Zeilen wahr, es ist mehr als eine Erinnerung an die Schulzeit, nicht schlicht ein Resümee auf eine Jugend voller Abenteuer und Schabernack. Psychologisch fein gesponnen baust du die Situation von Magnus auf und aus, ein Junge, der in seiner Eigenart keine Chance zur Integration fand. Durch den sich hinziehenden Entwicklungsprozess blieb mir lange nicht klar, worauf es hinauslaufen wird, wie es eine überraschende Wendung nehmen könnte. Dass Zauberei in einer Form ins Spiel kommen musste, war aufgrund des Titels ersichtlich. Ich erwartete es beim Goldfisch, dessen verschwinden sich dann nicht enthüllte, und dachte aha, als Magnus seine Zaubertricks anbot. Der letzte magische Trick von Magnus und die Intensität seiner Worte an das Publikum lassen es dann mit voller Wucht als Psychodrama enden. Nicht einfach eine aussergewöhnliche Fertigkeit, die ihn vor seinen Mitschülern brillieren lässt. Nein, mit seinem Verschwinden zelebriert er seine Nichtigkeit für diese, hebt ihnen den Spiegel ihrer Missachtung vor, und erzeugt damit für alle Beteiligten ein nachhaltiges Schuldgefühl. Er wird in ihrer Erinnerung spuken, wie ein Geist, den sie nicht mehr loswerden können, entgegen dem, dass sie ihn jahrelang nicht der Beachtung wert fanden.

Den Spannungsbogen fand ich durchgehend gegeben, obwohl mir zwischendurch der Wunsch aufkam, es möge etwas ungewöhnliches Geschehen, das sich hinziehende Mobbingverhalten in einer Explosion entladen. Die Duldsamkeit von Magnus war mir beinah unerträglich. Rückblickend fand ich dann jedoch, dass es diesen Aufbau und diese Ausdehnung brauchte, um diesen Ausgang effektiv spürbar werden zu lassen.

Als ungewöhnlich erschien mir bald einmal die Erzählstimme im Plural. Die Erinnerung war nicht die eines Einzelnen, es störte mich zwar nicht direkt, doch stutzte ich. Mit dem Ende wurde mir klar, weshalb du sie Plural einsetztest, auch dieses Moment psychologisch nutzend.

Es war mir eine interessante und gut durchdachte Umsetzung des Themas, das mit seinem Höhepunkt auf originelle Art die Psychologie als rächende Waffe zu nutzen wusste.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Moin Schwubs,

nachdem ich mich hier frisch angemeldet habe, war deine Geshichte jetzt die Erste, die ich hier gelesen habe. Ich war restlos begeistert. :thumbsup:
Für mich hat eigentlich alles gepasst, und auch die Erzählform fand ich gut.
Ich muss sagen, die Geschichte hat mich regelrecht gefesselt.
Du hast einen wunderbaren Sprachstil - da werde ich mir gleich mal noch ein paar andre Geschichten von dir durchlesen.


Grüßle
Helu

 

Hallo Schwups,

mich hat die Geschichte auch gepackt. Und sie hat mir auch weh getan. Ich kann sowas nicht ertragen, Kinder, die Einladungen austeilen, und dann kommt keiner. Das bricht mir mein schwarzes Herz! Und verschwundener Goldfisch ist auch schlimm. Ach, es ist schlimm! Die Wir-Perspektive fand ich auch sehr klug gewählt. Es hat mich nach einigen Zeilen auch nicht mehr irritiert.

Und was mir echt gefallen hat, ist Deine Art zu schreiben, so geradlinig und ohne Brimbamborium (oder Abrakadabra ;)), dass die Sprache sehr zurücktritt und einen eintauchen lässt in die Geschichte. Wenn man dann aber doch mal auf die Sprache guckt, sieht man, dass die echt schön ist, nur eben ganz unaufdringlich. Ich bewundere das sehr, weil ich das selbst so gar nicht kann, so ganz klassisch einfach mal erzählen und Spannung aufbauen und so. Ich verstrick mich immer in so nem Sprach und Detail-Heckmeck.

Das einzige, was mich jetzt noch davor zurückhält, in Begeisterungsstürme auszubrechen ist, dass ich mir über die Geschichte nicht so viele Gedanken machen kann, weil sie sich halt die meisten Gedanken selbst schon macht. das tut ihr während des Lesens keinen Abbruch, aber nach dem Lesen, zumal nach dem letzten Absatz, bleibt dann halt echt nichts mehr für mich zu tun. Aber gut, vielleicht sollte ich es auch einfach mal genießen, wenn mir jemand das Denken abnimmt.

Ich bin an keiner Stelle gestolpert, deshalb gibt es jetzt auch keine Detailkritik von mir. Den einzigen konstruktiven Vorschlag, den ich hier anbringen könnte ist, die Figur von Sabine ein bisschen auszubauen. Die kommt so urplötzlich aus dem Nichts. Aber wenn sie als einzige so gegen den Strom schwimmt, will ich schon wissen, was sie für ein Mensch ist. Selbst Außenseiterin oder Klassenschönheit? Warum geht sie als einzige anders mit ihm um? Das muss ja gar nicht viel sein, nicht groß erklärt werden, aber halt so ein paar Brocken, an denen man ein wenig rumnagen könnte, wären schön.

lg,
fiz

 

Hallo Novak

Ich würde sie unbedingt lassen. Keinen Icherzähler dafür einsetzen.

Nachdem ich inzwischen viele Rückmeldungen bekommen habe, denke ich auch, ich werde die Perspektive belassen. Ein wenig werde ich daran feilen, so habe ich mir notiert, klarer herauszustellen, dass mit dem „wir“ nicht alle gemeint sind, sondern eine abgegrenzte Gruppe – aber grundsätzlich werde ich das beibehalten.

Deine Geschichte hat eine Einsaugwirkung, spannend geschrieben ist sie sowieso, sie zwingt einen dazu, einen sehr selbstkritischen Blick einzunehmen und man erhält gleichzeitig einen Blick auf Magnus, der ja trotz (oder vielleicht wegen der Perspektive) sehr mitfühlend gezeichnet ist, der immer einer Masse gegenübersteht.

Es freut mich, dass du erwähnst, dass Magnus mitfühlend gezeichnet ist. Ich war auf eine Rückmeldung in der Richtung gespannt – bleibt Magnus zu sehr im Hintergrund? Findet man als Leser einen Zugang zu ihm? Es gab in einer anderen Version eine Szene mit Sabine, wo sie den anderen mehr über Magnus erzählt – Persönliches, was die beiden unter vier Augen ausgetauscht haben. Sabine hatte eine Art Vermittlerrolle, um dem Leser mehr Infos über Magnus geben zu können, ohne die Perspektive aufgeben zu müssen – das ist aber alles rausgeflogen, und dein Kommentar bestärkt mich auch darin, dass es eine solche Szene nicht braucht.

Von daher sehe ich diese Perspektive als aufdeckend, aufklärerisch, zur Reflexion einladend an.

Vielen Dank Novak für deine klugen Gedanken hinsichtlich der Perspektive und das Lob für die Geschichte und natürlich auch für die Empfehlung. Habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut.

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Hallo nastro

Zur Story: Der erste Satz verwirrt mich. Ich würde schneller oder anders mitteilen, das Magnus, ein Mensch, dieser Geist ist, beispielsweise:
Magnus war ein Geist. Ein leibhaftiger Geist in unserer Klasse …

Ich werde den ersten Absatz nochmal überarbeiten. Interessant dein Kommentar, ich verstehe das so, dass anfangs gar nicht klar war, dass hier über einen Menschen geredet wird. Ich werde das im Hinterkopf behalten, auf der anderen Seite soll natürlich der Einstieg auch Neugier beim Leser wecken, also wenn er sich über ein paar Zeilen fragt, geht es hier um einen Geist oder einen Menschen, kann das auch für Interesse am Anfang sorgen.

Als die Kinder ihre Haustiere mitbrachten, schwante mir schon angenehm Böses, das nenne ich mal Suspense.

Klar, da muss was passieren :). Schön dass es bei dir so rüberkam.

Danke für dein Feedback und das Lob.


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Hallo gerthans

An deiner Geschichte finde ich besonders den Vergleich des gehemmten und isolierten Knaben mit einem Geist gelungen.

Cool :). Ich hatte dabei ein Bild vor Augen, ein Klassenfoto. Viele Kinder, bunt angezogen, alle lachen oder lächeln sie, machen vielleicht Faxen – und am Rand steht einer, grau in grau, mit grimmigem Gesicht. Da kam bei mir die Assoziation zu einem Geist hoch.

Deine Ausführungen zu Tasso (das ich nicht gelesen habe) und zu Geistern allgemein finde ich interessant. Ähnlichkeiten zu Magnus sind durchaus vorhanden.

Gut finde ich auch den Vergleich des gehemmten Knaben mit einem Fisch.

Ich finde es immer wieder erstaunlich in deinen Kommentaren, welche Vergleiche du ziehst und wie viel du in die Texte interpretierst. Das ist jedes Mal spannend. Hier, der Vergleich mit jemandem, der sich „zurück in den Mutterleib zieht“ - stimmt, so könnte man das Verschwinden auch deuten. Ich muss zugeben, dass ich das beim Schreiben nicht so vor Augen hatte, aber das ist eine interessante Deutung, die auf den Text passt. Danke für diese spannende, alternative Sichtweise.


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Hallo Fugusan

Für mich jedoch wird Magnus ab dann unsympathisch, als er beginnt zu Sabine, seiner einzigen Helferin, nicht mehr offen zu sein:

Auch ein interessanter Aspekt. Das Verhältnis Magnus – Sabine bleibt ja grösstenteils im Hintergrund. Was die beiden zusammenhält, warum sie als seine Assistentin auftritt – dazu gibt es keine Antworten. Ich denke, bei etwas so Endgültigem wie dem Verschwinden darf es im Voraus keine Mitwisser geben. Denn die könnten versuchen, ihn zu hindern oder es anderen Leuten weitererzählen. Oft ist es ja so, wenn jemand sich freiwillig entscheidet zu verschwinden, dass selbst die nächsten Angehörigen und Freunde nichts davon mitbekommen haben und aus allen Wolken fallen.

Sabine wird zur "Heldin" der Geschichte. Aufopferung ohne Dank.

Als Heldin sehe ich sie nicht, aber ja, dass sie zu Magnus gehalten hat, führt am Ende dazu, dass sie mehr als die anderen betroffen ist. Ein Aspekt, über den ich nicht viel nachgedacht habe, daher auch nicht sagen kann, dass es so beabsichtigt war.

Ein interessanter Kommentar, vielen Dank dafür.

Grüße,
Schwups

 

Hallo Schwups,

puh, es ging nicht. Ich wollte den Text kritisch analysieren und dir meine Meinung mitteilen. Aber deine gnadenlos gute Erzählweise in Verbindung mit einem Thema, dass mich immer wieder reizt, hat einfach eine unglaubliche Sogwirkung entwickelt.

Ich war vom ersten, glorreichen Satz drin und habe bis zum Ende Zeit und Raum vergessen. Du weißt einfach, wie man Geschichten erzählt. Ich kann nicht rumkritisieren, wenn mir etwas so gut gefällt.

Halt, doch, eine einzige kleine Stelle gibt es:

Auch andere Mädchen quengelten, ebenso der eine oder andere Junge, und das ließ den Haag seine Meinung ändern. „Gut, ausnahmsweise. Drei Minuten.“

Ich kann mir aus meiner Schulzeit keinen Lehrer vorstellen, der das hätte durchgehen lassen. Vielleicht hatte ich auch nur grimmige Lehrer ;-) Aber wie auch immer, ich glaube, es wäre nicht viel verloren, wenn er den Trick einfach in der Pause vorführen würde. Wäre realistischer.

Dann noch was:

Es gibt wenige Dinge, die faszinierender sind als der tiefe Fall eines anderen Menschen.

Einer der besten Sätze, die ich je von dir gelesen habe. Das traf mich wie ein Vorschlaghammer, denn aus einer ähnlichen Motivation heraus habe ich ja deinen Text gelesen. Und Lindqvist, Dostojewski, Boyle. Das große Scheitern zieht mich an. Deine Aussage könnte da kaum treffender sein.

Ich weiß, das ist wieder ein überschwengliches Lob. Aber was soll ich machen, wenn du mich jedes mal wieder so mitnimmst?

Abrakadabra ist für mich eine deiner besten Geschichten. Das liegt wohl vor allem daran, dass mir dieser subtile Suspense-Touch so gefällt. Ich bin einfach ein Fan von psychologischem Grusel (Den ich selber bis jetzt immer noch nicht hinbekomme.)

Für mich ist das ein Mix aus Lindqvist (der ja viele solcher Außenseiter-Thematiken behandelt und in "Menschenhafen" auch einen Magier auftreten lässt), King (wegen dem dichten Schreibstil und dem unglaublichen Spannungsbogen) und Prestige (Ein bischen wegen der Thematik, falls du ihn noch nicht gesehen hast, hol es nach. Ein sehr sehenswerter Streifen)

Und zu diesen Eindrücken kommt noch ein ganz großer Teil des "Schwupschen Stils". Denn das muss ich dir mittlerweile auch bestätigen: Du hast deinen eigenen Stil. Und der gefällt mir immer besser.

Hokus Pokus, tausend Dank für solch glänzende Unterhaltung.

In Ehrerbietung
Unbeliever ;-)

 

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