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gesellschaft

Genre: gesellschaft

  1. Haarrisse

    Das Publikum verstummt. Im Dunkeln gibt es immer einen, der sich heimlich wünscht, dass jemand abstürzte. Das Böse hängt in der Luft, genau wie die neun Frauen an ihren Haaren in der Zirkuskuppel. Wie Figuren eines riesigen Mobiles baumeln sie von einem runden Trapez, enganliegende Silberkostüme...
  2. Die Armbrust

    ,,Du hast meine Schwester getötet“ sagt die schwarze Frau, als sie vom Tresen aufblickt. Ihre Anklage wirkt eher brüskiert, ja herablassend, als verzweifelt. Nein, ein Racheengel ist sie nicht, und wenn, dann einer mit gestutzten Flügel. Für H wirkt es eher, als wolle sie ihn klein halten, ihm...
  3. Frisbee

    „Einmal Heilwasser, der Herr“, sagt Vera, gießt mir ein und fügt scheinbar emotionslos hinzu: „Börners Haus steht zum Verkauf. Sie packen schon ...“ Ihr Blick durchdringt mich, das spüre ich. Ich nehme einen Schluck, schüttle mich und sage: „Halt’ ich für zu früh. Man kann nicht einfach alles...
  4. Das Gift der Liebe

    „Wir gehen kurz eine rauchen“, sagt Julian zu den anderen am Tisch und steht auf, nimmt Sinjas Hand und führt sie auf die Terrasse. Es ist kühl draußen, die Luft riecht nach Regen und Salz. Julian zündet sich eine Zigarette an, inhaliert den Rauch, bevor er mit den Lippen ein O formt und graue...
  5. Identitätsschwund

    Ein schmächtiger, kränklich wirkender, junger Mann kam mir entgegen, als ich die breiten Steintreppen der "Zweiten Welt" emporstieg. Er würdigte mich keines Blickes, seine starren, glasigen Augen blieben am Boden haften. Nervös ließ er seinen Schlüsselbund von einer Hand in die andere gleiten...
  6. Die Landschaft der Knochen

    Sie stellt die Tasse vor mich hin und nimmt sich eine Zigarette aus meiner Schachtel. Für einen Moment betrachtet sie den Filter, liest den Schriftzug – CAMEL – dann zuckt sie mit der Schulter und sagt: Hast du mal Feuer? Ich nicke und reiche ihr das Zippo. Dein Bruder, sagt sie leise und öffnet...
  7. Unsere Insel

    Unsere Insel „Die Welt ist schön und wert, dass man um sie kämpft.“ - Hemingway Ich blickte aus dem Fenster des McDonalds; dort fuhren die tonnenschweren Trucks vorbei, der Himmel war orange, in manchen Ecken sogar fliederfarben. Ich sah die Welt und ich war, wie immer, nicht da, sie hatte...
  8. Schläfer Heinrich

    Er erwachte aus einem unruhigen Mittagsschlaf, der sich als weniger ertragsreich herausstellte, als Heinrich gehofft hatte. Der Traum von letzter Nacht, den er versuchte weiter zu träumen, löste sich nach drei Traumminuten in einer diffusen Wolke auf und er stand wieder vor dem Tor, das er nicht...
  9. "Wie Schade"

    Das Mädchen sitzt auf der anderen Seite des kleinen Cafés in Stuttgart. Sie kritzelt Notizen in ein schmales Buch und rührt gelegentlich mit gleichermaßen abwesender aber auch konzentrierter Miene in ihrem Kaffee. Warum sie wohl hier ist? Es ist spannend, darüber nachzudenken, dass jedes...
  10. Tote Fische

    Ich achte auf meine Atmung, nur auf die Atmung. Einatmen, ausatmen. Das Geschrei von Mama ignoriere ich. Mein erster Tag auf Arbeit lief nicht gut. Deshalb sitze ich mittags schon wieder zu Hause auf dem Sofa und sehe fern. Neben Mama, die tobt. Dass diese Angelegenheit mit dem Abfall...
  11. Wie ein Star

    Ein Junge, keine vierzehn Jahre alt, gehörte zu der Sorte junger Menschen, die einst mit großen Hoffnungen in das mehrstöckige moderne Gebäude mitten im Herzen der koreanischen Hauptstadt Seoul getreten waren. Er war kein Einzelfall; vielmehr einer von vielen, deren Träume oft von...
  12. An der alten Eiche

    Und wieder saß der alte Mann, umgeben von dem restlichen Grün eines ehemaligen hübschen Hains auf seiner halbmorschen Holzbank, während über ihm mächtig seine ihm lieb gewordene alte Stadteiche thronte und er nichts weiter tat, als besorgt das Treiben der Masse zu beobachten. Grausam produzierte...
  13. Maria atmete nicht mehr

    Unausgesprochenes schwebte im Raum. Ein Treffen, nervöses Lachen füllte Schweigen zwischen verschwendeten Worten, gereiht ohne Sinn. Gesprochen, nur um etwas gesagt zu haben. Erfahren von Banalem ohne Sinn. Hüpfende Herzen der Angst, folgten rasenden Sprüngen der Panik. Den Absprung von Neuem...
  14. Der Wahrbaum

    Karl war sich nicht sicher, ob es das Zeichen einer kommenden Katastrophe war, aber er wusste, dass auf seiner Lieblingsbank, unter der alten Linde, normalerweise keine nackte, blaue Gestalt mit aufgeklapptem Koffer saß. Karl trat zurück und stützte sich an die Wand des Optikerladens, den er...
  15. Der Rudi kommt nicht mehr

    „Der Rudi kommt nicht mehr zur Turnstunde“, ruft Adelheid, unsere Übungsleiterin, in die Runde. Wir sind gerade nach unserer Altmänner-Turnstunde aus der Turnhalle in die Umkleidekabine zurückgekommen und schwitzen noch heftig. Alle jammern und klagen über Wehwehchen, dabei wird munter...
  16. Koffer

    „Legen Sie bitte das Gepäck auf die Waage“, höre ich die Frau hinter dem Schalter sagen. Aus meiner Perspektive sieht sie ganz nett aus mit ihrer Frisur und der tadellos sitzenden Uniform. Ganz anders als meine Trägerin. Warum stellt sie mich nicht auf die blöde Waage? Das hat sie doch früher...
  17. Der letzte Gang

    Heute ließ er sich Zeit für die Rasur. Schenkte auch der Stelle unter der Nase mehr Aufmerksamkeit als gewöhnlich und war erst zufrieden, als jede noch so kurze Bartstoppel unter der scharfen Klinge des Rasiermessers verschwunden war. Wenigstens das konnte er noch tun: perfekt rasierte Miene zum...
  18. Ratten und Gold

    Einst rannte ein Mann dem Zug nach Sibirien hinterher. Er legte ein beachtliches Tempo an den Tag, trotz seiner Beleibtheit, seiner schweren, schäbigen, gar rissigen Kleidung, ja trotz des Köfferchens, das er trug. Er lief so geschwind über die morschen Gleisschwellen, dass das olympische...
  19. Du bleibst doch immer, was du bist

    Josh dreht sich weg von ihr, durchwühlt die Kleidung, um nach der Zigarettenschachtel zu suchen, flucht leise, bis er fündig wird. Wie viel Wärme, wie viel Sehnsucht ihr Körper abstrahlt. Er öffnet das Fenster. Mit dem Daumen lässt er die Klappe des Benzinfeuerzeugs nach oben schnellen, bewegt...
  20. Laufen lassen

    Er hatte es laufen lassen. Immer schon hatte er es laufen lassen. Es genügte ihm, immer dort zu sein, wo die anderen es verlangten. Es genügte ihm, immer das zu tun, wonach die anderen begehrten. Mehr wollte er nicht vom Leben, mehr hatte er nicht erwartet. Also ließ er es laufen. Alles ließ er...

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