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Work-Life-Balance
Der 15. August, Sonntag, Sommerferien. Auf 2000 m Seehöhe ist die Hölle los. Touristentrauben drängen von der Seilbahn direkt zur FreiZeit-Hütte mit dem riesigen Spielplatz und stellen sich am Einstieg der Alpenachterbahn an. In nur zwei Monaten genügend Umsatz zu machen, um das ganze Jahr über davon Leben zu können, ist möglich, aber kein Zuckerschlecken.
Zu Mittag sind alle Tische bereits zum dritten Mal belegt und nicht selten quetschen sich zwei oder mehr unbekannte Familien an einen Tisch. Tischnummern werden gesplittet, auf 50/2 fehlt ein Kuchen, 50/3 möchte zahlen.
„Wo bitte ist Tisch 666?!“, ruft Jess quer über die Terrasse.
„Das sind die Deutschen auf der Parkbank beim Kinderland!“, rief Katija zurück. Sie weiß das Jess sauer sein würde, weil sie jetzt einen Riesen Umweg machen muss, eigentlich hat Katija gehofft ihr fertiges Tableau selber servieren zu können, doch immer kommt ihr eine neue Bestellung dazwischen. Drei Stunden später reißt der stetige Strom an Touristen ab und das flinke Team der Hütte hat endlich Zeit kurz zu verschnaufen.
„Klasse Arbeit! Ladys und Gentleman, stoßen wir an auf den letzten heißen Sonntag des Jahres!“, ruft der Chef zur Servicebesprechung und stellt sechs kleine Bier auf den Tresen, die prompt in einem Zug runter geschüttet werden. Eine weitere Runde Bier wird in die Küche serviert und schon geht es weiter, die Terrasse abbauen, das Besteck polieren und auffüllen. Alles vor der letzten Fahrt um 17 Uhr. Der Lift wartet nicht. Erst in der Gondel fällt der Stress ein wenig ab.
„Rupert ist alles klar bei dir, du wirkst so blass, hat was mit der Abrechnung nicht gepasst?“, fragt Jezz den Barmann, der, während die anderen mit dem Abbau beschäftigt sind, die Brieftaschen auszählt.
„Nein, gar nichts“, ist alles was er dazu sagt, denn schon öffnet sich die Gondeltür und lässt ihn ohne ein Wort des Abschieds gehen. Die zweite Gondel fährt in die Talstation ein.
„Wisst ihr was los ist?“, fragt Jess die Anderen, auch den Chef.
„Ich muss es euch jetzt sagen, auch wenn es mir schwerfällt, aber Rupert hatte heute seinen letzten Tag“, beginnt der Chef zu erklären und ein stutziges ‘Was?‘ macht die Runde.
„Es ist wirklich kaum zu glauben, aber Rupert hat uns alle bestohlen. Er war der Einzige, der den Schlüssel zum Safe hatte, auch der Einzige, mit Zugangsdaten zum Kassenprogramm. Mir wäre es gar nicht aufgefallen, wenn mich meine Steuerberaterin nicht darauf hingewiesen hätte, aber Rupert hat anscheinend die Tagesabschlüsse manipuliert, sodass er sich den Großteil des Trinkgeldes der letzten Monate eingehamstert hat. Ich werde keine Anzeige erstatten, ich will ihm nicht mehr Probleme beschaffen, als er ohnehin schon hat, deshalb haben wir uns einvernehmlich getrennt“, kopfschüttelnd legt der Chef seine Hand auf Katijas Schulter.
„Meine fleißigen Bienchen, ich verspreche euch, dass ihr trotzdem euren Teil vom Kuchen abbekommt, von dem übrigen Trinkgeld werde ich Rupert nichts auszahlen.“ Er schnauft kurz durch.
"Katija würdest du ab morgen die Bar übernehmen?“ Katijas Nackenhaare stellen sich auf, damit hat sie nicht gerechnet, obwohl sie auf diese Gelegenheit schon lange wartet.
„Sicher, Sie können sich auf mich verlassen“, stimmt sie eilig zu und übersieht Jess Augenrollen mit Absicht. Am nächsten Tag wartet Katija wie immer an der Teufelsbrücke auf ihre Fahrgemeinschaft.
Die alte Steinbrücke ist, wie die meisten Orte hier, eine Touristenattraktion, jedoch besuchen eher wenige Leute diesen Aussichtspunkt, vielleicht weil er sich gleich unterhalb der viel befahrenen Bundesstraße befindet. Katija ist gerne hier, deshalb ist sie immer früh dran. Sie liest am Handy einen Artikel aus dem Falstaff Magazin, Work-Life-Balance.
"Was soll das sein? Der Balanceakt zwischen Leben und Arbeit? Ich lebe doch nur für die Arbeit", sagt sie laut zu sich selbst und lacht ohne Freude, als sie das Handy einsteckt und auf die Schwelle zur verglasten Plattform steigt.
"Ich stehe auf, gehe arbeiten, komm nach Hause, schlafe, stehe wieder auf, gehe wieder arbeiten...“
Hinter ihr, auf der anderen Brücke, knattert eine Harley-Davidson vorbei. Sie tritt einen Schritt nach vorne, auf den Abschnitt mit der verglasten Brückenbrüstung, und blickt in die Tiefe. Unter ihr rauscht der Bach zwischen Felsen hindurch. Die Scheibe der Aussichtsplattform ist so klar, als wäre sie gar nicht da. Wieder ist hinter ihr ein Geräusch zu hören, doch klingt es nicht wie ein Fahrzeug, eher wie ein Flüstern, dass sie nur unterbewusst wahrnimmt.
„Nichts weiter als ein Haustier, ein Hund, mehr bist du nicht.“
Durch ihren Kopf blitze ein Gedanke, sie soll ab jetzt die Abrechnung machen, im Büro des Chefs, mit ihm zusammen. Was würde er mit ihr machen, wenn sie allein sind? Will sie das überhaupt? Der Gedanke ist so aufregend wie ekelerregend. Fast wie ein Hund, schüttelt sie diese Gedanken von sich ab und konzentriert sich wieder aufs wesentliche.
„Es hat sich doch gelohnt, ab heute stehe ich hinter der Bar! Nicht mehr dieser Möchtegern. Alles, was ich wollte, war hinter die Schenk, von Anfang an. Aber es wäre mir lieber, wenn er Rupert nicht gekündigt hätte, dann hätte ich Gewissheit, es aus eigenen Können geschafft zu haben. Rupert hat Frau und Kind zu Hause, und ist jetzt Arbeitslos, ich habe niemanden. Das liegt vielleicht an der 6-Tage-Woche, die ich mir da aufbrummen ließ. Aber irgendwas ist faul an der Sache. Warum sollte Rupert so etwas Dummes tun?“
Katja spürt ein ziehen an ihrem linken Arm.
„Mit dem ganzen Trinkgeld der Saison könnte man sich ein schönes Auto kaufen, so einen SUV, wie der Chef ihn fährt. Einem mit Lederausstattung und Allrad, der nach Neuwagen riecht.“
Er hatte sie einmal mitgenommen, wollte angeben, wollte ein junges hübsches Ding, neben sich sitzen haben.
"Vielleicht war ein Auto auch Ruperts Plan. Aber er hat Frau und Kind, also warum alles riskieren?“
Etwas zieht an Katjas rechten Arm und sie glaubt, das Workout von gestern sei daran schuld. Sie sieht die weißen Bandagen nicht, die sich um ihre Handgelenke schließen und sie in den Abgrund ziehen wollen.
"Lässt du dich ficken? Geld hat man und dann wieder nicht. Es gibt viele die es bis ganz nach oben geschafft haben und am Ende trotzdem unter der Brücke landen. Ging mir auch mal so. Nur wenn ich jetzt wieder unter der Brücke lande, soll das verdammte Ding auch mir gehören!", hört sie sich sagen, doch weiß sie nicht, was das zu bedeuten hat! Warum duzt sie sich? Was heißt wieder? Wer spricht da? Ihr Handy klingelt, ihre Fahrgemeinschaft ist da. Erschrocken drückt sie den Anruf weg, war ihr Handy erst auf Lautsprecher? Was ist hier los.
"Work-Life-Balance", stammelt sie, weil sie den Titel des Artikels sah. Als sie sich umdreht, um zum Parkplatz zu eilen, doch ziehen ihre Arme sie nach hinten, ein Schritt zurück, anstatt nach vor und sie fällt, in ein Netz so monströs wie die Spinne, die es sponn und die sie musternd ansieht. Der blanke Horror zeichnet sich in Katijas Gesicht ab, diese Spinne ist so groß, wie der VW Polo, der sie abholen sollte. Ist das ein Traum? Es muss ein Traum sein. Die Beißzangen der Spinne kappen das Netz, Faden für Faden, am letzten hängend, daran klammernd in Todesangst, fleht sie, „Bitte nicht!“
„Deine Ur, Ur, Urenkelin, sieht dir sogar noch ähnlich, sagt die Spinne amüsiert, als sie Katija wie eine Marionette an den Fäden um ihre Handgelenke zu Boden gleiten lässt. Erst als ihre Füße das kalte Nass spüren, wagt sie es aufzublicken, um zu sehen, in welche Richtung sie fliehen soll, doch ist die Spinne nicht mehr da. Katija steht neben sich und grinst. Ihr Handy klingelt wieder. Sie nimmt den Anruf entgegen, als wäre nicht das geringste geschehen. Sie hört sich an wie sie, doch ist sie es nicht, denn sie selbst hat jetzt nichts mehr zu sagen.
Die Stimmung im Auto ist gedrückt. Rupert war die letzten Fünf Jahre Barchef, er und die Küchen-Brigade bilden das Stammteam, der Chef selbst hat die Hütte samt Team vor einem Jahr übernommen. Anje der Fahrer hat seine Sonnenbrillen auf und qualmt beim Fenster hinaus, eine typische Sprich-Mich-Bloß-Nicht-An-Geste. Jess, ist oft angepisst, vor allem wenn sie ihre Tage hat, aber ist es wirklich schon wieder soweit. Nein, dann hätte Katija sie auch, sie haben den gleichen Zyklus.
Richi ist der Einzige der die Situation kommentiert. "Ich wusste schon von Anfang an, dass der Typ nur Ärger macht, aber ihr habt mir nicht geglaubt. Ab jetzt können wir wetten welcher Kopf als nächstes rollt. Ich tippe auf Jess." Jess Blick verrät, dass ihr Einser-Kandidat direkt neben ihr sitzt, aber Katija bleibt gelassen und fröhlich wie sonst nicht.
Die Mise-en-Place-Arbeiten verrichtet sie wie immer sehr gewissenhaft. Als die ersten Bons an die Bar geschickt werden, fällt ihr etwas auf. Der Bondrucker schneidet das Papier an der falschen Stelle ein und ganz durch, sodass die Reihenfolge der Bons durcheinander kommt und manch eine Tischnummer abgeschnitten wird. Keine große Sache, wenn es ruhig zugeht. Katija geht zu ihrem Chef und zeigt ihm das Problem. "Zwei Cappucino, und weiter?" Er schnallt es nicht, Katija ist sauer, kann aber nichts sagen. Wenn heute so viel los ist wie gestern, ist das Chaos vorprogrammiert.
Aber heute ist das Wetter schlechter angesagt, außerdem ist Montag... Manch ein Montag ist ein falscher Sonntag, denkt sich Katija unwillkürlich, seit diesem Wachtraum fühlt sie sich so seltsam, irgendwie ferngesteuert. Zwei Stunden später wuselt es im Lokal nur so von Touristen und verzweifelten Kellnern.
Der Chef schwitzt sich die Lederhosen voll und sieht entsetzt in Katijas grinsendes Gesicht. "Wissen Sie, das wäre alles nicht passiert, wenn Sie nicht den einzigen Menschen, der sich mit der Kassa auskennt, fristlos gekündigt hätten", sagt Katija und schenkt Getränke ein, von denen keiner weiß, wo sie hingehen sollen.
"Bitte besprechen wir das später, lass mich jetzt nicht hängen", sagt ihr Chef verzweifelt und Katija macht ihren Job. Als am späten Nachmittag endlich Ruhe einkehrt, bittet der Chef Katija ins Büro.
"Wieso ins Büro? Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, können Sie das auch vor versammelter Mannschaft tun", meint sie eiskalt.
Der Chef ist böse aber nicht so richtig, nicht glaubhaft. "Katija, das heute war keine Glanzleistung von dir! Aber ich verzeihe dir, die neue Position überfordert dich einfach."
"Wissen Sie, was mich wirklich überfordert, ist für einen Dieb zu arbeiten, der seine Mitarbeiter bestiehlt, ohne Rücksicht auf die Menschen hinter dem Job."
Er lacht nervös, kann nicht glauben, was diese Göre da von sich gibt.
"Wir alle wissen, dass Rupert mit Ihnen über Mitarbeiterprivilegien verhandeln wollte und nach dem stärksten Tag des Sommers und einem kurzen Gespräch, in Ihrem Büro, heißt es auf einmal, er habe das Trinkgeld gestohlen."
Die gesamte Dienstbrigade hat die Ohren gespitzt, steht nun hinter der Bar, hinter Katija und sieht ihren Chef prüfend an. Diesem rinnt der Schweiß über die Stirn und seine Kehle ist so trocken, dass ihm die Worte im Hals stecken bleiben.
Deshalb lacht er gekünstelt. "Was willst du von mir?"
"Ich will sehen, wie Sie das gesamte Trinkgeld, das Sie gestohlen haben, fair an alle Mitarbeiter verteilen, ob diese noch hier arbeiten oder nicht! In Zukunft verteilen sie es von Anfang an anständig oder wir nehmen es uns einfach selber raus!"
Am nächsten Tag sitzt der Chef am Stammtisch. Mit einem Stapel Couverts und seiner Trinkgeld-Aufschlüsselung, die von Katija zweimal Control-gerechnet wird. Auch Rupert ist eingeladen sich sein Stück vom Kuchen zu holen und besucht den Arbeitsplatz, der die letzten Fünf Jahre über sein zweites Zuhause war. Aber selbst wenn der Chef sich bei ihm Entschuldigt hätte, hätte es nichts mehr geändert, Rupert geht mit seinem Trinkgeld und setzt keinen Fuß mehr in dieses Lokal. Von seinen Kollegen verabschiedet er sich anständig, er umarmt Katija, drückt sie fest an sich, ihre Füße heben ab, und kurz bleibt ihr die Luft weg, doch es ist ein gutes Gefühl.
Am nächsten Tag, nach einer Nacht voll schlaf und einem echten Traum ist sie wieder ganz die Alte, abgesehen von dem Plus an Integrität, dass sie sich an diesem 16. August verdient hat.
Im Keller der FreiZeit-Hütte, wo Sirup-Container neben Bierfässern lagern, sitzt eine Spinne die sich in eine birnenförmige schwarze Frau verwandelt. Ein Funke, der aus dem Nichts kam, flammt auf und eine schlaksige Gestalt mit roten Haaren und blauer Haut erscheint und zündet sich einen Joint an.
"Gute Arbeit, mein Prinz... Ich meine König. Aber ich verstehe noch immer nicht was Ihr damit bezwecken wollt. Jedenfalls hat es Spaß gemacht zuzusehen", meint die Spinnenfrau.
"Ich will doch nur helfen, das Leben ist zu kurz um alles richtig zu machen.", erklärt der König der Unterwelt und bläst blauen Rauch zur Kellertür hinaus, über den gezackten Horizont der Berge.