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Ich fliege in die Sonnennacht
Obwohl er ein wankender, knorriger Ast mit Furchengesicht ist und nach vertrockneten Christbaumnadeln und Rasiercreme riecht, fühlt sich Pagel babyweich an, nicht überall, aber an der Stelle oberhalb der Achseln, am Ansatz der Arme. Wenn ich ihn dort, anfasse, sie bestreiche, als wolle ich ein Butterbrot schmieren, schwebe ich wie ein Luftkissen über einem wellenlosen See. Pagel sagt nichts und wartet, bis ich über den Hals gleite und er die Schleierwasseraugen verdreht. Seufzer kriechen in meine Ohren, als wolle er seine Seele zum Himmel schicken. Manchmal muss ich die Tränen zurückhalten, so viel Glück strömt dann zu mir.
Ich schließe die Augen und denke an die erste Begegnung mit Pagel, sehe ihn vor mir, wie er mir entgegenrollt, das elfenbeinerne Hemd leuchtet, das Zittern der Hände nicht verbergen kann. Er öffnet den Mund, als ob er etwas sagen wolle, fährt mit dem Rolli vor und zurück, bis es aus ihm herausquillt, Worte, die er sich lange zurechtgelegt haben muss. Ich besuche einen Heimbewohner, das wisse er, und ob ich meine Künste auch bei ihm anwenden könne, auch wenn er kein Ex-Minister sei, so wie der Herrndorf aus Zimmer 104. Dabei blickt er zur Seite, wieder zu mir, und setzt sein Sonntagslächeln auf, prüft meine Reaktion, entspannt die Gesichtsmuskeln, bis ich ihm die blassrosa Visitenkarte in die Hand drücke und er einen Luftzug des Fliederparfüms, das ihn umwölkt, zu mir herüberschickt. Ich drehe mich weg, steige ins Auto ein und spüre lange seinen Blick im Nacken. Zwei Wochen später besuche ich ihn, massiere seine schlaffen Muskeln. Pagel spricht praktisch nichts. Alles, was er sagen will, drücke er mit einem kaum erkennbaren Zucken der Lider aus. Er vertiefe sich, verwandelt sich in den Mann, der er vor langer Zeit war, den aufrechten, schönen Edelmann, und ich wünsche mir, ich könnte neben ihm einschlafen, wieder aufwachen und sähe genau diesen Ich-will-dir-die-Sterne-vom-Himmel-holen-Blick auf mich gerichtet, wenn ich die Augen öffne.
„Sie is wech, die Streichlerin!“, sagt der Hohenegger.
„Ne, ne, die kommt wieder“, antwortet Pagel.
„Woher weeste ded denn?“
„Die Vögelchen kommen im Frühjahr auch zurück.“
„Träumer!“
Pagel singt fröhlich: Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Walde. Fidirallala, fidirallala, fidirallalalala.
Ich bin wie eine Hure, verkaufe mein Herz, versklave meine Seele stundenweise. Wenn ich den Pagel, den Ex-Minister, die anderen besuche, das Geld im Umschlag bereitliegt, stecke ich alles, was ich habe, meine ganze Energie, in meine Finger und Hände, vergesse die welken Körper, die sich vor mir ausstrecken, will aus den Hüllen das Schöne herauslocken, das verborgene Kind.
Ich träume vom Küssen, von einer Zitterzunge, die meinen Mund füllt, über meinen Hals streicht, mich aus der Schneckenhülle befreit, mich lockt, mich fordert. Wenn es dann so weit ist, wenn ich einen finde, krieche ich wieder zurück, traue mich nicht, auch wenn ich es immer wieder probiere. Stattdessen rieche ich an ihnen, stecke meine Nase in ihren speziellen Duft, um ihn für immer bei mir zu tragen und gebe ihnen nichts außer der klaffenden, pochenden Öffnung zwischen meinen Beinen. So war es auch mit Max. Er umschlich mich wie eine Katze, die darauf wartet, dass ein Mäuschen aus dem Bau huscht, trank Bier, spielte auf der Gitarre irgendwelches Flamenco-Zupf-Zeugs und roch nach Quitten, Seealgen und dem Moos des Waldes. Manchmal lächelte er mich an und ich wagte einen kurzen Blick in seine Augen.
Der Max steht total auf die Nina. Und sie auf ihn, obwohl sie sich zurückhält, die Schüchterne gibt. Ihr Verhalten verrät sie. Da kann sie nichts gegen machen. Diese dahingeworfenen Blicke, die beiläufig und abschätzend wirken sollen und über seinen Hintern und die Muskeln geilen. Manchmal läuft sie an ihm vorbei, wirft den Kopf zurück, drückt das Kreuz durch, damit sie noch größer wirkt, tänzelt mit ihren langen Beinen, zeigt alles, was sie hat und genießt seine Blicke. Manchmal hat sie diesen Tunnelblick, wie eine Autistin, die sich für gar nichts interessiert, völlig in sich selbst gefangen ist. Besonders wenn sie schwimmen geht, das Wasser aufspritzen lässt, sich richtig verausgabt, aus dem Wasser steigt, ein verzücktes Lächeln aufzieht, sich klein macht, als sie zu ihrem Zimmer geht. Außerdem widerspricht sie sich dauernd.
„Rike, du bist dumm! Eine Beziehung ist komplett oldschool. Ich will feiern, frei sein und ficken, wen ich will“, sagt sie zu mir.
Wenn ich ihr dann erzähle, dass ich mir einen guten, treuen Mann, Familie, Kinder und ewiges Glück wünsche, fängt sie an zu träumen, komplett romantisch, so Romeo-und-Julia-mäßig.
„Man muss verschmelzen können mit dem Liebsten, alles andere ist sinnlos.“
Ich setze einen Käsekuchen plus eine Flasche Secco darauf, dass sie was mit Max anfängt. Sie schlägt ein.
Tagelang streifen wir uns, füllen die Luft mit unseren Sehnsüchten. Ich zerfließe an den Glanzblicken seiner grüngesprenkelten Augen, stelle mir vor, wie Max auf dem Bauch liegt, die Beine eng beisammen, die Wadenmuskeln schimmern durch und der Hintern wölbt sich obszön, sodass ich reinbeißen und das Fleisch schmecken möchte. Ich lege mich auf ihn, reibe mich an ihm. Zwischen uns bloß ein zarter Schweißfilm.
Max drückt mir eine Bierflasche in die Hand. Die Flasche Wein, die ich mir für den Abend extra gekauft habe, vereinsamt in meinem Zimmer. Es läuft mit Max ganz anders, schlichter, realer, enttäuschender. Er riecht nach Nivea-Creme. Sein Körper fühlt sich haarlos, fein, ein wenig schwabbelig an. Ich entere seine Mundhöhle mit meiner Sehnsuchtszunge, pelle ihn aus den Kleidern, lasse mir Zeit, lege beide Hände auf den Rundhintern, spreize die Finger und freue mich über den Sekundenabdruck, der sich augenblicklich bildet. Danach berühre ich ihn nicht mehr. Sein Schwanz gleicht einem zu dick geratenen Bleistift, gerade an ihm abstehend, pulsiert und drückt sich an meinen Bauchnabel. Er gleitet in mich, keucht. Ich schreie, werfe mich ihm entgegen und komme, noch bevor er sein Lavazeug in den Gummi spritzt. Die aufgestaute Sehnsucht ergießt sich, ein Lustballon, aus dem die Luft entweicht. Ich unterdrücke die Tränen der Enttäuschung und beschließe, am Morgen längs durch den See zu schwimmen.
Eine ganze Woche lang habe ich ein Bier nach dem anderen getrunken, auf der Gitarre geklimpert und wegen Nina darauf verzichtet, die Urlauberinnen anzugrinsen. Dann hält sie es selbst nicht mehr aus. Am letzten Abend, bevor wir alle weiterziehen, quatscht sie davon, dass sie lieber Wein trinkt, will das Bier nicht nehmen, das ich ihr reiche, bis ich beschließe, schlafen zu gehen. Keine zehn Minuten später öffnet sie meine Tür, lässt den Bademantel fallen und kommt mir entgegen, völlig nackt, sagt gar nichts, zieht mich aus, rollt sogar die Socken runter, berührt mich überhaupt nicht, steckt mir die Zunge bis zum Gaumen in den Mund, packt meinen Schwanz und versenkt ihn. Ich mach sie richtig fett weg, genieße es, weil sich ihre Muschi wie eine warme Höhle anfühlt, wie Heimat. Sie seufzt, schreit und murmelt ununterbrochen, streckt mir ihr Becken, ihren Hintern entgegen. Ich verstehe nicht, was sie flüstert. Fickausdrücke sind es nicht, klingt nach Namen, nach Orten. Dass ich in ihr bleibe, bis das schwarze Kondom knistert, verwirrt mich total, aber ich kann nicht anders, will mich gemütlich einrichten, bis ich wieder Lust bekomme. Ich nehme ihre Hand, streichle ihre dünnen Finger. Sie reagiert nicht, steckt die Nase in meine Achselhöhle, schaut aus dem Fenster und flüstert was von den Sternen. Nach einer Weile schiebt sie den Schwanz aus sich heraus, wischt ihn mit dem Bettlaken ab, ganz sorgfältig, zieht die Vorhaut zurück, tastet über das das rosa Fleisch, die Adern, die unter der Haut hervortreten. Sie hält ihn, spielt mit ihm, zögert, als wolle sie ihn doch noch in den Mund nehmen, und streift ein Kondom drüber. Dabei schaut sie mich unentwegt an, ohne etwas zu sagen, und setzt sich auf mich, bestimmt den Rhythmus. Danach schläft sie ein, kuschelt sich eng an mich und ich wünsche mir, dass wir morgen Hand in Hand am See spazieren gehen. Nina bleibt nicht bei mir. Als ich aufwache, ist sie verschwunden und mein Lieblingspullover fehlt, ein scheißteures Kaschmir-Ralph-Lauren-Teil. Keine Ahnung, was mit Nina los ist. Ich meine, die ist echt gestört.
Am Morgen gleite ich in den Nebelsee. Max schläft. Tau perlt auf den Gräsern. Ich schwimme langsam, belausche das Gurgeln, das ich erzeuge, und spüre mit jedem Armzug, mit jedem Beinschlag die Wellen, die sich bilden, weil ich das Wasser bedränge.
Ich fröstle, als ich zum Ufer zurückkehre und mich schüttle. Ein älteres Pärchen kommt mir Hand in Hand entgegen. Ein Ich-bin-ein stolzer-Bierbauchpapa tobt mit seinen Kindern auf einer Luftmatratze. Zwei Hängebusenfrauen sitzen auf dem Steg und schnattern über schwarze Kondome. Drei Jungs mit Taucherbrille und Schnorchel suchen Gold im wirbelnden Sandgrund. Ein Mann, der wie eine Insel im Wasser steht, glotzt mir nach. Ich denke an Ivo, schreibe ihm eine Nachricht.
Sie hat sich gemeldet, nach ganzen zwei Jahren. Ich dachte, sie hat mich längst vergessen und den Jugo-Kroaten, den Halbkanaken Ivo, gegen was Besseres, eingetauscht, gegen einen Max oder Paul wahrscheinlich. Sie will mir den Pullover wiedergeben, den sie mir geklaut hat, der mich an Zagreb, an den Laden in der Nähe unserer Wohnung erinnert, an die Johannisbeeraugen meiner Mutter, die ihn mir schenkte, damit ich es im Westen warm habe. Wir könnten uns in Genf treffen, textet sie. Sie habe die Berge satt, den Jura, die Residenzen für alte Leute, die eiskalten Seen und müsse in die Stadt. Ich will sie wiedersehen, das steht fest. Allein, um zu erfahren, was das war zwischen uns. Dabei lässt sich Nina irgendwie mit einem Eisberg vergleichen, jahrtausendealtes gefrorenes Gletschereis, zum größten Teil unter der Oberfläche verborgen. Und das, was aus dem Wasser herausragt, zerschmilzt in der Sonne. Ein rätselhaftes Wesen, das sich von anderen ernährt, groß, skinny, ellenlange Beine, A-Cup, schimmernde Augen, die pausenlos umherirrten.
Wir kamen einander bei unserem ersten Treffen zaghaft, richtig behutsam näher. Während der Bergtour, eine Woche zwischen La Dole, Dent de Vauilon und Grand Colombie, spürte ich ihren Blick ständig, viel intensiver, als ein Teilnehmer normalerweise zum Bergführer schaut, so sehr, dass es die anderen bemerkten. Ein Deutscher, Klaus, sprach mich darauf an und ich nickte, lächelte und ging weiter. Wir hörten die Rufe der Eulen, Bussarde, Wölfe, trafen auf Gämsen und Böcke, rochen das Gebirgsgras, die Kräuter und Blumen, die dazwischen wuchsen. Am zweiten Tag der Tour liefen Nina und ich nebeneinander. Ich zeigte ihr die Vegetation und die Spuren der Tiere, die unseren Pfad kreuzten, erzählte ihr von den Schakalen in meiner steinigen Heimat, von den Römervillen und den alten Leuten in den Dörfern, die vor ihren Häusern saßen und darauf warteten, dass ein Auto vorbeifuhr oder ein Nachbar sie besuchte. Sie hörte zu, wedelte mit den Armen, streifte mich, bis sie selbst etwas sagte. Nina klang wie ein fröhlicher Bergbach. Sie sprach über Kinderferien am Meer, in den Bergen, über Skifahren und Reiten und eine unbeschwerte Kindheit im selben Ton wie über das Heim, in dem sie lebte, nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Bären sahen wir nicht, obwohl Nina fest daran glaubte, dass sie einem begegnen würde. Ich sagte ihr, dass wir Schakale hören würden, sobald die Nachtstille sich über das Tal legt. Neben der Hütte, in der wir übernachteten, verlief ein Bergkamm. Wir beschlossen, um Mitternacht loszuziehen. Ich zog die Thermojacke an und lieh ihr meinen dicken Pullover. Wir setzten uns auf einen Felsbrocken und warteten, lauschten in die Dunkelheit, schwiegen, weil wir das Wild nicht vertreiben wollten. Irgendwann nahm sie meine Hand, drückte sie fest. Später flüsterten wir, erzählten uns Geschichten, alles, was uns gerade einfiel. Wir kicherten und tranken von dem Whiskey, den ich in den Flachmann gefüllt hatte. Wir haben die Bären und Schakale verpasst. Ich küsste sie, bevor sie zu ihrem Schlafsack trottete, der weit entfernt von meinem ausgebreitet war, und nahm ihre Lippen mit in den Schlaf. Die Spannung, die seit dieser Nacht zwischen uns knisterte, entlud sich erst, als wir wieder in Genf ankamen. Sie stieg zu mir ins Auto. Wir fuhren zu dem Mietshaus, in dem ich wohne, nahmen den Aufzug in den achten Stock, ohne uns anzusehen oder zu berühren. Die Tür schloss sich hinter uns. Wir schliefen keine einzige Minute in dieser Nacht. Sie schaute mich mit ihren riesendunkelblauen Augen an, küsste meine Ohren, hielt krampfhaft meine Hand, wollte mich nicht loslassen und konnte es kaum fassen, dass ich aufstehe, um ohne sie zur Toilette zu gehen. Dennoch war sie am nächsten Tag weg. Die Erinnerung an ihren Geschmack, ihren Geruch schlummert seither in mir, eintätowiert und verborgen.