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- Anmerkungen zum Text
Im Text kommen einige Begriffe vor, die schweizerisch geprägt und ggf. nicht weitläufig bekannt sind:
Stumpen
Kurze ZigarrePöstler
PostboteBetreibungsamt
Inkassodienst, in der Schweiz jedoch auf kantonaler oder kommunaler EbeneCouvert
BriefumschlagSechseläutenumzug
Jährlich stattfindendes Frühlingsfest in ZürichAmmann
Verwaltungsbeamter, Vorsteher eines Kantons, einer Gemeinde, eines Bezirks o. Ä. (Quelle: dwds.de)Strahlstock
Werkzeug eines Strahlers bzw. Mineraliensuchers aus Metall; von der Form her ähnlich wie ein BrecheisenStufe (z.B. von Quarz)
Als Stufen bezeichnet man Verwachsungen gut ausgebildeter Kristalle bzw. mehrere einzelne freie Kristalle, welche sich an den Wänden von Hohlräumen oder Druse/Geoden gebildet haben. (Quelle: mineralienatlas.de)Billett
Ticket/FahrkarteSpital
Krankenhaus
Dein Platz ist genau hier
Gian kam vom Dorf und stapfte über das Grab der Mutter. An der Grabkerze zündete er den Stumpen an, den er tags zuvor aus dem Aschenbecher in der Werkstatt des Vaters gefischt hatte, und der Rauch stieg in dünnen Fäden zum Wipfel der alten Eiche. Es war ein grauer Donnerstag im Dezember und kurz nach Mittag, die Luft stand still. Aus der Ferne hörte Gian das Läuten der Kirchenglocke. Er rotzte einen Batzen Schleim neben die dunkle Erde, wandte sich ab und ging über den Kiesplatz; vor der Veranda lehnte er sich mit dem Rücken gegen den Opel Kadett des Vaters. Dann paffte er und sah hoch zu den Bergen, die das Dorf umschlossen und mit einer kalkweißen Schicht Schnee überzogen waren. Gian sah hoch und paffte und als er sich gerade auf den Boden hocken wollte, kam der alte Weidmann den Weg zum Haus herauf gehetzt.
«Herrje!», sagte der alte Weidmann. «Lass den Mist doch endlich sein, Junge.»
Gian blies eine Rauchwolke aus dem Mund; er hustete und wedelte den Qualm vor seinem Gesicht weg. Er sagte: «Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, ja?»
«Herrje!», sagte der alte Weidmann. «Du weißt ja gar nicht, was du dir antust.»
Gian kniff die Augen zusammen. Er sah auf die von Äderchen durchzogene Nase des Pöstlers und verzog die Lippen. Mit den Fingern strich sich der alte Weidmann durch den Bart, und die Finger waren knochig und blass; der Bart des alten Mannes aber hing wuchtig und weiß über dem dunkelroten Gesicht. Gian schnaubte und winkte ab und sagte: «Jetzt geben Sie schon her, ja?»
«Herrje!», sagte der alte Weidmann. Er rückte die Mütze mit den roten Litzen auf dem Kopf zurecht, zog die Ledertasche über den Bauch und kramte ein Bündel Briefe aus der Ledertasche. Er streckte Gian das Bündel entgegen und Gian riss es ihm aus der Hand. Der alte Weidmann zupfte den grauen Filzkittel zurecht. Er tippte sich an die Mütze und sagte: «Bestell dem Vater und der Schwester meine Grüße zum Fest.» Dann machte er kehrt, warf immer wieder die knochigen Hände in die Luft, ging vorbei an der alten Eiche und schlurfte den Weg zum Dorf hinab.
Der Stumpen war fast erloschen. Gian zog hastig daran, bis die Glut wieder leise knisterte und flammendrot aufleuchtete. Als der Stumpen bis zum Mundstück abgebrannt war, kratzte Gian eine Kuhle in den Boden, legte den Stummel hinein und begrub ihn unter dem Kies. Er sah das Bündel durch: zuoberst ein Schreiben des Elektrizitätswerks, darunter drei Mitteilungen vom Betreibungsamt und ganz unten ein handschriftlich an die Schwester adressierter Brief. Gian wendete das Couvert und las die Absenderadresse auf der Lasche. «Hol mich der Teufel», sagte er.
Im Haus war die Luft stickig und roch nach altem Lauch. Alina saß am Esstisch und rieb die Hände über den Kerzen eines Adventskranzes. Neben ihr lag ein Stapel ungeöffneter Briefe; der Stapel wellte die Tischdecke und war hoch wie die Faust eines Bauern.
Alina schaute auf. Sie verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln und sagte: «Oh!» Dann stand sie auf und schob Gian einen Teller mit Lebkuchen entgegen. Sie trug den Wollmantel, den ihr die Mutter hinterlassen hatte, und sie trug den mit Blumenmotiven bestickten Rock und Schuhe mit hohen Absätzen; die Hände vergrub sie in den Seitentaschen des Mantels.
Gian sagte: «Du holst dir noch den Tod, ja?» Gerade wollte er das Briefbündel aus der Gesäßtasche ziehen, als sein Blick wieder auf den Stapel auf dem Tisch fiel: Unter dem Stapel lugte die Ecke eines Fotos hervor. Gian erkannte das Foto sofort, denn er selbst hatte es gemacht, im Frühling, als er und Alina nach dem Tod der Mutter für einige Zeit bei Tante Ladina und Onkel Curdin in Zürich gewohnt hatten. Auf dem Foto posierte Alina vor der Sankt-Peter-Kirche; sie strahlte in der Frühlingssonne und sie trug den gleichen Rock mit den Blumenmotiven. Alina stand dort vor der Kirche und neben ihr stand Dario, der Sohn eines Anwalts aus dem Unterland, den Alina am Sechseläutenumzug kennengelernt hatte und der nie müde geworden war, Alina Komplimente über ihre Waden zu machen. Vor den Augen sah Gian Darios Gesicht, mit dem er in die Kamera gegrinst hatte, und das Bündel in seiner Gesäßtasche wog plötzlich schwer. Gian schnaubte und setzte sich an den Esstisch. Dann zog er den Teller mit dem Lebkuchen zu sich heran und sagte: «Du bist blass, ja?»
«Oh!», sagte Alina. «Die Nacht war eben kurz.»
Gian sagte: «Du solltest nicht länger im Wirtshaus arbeiten, ja?»
Alina setzte sich zu Gian an den Esstisch. «Aber die Arbeit ist gut», sagte sie. «Man ist dort gut zu mir.»
«Gut?» Gian brach den Lebkuchen in zwei Hälften und sagte: «Er ist hart wie ein Quarz, ja?»
«Man hat mir auch Gemüse mitgegeben», sagte Alina. Mit dem Zeigefinger deutete sie zur Küche. Gian warf einen Blick über die Schulter: Vor dem Herd stand ein Korb und in dem Korb lagen Kartoffeln, Rüben, Zwiebeln und ein Bund Lauch. «Ich kann uns morgen eine Suppe kochen», sagte Alina. «Es ist Heiligabend und wir haben noch Brot.»
Gian sagte: «Herrgott, Alina!», und dann: «Sicher ist’s vom Ammann, das Gemüse, ja?»
Alina schwieg; sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
«Ich kann auf dem Hof vom alten Bonifaz arbeiten», sagte Gian. «Gleich morgen gehe ich runter ins Dorf und sag’s ihm, ja? Er bezahlt die Knechte gut.»
Alina sagte: «Und die Berufsschule?» Sie langte über den Tisch und brach ein Stück Lebkuchen ab; sie klopfte die Krümel von dem Stück und die Krümel fielen auf den Teller. «Wir werden den Winter schon überstehen», sagte sie. Dann schob sie sich das Lebkuchenstück in den Mund.
«Du wirst den nächsten Frühling nicht erleben, wenn du weiter rumrennst, als wär’s noch August!», sagte Gian, und während er das sagte, blitzte Darios Grinsegesicht erneut vor seinen Augen auf. Ihm wurde mit einem Schlag so warm unter der Jacke wie damals im Frühling, wenn Alina in den lauen Nächten aus der Wohnung von Tante Ladina und Onkel Curdin geschlichen war. Gian schnaubte und sagte: «Herrgott!», und dann: «Hast du dem Vater das Holz rübergebracht, ja?»
«Oh!», sagte Alina und hob die Hände vor den Mund. «Ob ihm wohl warm ist?»
«Herrgott, Alina!», sagte Gian. Er fuhr vom Tisch hoch, stampfte hinüber zur Feuerstelle und packte die restlichen Holzscheite auf den Arm. Dann rauschte er mit dem Holz durch den Flur; er öffnete die Tür und trat hinaus auf die Veranda. Ein kalter Wind blies ihm entgegen. Die Wolken hingen jetzt tiefer und ein Regen mit dünnen, lautlosen Tropfen hatte eingesetzt.
«Gian!», rief ihm Alina hinterher.
Gian drehte sich um; er drehte sich so schnell um, dass ihm fast ein Holzscheit aus dem Arm gerutscht wäre. Er sagte: «Was?»
Alina stand im Türrahmen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: «Hast du auf dem Heimweg vielleicht den Pöstler getroffen?»
Er sagte: «Nein!»
«Oh!», sagte sie.
Er sagte: «Wartest du auf etwas Bestimmtes, ja?»
«Nein», sagte sie.
Er sagte: «Dann ist’s ja gut.»
Der Wind wehte aus dem Tal herauf und das blecherne Reklameschild über dem Eingang zur Werkstatt schepperte an der Wand. Der Ton beruhigte Gian. Er nahm sich vor, das Schild über die Festtage abzunehmen, die Farbe abzukratzen und das Blech in der Stadt zu verkaufen; bestimmt würde ihm ein Schlosser oder die Metallstanzerei ein paar Franken dafür geben. Für einen Moment beobachtete er die Regentropfen, die auf das Schild fielen und über die Illustration eines Bergkristalls und den Namen des Vaters rannen. Dann öffnete er die Tür und ging in die Werkstatt. Die Tür quietschte, als er sie hinter sich ins Schloss zog.
Drinnen war es dunkel und warm und Gian schlug der gewohnte Geruch von zerriebenem Fels, abgestandenem Rauch und Schweiß entgegen. Er legte die Holzscheite auf den Boden und tastete nach dem Lichtschalter; er tastete und fand den Schalter und die Deckenlampe flackerte auf wie ein lautloses Gewitter. «Ich bin’s», sagte Gian.
Doch der Vater rührte sich nicht. Er saß in dem mit Brandlöchern übersäten Sessel und schnarchte; ein Hosenträger hing lose über der Schulter. Seinen Strahlstock hielt der Vater mit beiden Händen umklammert. Gian strich ihm die Haarsträhnen aus dem Gesicht; sie verdeckten ihm die Augen. Gian packte den Vater an den Schultern und schüttelte ihn und mit einem Mal schreckte der Vater auf. Der Strahlstock schmetterte zu Boden und das schwere Metall klirrte. Mit glasigen Augen sah der Vater zu Gian hoch. «Bub», stammelte er, und dann: «Teufel noch eins!» Seine Lippen klebten aneinander und der halb eingetrocknete Speichel zog weiße Fäden, wenn er sprach. «Weiß denn die Mutter, dass du hier bist, Bub?»
Gian sagte: «Die sind für dich, ja?» Er packte die Holzscheite und legte sie auf den Werkzeugkoffer neben dem Sessel; eine Staubschicht bedeckte den Koffer und in Gian kam das Bild hoch, wie er und der Vater am Kadett rumschrauben.
Der Vater starrte auf die Holzscheite hinab. «Teufel noch eins!», sagte er dann und krallte die gelben Fingernägel in die Armlehnen. Er bückte sich nach vorn, hob den Strahlstock vom Boden und umklammerte ihn. Auf dem Hocker zur Rechten des Vaters lagen der Aschenbecher, ein Briefchen Zündhölzer und eine leere Stumpenschachtel; daneben stand das gerahmte Foto der Mutter. Das Schutzglas war mit Fingerabdrücken zugeschmiert. Der Vater sagte: «Was die Mutter wohl zum Fest kocht?», und dann: «Willst du es mir verraten, Bub?»
Gian schnaubte. «Nein», sagte er, «die Mutter wird zum Fest nicht da sein, ja?»
Der Vater murmelte etwas; Gian verstand es nicht. Dann fielen die Augen des Vaters zu und er sank nach hinten in den Sessel wie ein Baum, der gefällt wird.
Gian schnappte sich zwei halb aufgerauchte Stumpen aus dem Aschenbecher. Er klopfte die Asche von ihnen ab und steckte sie in die Jackentasche. Das Feuer im Ofen knisterte. Gian öffnete die Klappe des Ofens und schob ein Holzscheit nach. Dann ging er hinüber zum Spülbecken; er füllte Wasser in den Teekessel, stellte ihn auf den Ofen und setzte sich auf die Arbeitsplatte in der Mitte der Werkstatt.
Die Quarze, die Gian und der Vater im Jahr zuvor gefunden und vom Berg gebracht hatten, lagen trüb und verstaubt da. Gian zog eine Stufe von Rauchquarz zu sich heran; das Mineral knirschte auf der Arbeitsplatte. Im Hintergrund hörte er das Schnarchen des Vaters. Mit einem Pinsel bürstete Gian den Staub von den Kristallen. Er saß auf der Arbeitsplatte und bürstete den Quarz und wie aus dem Nichts schnellte zwischen den fingerdicken Kristallen eine Spinne hervor. Gian schreckte hoch. Die Spinne saß dort auf dem Rauchquarz mit ihren langen, haarigen Beinen. Ihm war, als starrte sie ihn an, und dann reckte sie das vordere Beinpaar in die Luft. Gian pustete die Spinne an; blitzartig verkrampfte sie sich zu einer braunen Kugel. Nach einer Weile und behutsam wie eine Blume, die ihre Blüte beim ersten Sonnenstrahl öffnet, streckte die Spinne die Beine wieder aus. Gian pustete kräftiger. Er pustete noch einmal und die Spinne krabbelte über den Tisch und verkroch sich in einer Stufe von Blutstein. «Was für ein Monster!», sagte Gian.
Der Vater schmatzte auf. Gian drehte sich zu ihm hin und er sah, dass die Augen des Vaters verschlossen waren, und er sah auch, wie der Unterkiefer langsam wieder nach unten fiel.
Gian bürstete noch immer den Staub vom Rauchquarz, als das Wasser zu blubbern begann. Dampf zischte aus der Kesseltülle. Er legte den Pinsel auf die Arbeitsplatte, kniete sich vor den Ofen und zückte das Briefbündel aus der Gesäßtasche. Dann dampfte er das an Alina adressierte Couvert auf.
Zürich, den 21. Dezember 1964
Meine liebe Alina,
ich danke dir herzlich für deinen Brief, er erreichte mich bei bester Gesundheit.
Ich weiß offen gesagt nicht, wo ich anfangen soll, denn es macht mich unendlich traurig, wenn ich lese, wie die Dinge bei euch im Dorf stehen. Aber um deine Frage gleich vorab zu beantworten: Selbstverständlich werde ich dir helfen, meine liebe Alina, denn ich ertrage den Gedanken nicht, dass du auch nur einen weiteren Tag unter diesen Umständen leidest.
Komm zu mir nach Zürich! Komm so schnell, wie du nur kannst, und dann besprechen wir alles Weitere. Du kannst so lange bleiben, wie du willst, meine liebe Alina, denn du weißt ja, dass bei mir immer genügend Platz für dich ist.
Ich schicke dir anbei fünfzig Franken. Benutze sie für Benzin oder für das Billett, falls du mit dem Zug nach Zürich reisen wirst.
Komm so schnell, wie du nur kannst, meine liebe Alina, denn ich wünsche mir sehr, dass wir das Weihnachtsfest zusammen feiern.
Ich warte auf dich.
Dario
Gian faltete den Brief und steckte ihn zusammen mit der Fünfzig-Franken-Note ins Couvert zurück. Seine Ohren glühten; er hörte das Blut darin rauschen. Er atmete schwer und ihm war, als hätte man ihm einen Stein gegen die Brust geschmettert. Und erst als er die Leimtube aus dem Werkzeugkoffer holen wollte, um das Couvert wieder zu verschließen, bemerkte Gian, dass der Vater nicht mehr im Sessel saß. «Herrgott!», sagte er. Die Eingangstür stand einen Spalt weit offen. Gian trat hinaus aus der Werkstatt. Er trat hinaus und sah, wie der Vater tropfnass vor dem Grab der Mutter kniete und weinte.
Alina saß wieder am Esstisch. Sie hatte die Hände aufeinandergelegt und den Kopf darauf gebettet. Die Kerzen auf dem Adventskranz flackerten, als Gian an den Tisch kam. Sein Haar war durchnässt und von den Jackenärmeln tropfte Wasser auf das Parkett; ihm war kalt. Dann sah er auf die Ecke des Fotos unter dem Briefstapel. Er sagte: «Alina!»
Und Alina schreckte hoch. «Oh!», sagte sie. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und die Lider hingen dunkel und schlaff über ihren Augen. Sie sagte: «Ist ihm wieder warm?»
«Ja», sagte Gian, «er hat’s warm.» Gleich darauf langte er in die Gesäßtasche, holte das Briefbündel hervor und ließ es neben dem Adventskranz auf den Tisch fallen. Er setzte sich an den Esstisch und sagte: «Der alte Weidmann hat doch noch den Weg zu uns gefunden.»
«Oh!» Alina schob das Bündel zu sich heran und sagte: «Was hat er denn gebracht?»
«Wohl das Übliche, ja? Ich hab’s mir nicht angesehen», sagte Gian und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht. «Erst will ich wieder trocken werden, ja?»
Alina sagte: «Meine Güte.» Sie legte den Brief des Elektrizitätswerks auf den Stapel und ihr Rücken krümmte sich, als sie die Mitteilungen des Betreibungsamts überflog. Dann lag nur noch das handschriftlich adressierte Couvert vor ihr auf dem Tisch. Das Couvert lag dort und Alina hob den Blick und mit einem Mal blitzte ein Leuchten in ihren Augen auf.
Gian lehnte sich nach vorn und sagte: «Ist das die Sankt-Peter-Kirche auf der Briefmarke, ja?»
«Oh!», sagte Alina, und dann: «Ja, das ist sie doch.»
Gian sagte: «Dann ist der Brief wohl aus Zürich, ja?»
Alina drehte das Couvert um. «Ja», sagte sie, «von Tante Ladina und Onkel Curdin ist er. Bestimmt schicken sie uns Grüße zum Fest.»
«Wie schön», sagte Gian. «Schließlich ist’s eine Weile her, seit wir das letzte Mal von ihnen gehört haben, ja?»
Alina sagte: «Man hat eben viel zu tun in der Stadt.»
«Das ist wohl wahr», sagte Gian. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und ballte sie zu Fäusten. Er sagte: «Lies doch mal vor, ja?»
«Oh!», sagte Alina. «Jetzt gleich?»
Gian nickte und sagte: «Aber ja doch.»
Alina schob einen Finger unter die Lasche des Couverts. Sie riss die Lasche ab, knüllte sie zusammen und steckte sie in die Manteltasche. Dann faltete sie den Brief auf und die Fünfzig-Franken-Note landete auf dem Tisch wie ein welkes Blatt auf dem Herbstboden. «Oh!», sagte Alina. «Sie schicken uns Geld.»
Gian sagte: «Wie lieb von ihnen. Das können wir gut brauchen, ja?» Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: «Wer hätte gedacht, dass uns der alte Weidmann jemals Geschenke nach Hause trägt?»
Alina schwieg und las und beim Lesen bewegte sie die Lippen. Gian beobachtete sie und er sah, wie das Wasser in ihre Augen trat. Sie hielt den Brief mit beiden Händen fest; das Papier zitterte. «Meine Güte!», sagte sie plötzlich.
Gian sagte: «Sind’s gute Neuigkeiten, ja?»
«Oh!», sagte Alina, und dann: «Nein! Der Onkel Curdin liegt wohl im Spital.»
«Herrgott!», sagte Gian und fuhr vom Stuhl hoch. «Ist’s denn was Schlimmes, ja?»
Alina sagte: «Man weiß es nicht!» Sie stand auf und stopfte den Brief, das Couvert und die Fünfzig-Franken-Note in die Manteltasche. «Die Tante will, dass ich zu ihr nach Zürich fahre. Sie braucht wohl dringend Beistand.» Alina sah hoch zur Uhr über dem Kücheneingang. «Wirst du mich gleich zum Bahnhof fahren?», sagte sie.
Gian sagte: «Den Zug wirst du nicht mehr erwischen, ja? Der fährt in einer halben Stunde.»
«Oh!», sagte Alina. «Dann fahre ich mit dem Auto, wenn es dir recht ist?»
Gian sagte: «Ich kann dich begleiten, ja? Wir fahren zusammen nach Zürich.»
«Und wer passt auf den Vater auf?» Alina legte die Hände auf Gians Schultern und sagte: «Man muss doch schauen, dass ihm warm ist und dass er zu essen hat.» Dann eilte Alina aus dem Esszimmer und durch den Flur und Gian hörte, wie sie die Treppe zum oberen Stock hochstieg.
Gian schnaubte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Alina eben gesessen hatte; das Polster war noch warm. An der Stelle, wo sie ihn berührt hatte, lastete das Gewicht eines ganzen Bergs auf ihm. Sein Blick wanderte zum Adventskranz und weiter zum Foto unter dem Briefstapel. Er zog das Foto hervor und er sah die lachenden Gesichter und die Mauer der Sankt-Peter-Kirche. Für einen Moment mimte er Darios Grinsen nach, er zog die Mundwinkel so weit nach oben, wie er nur konnte, und gleich darauf ging Darios Grinsen in Flammen auf. Schwarzer Rauch stieg zur Decke. Für einen Moment war das Esszimmer hell erleuchtet. Der Geruch von verbranntem Kunststoff ätzte in Gians Nase und aus dem oberen Stock drang das Klackern von Alinas Absätzen zu ihm herab. Gian blies die Kerzen aus. Er stand auf, ging durch den Flur und fischte den Autoschlüssel von der Kommode. Mit dem Schlüssel in der Hand trabte er zum Kadett des Vaters. Gian legte den Kopf in den Nacken; Regentropfen prasselten auf sein Gesicht und er hörte das Scheppern des Reklameschilds im Wind. Dann klappte er die Motorhaube des Kadetts hoch, zog die Zündkerzenstecker ab und ließ die Motorhaube mit einem metallischen Knall zurück ins Schloss fallen.
Gian stand im Flur und um ihn herum hatte sich eine Pfütze gebildet. An seinen Fingern klebten Tabakstücke. Die Stumpenstummel lagen wie ein Brei in der Jackentasche; sie hatten den Stoff dunkelbraun verfärbt. Gian zog eine Ladung Rotz hoch und im gleichen Moment, als er den Autoschlüssel zurück auf die Kommode legte, kam Alina die Treppe herunter gehetzt. In den Händen hielt sie zwei Lederkoffer.
«Es ist wirklich gut, dass die Tante Geld geschickt hat», sagte Alina. «Ich kann damit Benzin kaufen.»
Gian sah auf die Lederkoffer. Er sah die Koffer an und sagte: «Du bleibst wohl länger weg, ja?»
«Um den Onkel steht es gar nicht gut», sagte Alina, «aber ich will sehen, dass ich vor Silvester zurück bin.» Ihr Atem ging schwer. Sie stellte die Lederkoffer auf die Veranda und sagte: «Besser, man nimmt ein wenig mehr mit.»
Gian drehte sich von Alina weg. Er stützte die Arme auf der Kommode ab und sein Blick blieb auf dem gerahmten Foto hängen, das auf der Kommode stand und das sie alle zusammen vor einem schwer beladenen Weihnachtsbaum zeigte. «Alina», sagte er, «ich weiß, dass du nicht zu Tante Ladina fährst, ja?»
«Oh!», sagte Alina. «Was meinst du damit?»
«Herrgott!» Gian drehte sich zu Alina hin und sagte: «Schluss jetzt mit dem Theater, ja? Ich weiß ganz genau, was in dem Brief steht!» Er schnaubte und hielt den Zeigefinger auf Alinas Manteltasche gerichtet.
In Alinas Augen lag plötzlich ein Ausdruck, der sie um Jahre älter wirken ließ. Sie stand zwischen den Lederkoffern; die Arme hingen schlapp von den Schultern. Alina stand dort und der Wind heulte durch den Flur. Mit leiser Stimme sagte sie: «Du hast den Brief gelesen?»
«Wir brauchen ihn nicht!», sagte Gian. «Du brauchst ihn nicht, ja?»
Alina zog Darios Brief aus der Manteltasche. Sie zog ihn aus der Tasche, knüllte ihn zusammen und dann warf sie den Brief gegen Gians Brust. Sie sagte: «Wie kannst du es wagen?»
«Die Hure eines Unterländers!», sagte Gian. «Das ist es also, was du sein willst, ja?»
Alina kam angerauscht wie die Sturzflut nach einem Gewitter. Mit beiden Händen umfasste sie Gians Gesicht; ihre Finger waren warm, der Blick eisig. «Zum Teufel mit dir!», sagte sie. Gian sah, wie das Blut in Alinas Schläfen pochte und als sie von ihm ließ, strich die Luft kühl über seine Wangen. Alina schnappte sich die Autoschlüssel. Der Wind hatte weiter aufgefrischt, ihr Rock flatterte jetzt, und als sie vor Gian stand, peitschte der mit Blumen bestickte Stoff wieder und wieder gegen seine Beine. Sie sagte: «Versprich mir, dass du dich um ihn kümmerst!» Das sagte sie, und sie sagte es noch einmal, doch Gian wich ihrem Blick aus, starrte auf seine nassen Stiefel, die Hände in den Jackentaschen vergraben.
Alina wendete sich von ihm ab. Und erst als er das Knarren der Türschwelle hörte, blickte Gian auf. «Alina!», sagte er. «Mach dir doch nichts vor, ja? Dein Platz ist genau hier.»
Sie hielt inne. Sie drehte sich um. Sie seufzte. Ohne ein weiteres Wort oder eine letzte Berührung stürmte sie hinaus auf die Veranda, ergriff die beiden Lederkoffer und eilte die Stufen der Holztreppe hinab. Sie warf das Gepäck in den Kofferraum des Kadetts, knallte die Heckklappe zu, hastete zur Fahrertür, schwang sich hinter das Lenkrad und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
Die Wolken hatten die Farbe von beschlagenem Blech. Gian hörte die Regentropfen und die Kirchenglocke und Alinas Schreie aus dem Inneren des Kadetts. «Dario!», rief sie, und dann: «Dario!» Sie kletterte auf die Rückbank; mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Gian durch die Heckscheibe an.
Gian stand im Türrahmen. Er stand dort und strich mit dem Zeigefinger über den Stahl der Türkette. Immer wieder zuckte Alina zusammen und sie weinte und sie vergrub das Gesicht in den Händen. Gian ging über die nassen Planken der Veranda und die Stufen der Holztreppe hinab. Kurz vor dem Kadett des Vaters machte er einen Bogen; der Kies knirschte unter den Stiefeln und er stampfte am Kadett vorbei und weiter zum Grab der Mutter. Einen Moment lang stand er regungslos unter der alten Eiche. Gian las die Inschrift auf dem Grabstein; er atmete tief. Schon wollte er umkehren, doch dann zog ihn etwas zu sich hinab, und Gian gab nach und er kniete sich hin. Er kniete vor dem Grab der Mutter und wie ein Zaunpfahl, der in den Boden getrieben wird, rammte Gian plötzlich eine Hand in die dunkle Erde. Er krallte die Finger zusammen; vom Regen war die Erde weich und feucht. Mit der anderen Hand packte er die Grabkerze. Dann stand er auf und preschte zurück zum Kadett.
Aus Alinas Gesicht war sämtliche Farbe gewichen. Gian baute sich vor dem Kofferraum auf. Er sah in Alinas Augen und die Augen waren trüb und wässrig und die Ränder waren gerötet. Wie die alten Frauen am Sonntag in der Kirche faltete Alina die Hände; sie drückte sie an die Brust. Grau schimmernde Tränen rannen über ihre Wangen, tropften auf den Mantel und auf den Rücksitz. Mit den Lippen flüsterte Alina ein lautloses «Bitte».
Gian presste die Erde in seiner Hand zusammen. Er presste und er spürte das Wasser in der Erde und mit all seiner Kraft klatschte er das dunkle Gemisch auf die Heckscheibe. Alina schrie auf. Die Erde glitt nach unten an den Rand der Heckscheibe; sie hinterließ einen schmierigen Film über Alinas Gesicht. Spuckfäden spannten sich zwischen ihren Lippen. Dann schob Gian die Erde zu einem Haufen zusammen.
«Nein!», sagte Alina, und gleich darauf: «Nein!»
Gian drehte die Grabkerze in seiner Hand. Er drehte die Kerze und während er sie von allen Seiten besah, ertönte jäh ein Knall. Gian schreckte zusammen. Er sah hinüber zur Werkstatt: Vor der Eingangstür stand der Vater. Wie ein Gespenst stand er dort im Regen, die Haarsträhnen klebten im blutleeren Gesicht und in der Hand hielt der Vater den Strahlstock. Die Eingangstür quietschte im Wind. Auf dem Boden lag das verbeulte Reklameschild. «Schluss!», sagte der Vater.
Gian drehte sich weg. Er schnaubte und sah zu Alina hinab und ohne den Blick von ihr abzuwenden, bohrte er die Grabkerze in den Erdhaufen auf der Heckscheibe.
Dann rannte der Vater los. Er rannte los und reckte den Strahlstock in die Luft und in den Zweigen der alten Eiche rauschte der Wind; Gian sah hoch zu den Bergen, die sie umschlossen, und er sah, wie der Regen erstarb und wie leuchtend weiße Schneeflocken vom Himmel auf sie herabfielen.