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- Anmerkungen zum Text
Der Text ist jetzt eigentlich ein ganz anderer. Lediglich Figuren wurden aus dem alten Text übernommen.
Ich möchte langfristig ein Geflecht an Kurzgeschichten schreiben, indem die Lebensgeschichten einzelner Figuren miteinander verwoben werden. Eine erste Geschichte widmet sich der Tochter.
Es wäre mir jedoch super wichtig, dass jeder der Texte auch für sich stehen kann und einzeln verständlich ist. Ich freue mich sehr über Kritik
Bruchstücke
Tobias war unangenehm wach. Als er die Augen öffnete, zeigte sein Handydisplay 5.20 Uhr an. Er löste sich aus der Umarmung seiner tief atmenden Frau. Ihre Haut war vom Schlaf klebrig geworden. Das Bett war schon lange zu eng für beide, das Haus schon lange zu groß. Er schälte sich aus der warmen Umhüllung der Decke und lief in seinen Boxershorts über die kalten Fliesen zur Küche. Er dachte an den gestrigen Anruf. Seine Tochter war wegen Magersucht in eine Klinik eingewiesen worden. „Meine Tochter ist nicht süchtig, sie ist großartig“, hatte er am Telefon mit stockender Stimme gesagt. Dabei glaubte er selbst nicht an den Widerspruch in seiner Aussage. Gedankenverloren trank er ein Glas Wasser. Vielleicht lief nun alles in einem verhärteten Knotenpunkt zusammen. Er dachte an das gemeinsame Versprechen. Dass sie seine Lüge nicht mehr hatte schlucken können, blieb nur eine ahnende Vermutung. Kaum hatte sie das elterliche Haus verlassen, würgte sie die Wahrheit hinauf. Falls er mit seiner nebligen Vermutung Recht behalten sollte, hatte vielleicht alles mit Apollos archaischem Torso begonnen. Wie ironisch.
„Was ist ein Torso?“, hatte Nina ihn damals gefragt. Sie lasen gerade Rilke, es war kurz vor den Sommerferien. „Kann jemand weiter helfen?“, fragte er in die Runde. Gelangweiltes Kippeln auf Stühlen blieb die Antwort. Freitags in der fünften und sechsten Stunde unterrichten zu müssen war undankbar. Außerdem war es heiß. „Ein Torso“, sagte er dann: „ist eigentlich ein Rumpf. Man nutzt den Begriff hauptsächlich in der Kunst und meint damit den Körper einer menschlichen Statue ohne Kopf und Gliedmaßen. In diesem Fall geht es um den Torso des Gottes Apollo.“ Sie sprachen darüber, dass zur Entstehungszeit des Gedichtes das Bruchstückhafte eine Aufwertung erfuhr. Es wurde als eigenständiges Kunstwerk aufgefasst und dem Ganzen übergeordnet. Sie kamen zur letzten Strophe:
„und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“
„Und dieser Mann ohne Kopf will mir sagen, dass ich mein Leben ändern muss?“, fragte Nina weiter. Tobias, der zu diesem Zeitpunkt noch Herr Schwarz für sie gewesen war, musste schmunzeln. Er erkannte ihre Absicht ihn herausfordern und beeindrucken zu wollen. Er mochte Nina schon damals, darum war seine Erkenntnis eine Enttäuschung und ein Kompliment gleichermaßen.
Noch am gleichen Tag wartete Nina nach dem Unterricht auf dem Lehrerparkplatz auf ihn. Rauchend stand sie vor seinem Auto. „Was machst du hier?“, fragte Tobias. Sie sah immer ein wenig frech aus, was an ihrem kurzen, roten Haarschopf liegen konnte. Wie üblich trug sie ein großes, kariertes Hemd. Es war so lang, dass es fast ihre Shorts verdeckte. Ihre nackten Beine steckten in schwarzen Dr. Martens. Sie hatte das Hemd an den Armen umgeschlagen und es am Hals als Dekolleté ein wenig aufgeknöpft. Volle Brüste ließen sich erahnen. „Ich dachte, vielleicht könnten Sie mich ein Stück mitnehmen“, antwortete sie und trat ihre Zigarette aus: „Ich wohne in der Vorstadt.“ Tobias musste tatsächlich in die gleiche Richtung. Er überlegte kurz und hielt ihr dann wortlos die Autotür auf. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und ließ ihre Tasche zwischen ihre Beine fallen. Sogleich begann sie ein Gespräch: „Diese letzte Zeile aus dem Gedicht; Du musst dein Leben ändern. Irgendwie kommt das mir bekannt vor.“ Er startete den Motor und sagte: „Sie ist auch sehr bekannt.“ Sie bogen auf die Straße ein und Nina ließ den Fahrtwind durch das Fenster hinein. Tobias fügte hinzu: „Sloterdijk hat auch ein Buch mit dem Titel geschrieben. Weißt du wer das ist?“ Sie nickte: „Dieser rechte Philosoph, oder?“ Tobias musste erneut schmunzeln. Sie erzählte ihm, dass sie vielleicht Philosophie studieren wolle und schaute ihn dabei erwartungsvoll an: „Was denkst Du, ehm Sie, also was denken Sie darüber?“ „Du wirst arbeitslos, das denke ich darüber“, antwortete Tobias. Sie war offensichtlich enttäuscht: „Das sagt jeder. Von Ihnen hatte ich eine andere Antwort erwartete.“ Eine Weile fuhren sie schweigend. Dann brach sie erneut die Stille: „Aber Lehrer haben bestimmt ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Sie sind wahrscheinlich verheiratet?“ Es war ein Fehler gewesen sie mitzunehmen. Auf dem Beifahrersitz neben ihm war sie keine Schülerin mehr und eine neue Ebene musste ausjustiert werden. „Ja“, antwortete er: „Ich bin glücklich verheiratet und habe ein siebenjährige Tochter. Sie heißt Mia.“ Er ließ sie in einiger Entfernung von seinem Haus aus dem Auto.
In den Wochen darauf beteiligte Nina sich kaum noch an seinen Stunden. Der Unterricht wurde schleppend und es störte Tobias, dass sie nun ihren Blick senkte, wenn sie ihn sah. Er konnte nicht einordnen, ob sie mit ihm spielte, oder tatsächlich nachträglich eingeschüchtert war von ihrer eigenen Offensive. Er wusste, dass es ihm hätte weniger wichtig sein sollen. Eigentlich war es ihr Problem. Er war überrascht davon, dass er es zu seinem machte. In der Stunde vor den Ferien lud er den Kurs zum Eis essen ein. Auch diesmal ging Nina ihm aus dem Weg. Einmal blickte sie ihn kurz an, dann gab sie sich vertieft in ein Gespräch mit einer Freundin. Wer weiß, vielleicht hatte er die ganze Situation auch völlig missdeutet. Vielleicht hatte sie tatsächlich einfach nur ihren Bus verpasst an dem Tag, als er sie mitgenommen hatte. Immerhin knöpfte sie ihr Hemd nicht für ihn auf und jegliches zweideutiges Zeichen ihrerseits ließe sich auf zwielichtige Träumerei seinerseits zurückführen. Doch als er nach dem gemeinsamen Eis essen das letzte Mal für dieses Schuljahr auf den Lehrerparkplatz ging, sich in sein von der Sonne aufgeheiztes Auto setzte und los fahren wollte, bemerkte er, dass die Windschutzscheibe rot beschmiert war. Er stieg wider aus und las die mit rotem Lippenstift auf Glas geschriebenen Buchstaben: DU MUSST DEIN LEBEN ÄNDERN: 017644748238. Tobias hätte es seiner Frau zeigen und mit ihr darüber lachen können. Er hätte ihr von Nina erzählen können. Stattdessen schrubbte er das Rot von seinen Scheiben, nicht ohne zuvor ihre Nummer eingespeichert zu haben. Vielleicht wollte er nur wissen, ob es tatsächlich ihre Nummer war. Ihr Profilbild zeigte sie mit Sonnenbrille auf einem Geländer sitzend. Er masturbierte einmal, als er sich das Bild anschaute. Seine Träumerei musste sein Geheimnis bleiben. Sie durfte nichts davon ahnen. Er nahm sich vor ihr niemals und unter keinen Umständen zu schreiben.
Er verbrachte ruhige Sommerferien mit seiner Frau und seiner Tochter Mia auf Rügen. Wenn er abends am Strand spazieren ging dachte er manchmal, dass es vielleicht normal war, dass aus einer Liebesbeziehung ein Team wurde, sobald ein gemeinsames Kind geboren wurde. Das Team Mia sozusagen. Ein Team, um das Mädchen gemeinsam großzuziehen. Mia war kein schüchternes Kind. Sie lachte fröhlich wenn eine Qualle sie im Meer streifte, sie wollte alles alleine machen und stellte Fragen, die eigentlich ältere Kinder stellen. „Papa warum gibt der Mann dir Geld wieder, obwohl du ihn doch bezahlen musst?“, fragte sie etwa, wenn sie gemeinsam einkaufen waren und er Rückgeld erhielt. Oder: „Warum kommen die toten Menschen in den Himmel und die toten Fische in den Bauch?“. „Warum putzt Mama immer und du nie. Ist das nicht ungerecht?“ Mia kam nach den Sommerferien in die zweite Klasse und Ninas Stufe machte Abitur. Nina blieb bis zum Ende ihrer Schulzeit distanziert. Im Schuljahr darauf übernahm Tobias einen neune Deutsch-LK. Sein stilles auf Nina gerichtetes Begehren blieb sein Geheimnis. Gut, dass sie gegangen war.
Es dauerte ungefähr zwei Jahre, bis Nina und Tobias sich zufällig an einem Sommerabend im Stadtwald trafen. Er war gerade von einem Spaziergang auf dem Rückweg zu seinem Auto, als Nina ihm winkend entgegenkam. Wie immer trug sie ein kariertes Hemd. Sie lachte. Tobias merkte, dass er aufgeregt war. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge. „Wie lustig“, sagte sie: „Dass ich gerade Sie treffe, Herr Schwarz.“ Er bot ihr das Du an. Sie umarmten sich steif und er roch dabei an ihrem Haar. Es war länger geworden. Es fiel ihr nun fast bis auf die Schultern. Eine Weile liefen sie nebeneinander her. Das Licht stand bereits tief und durchleuchtete die Blätter. Viele Städter hatten den Wald schon wieder verlassen. Nina erzählte ihm, wie es ihr bisher nach dem Abitur ergangen war. Sie war ein wenig durch Schweden gereist und hatte kürzlich ein Studium in Maschinenbau begonnen. „Maschinenbau, dein Ernst?“, meinte Tobias. „Ja, du hast doch gesagt mit Philosophie werde ich arbeitslos.“ An einem Brombeerstrauch blieb sie stehen. Tobias sah zu, wie sie die reifen Früchte pflückte und sich in den Mund steckte. „Sie sind ganz warm, wie frisch von der Sonne gebacken“, meinte sie und wischte ihre Hände am Hemd ab. „Jetzt ist dein Hemd voller roter Flecken“, sagte er. „Ich mag das“, meinte sie: „Es sieht aus als hätte ich gearbeitet oder gekämpft.“ Dann gingen sie zum Parkplatz. Er sagte: „Ich kann dich heute ein Stück mitnehmen.“ Beide lachten.
Wie damals hielt er ihr die Autotür auf. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und sagte:„Darf ich?“. Ohne die Antwort abzuwarten machte sie Musik an. Sie waren noch nicht weit gefahren, die Straße war immer noch von Wald umsäumt, als sie sich plötzlich ihr Hemd über den Kopf zog. Tobias hatte es zunächst nur in der Spiegelung der Scheibe gesehen. „Nina“, sagte er energisch: „Was soll das?“ Er war wütend und erregt, wütend über seine Erregung. Er hielt an. Wenn sie sich nicht wieder anziehen würde, müsste er sie rausschmeißen. Sie blieb seelenruhig sitzen. Er schloss seine Augen und versuchte sich zu beruhigen. Seine Hände umklammerten das Lenkrad. Dann hörte er das Klipsen ihres BHs. Er schluckte. Schließlich schaute er sie an. Ihre Kette, die sich wie eine silberne Schlange an ihre Brust schmiegte, glänzte in der Sonne. Sie nahm vorsichtig seine Hand und legte sie auf ihre Brust.
Plötzlich war alles so einfach. Er war Lehrer und Team Mia. Er war Ehemann und Liebhaber zugleich. Nina hatte wohlhabende Eltern, die ihr eine Ein-Zimmer-Wohnung finanzierten. Und so gab es einen Ort, an dem beide sich ungestört treffen konnten. Wenn seine Frau unterwegs war verbrachten sie auch gelegentlich Abende im Haus. Tobias wusste nicht genau, was Nina in ihm sah. Sie schaute ihn an, als wäre er wichtig. Als wäre er das Tor zu einer ihr fremden Welt. Dabei schenkte sie ihm eine verloren gegangene Welt. Ihre ungestüme Leidenschaft ließ ihn sich wieder jung fühlen. Team Mia tangierte den Lehrer kaum, der Ehemann nicht den Liebhaber. Er musste sich nur daran halten, alle Bruchstücke streng von einander zu trennen. Jedes Element einzeln betrachtet war beinahe vollkommen. Es war eine Zeit wie auf Koks.
„Papa“, fragte seine Tochter Mia am Morgen: „Wer war die nackte Frau?“ „Welche nackte Frau?“, fragte er erschrocken. „Die mit dir getanzt hat im Wohnzimmer.“ „Du musst geträumt haben“, meinte er. „Nein, ich habe sie mit dir tanzen sehen.“ Tobias sah sich in diesem Moment seinen Job und seine Frau verlieren und das Schlimmste: Er sah seine Tochter ohne ihn aufwachsen. Er sah sich also alles verlieren, außer Nina. Tema Mia, der Ehemann, der Lehrer, alles löste sich in seinen Gedanken auf. Ihm wurde die Tragweite dieses Momentes bewusst. „Papa...“, riss Mia ihn aus seinen Gedanken. Die Entscheidung fiel schnell. Er sagte: „Mia, wenn du deiner Mama nichts von dieser Frau sagst, verspreche ich Dir, dass dein Papa sich nie wieder mit ihr treffen wird. Sie würde deine Mama sehr traurig machen.“ Vater und Tochter gaben sich die Hand. Beide hielten sich an ihr Versprechen.
Er rief Nina einfach an. Er hätte es sonst nicht geschafft. Dass es nicht mehr geht, sagte er, dass er es nie richtig gewollt hatte. Von Anfang an hatte er ihr von seiner Frau und seiner Tochter Mia erzählt. Sie hätte ihn verführt, damals in den Brombeeren mit ihrer Silberschlange. „Was für eine Silberschlange?“, fragte sie. „Deine Kette, sie sah aus wie eine Schlange.“ „Die Frau mit der Schlange?“, fragte Nina ungläubig. Als er nichts entgegnete meinte sie: „Das ist die größte Enttäuschung.“ Dann legte sie auf.
Es war dumm von ihm gewesen zu denken, dass alles wieder wie vorher werden konnte. Nichts wurde wie vorher. Er hatte zu spät verstanden, was es heißt, eine Affäre zu haben. Es heißt, einen gemeinsamen Maßstab zu schaffen, dem Einzigartigkeit nicht stand halten kann. Der Körper seiner Frau war plötzlich zu groß, zu schwer, selbst schlafend aufdringlich. Doch was sollte er ihr vorwerfen: Du bist nicht Nina? Er hatte sich in Nina verliebt und fühlte sich erbärmlich. Sie hatte Recht gehabt, der Versuch ihr seine eigene Inkonsequenz vorzuwerfen war peinlich. Die Schlange – was hatte er sich dabei gedacht? Ob sie an ihn dachte? Ob sie ihn vermisste? Er vermisste sie. Was vermisste er? Ihre vollen Brüste, die jugendliche Haut, die schmale Taille? Er hasste sich. Er hasste auch seine Frau ein bisschen. Selbst als die Gefühle für Nina verblassten blieb er ihr gegenüber distanziert. Sie sagte immer wieder: „Ich komme nicht mehr an dich ran.“ Manchmal weinte sie leise. Tobias ertrug es stillschweigend und wollte das Vergangene ersticken, so leise wie mit einem Kissen vielleicht.
Der gestrige Anruf, nicht mehr schlucken können. Welchen Preis hatte seine Tochter für das Versprechen bezahlt, zum Schweigen verdammt ihre Mutter leiden zu sehen?
- Quellenangaben
- Rilke: Archaischer Torso Apolls