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Zwischen den Jahren

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02.11.2001
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Zwischen den Jahren

Schneeflocken tanzen vor meiner Windschutzscheibe, setzen sich auf das Glas und werden vom Scheibenwischer weggefegt, bevor sie schmelzen können. Das Rot der Ampel bricht sich in den Schlieren und im Radio läuft „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea. Wie passend, denke ich und fahre weiter, als es grün wird. Hinaus in die Dunkelheit, so kommt es mir vor, als ich die Grenzen der Stadt verlasse. Nur noch Fahrgeräusche, das Pfeifen des Fahrtwindes, die im Scheinwerferlicht auf mich zu fliegenden Schneeflocken und eine Playlist mit schnulzigen Weihnachtsliedern.

Die Stadt liegt endlich hinter mir, zumindest für die nächste Woche. Ich merke wie ein Gewicht von meinen Schultern fällt, richte mich im Fahrersitz meines alten Golfs etwas auf und passe den Rückspiegel an. Aus den Lautsprechern tönt jetzt „Let it Snow“ von Frank Sinatra und das Wetter scheint zu mitzutanzen. Immer mehr Schneeflocken stürmen mit dem zunehmenden Fahrtwind gegen meine Windschutzscheibe, auf der schmalen Landstraße kräuseln sich Schneeverwehungen im Wind.

Die letzte Dezemberwoche, die Zeit „zwischen den Jahren“, ist für mich immer schon wie schwarzes Loch gewesen, in dem Zeit und Raum seit Jahren unbeweglich und unverändert scheinen. Es ist seit jeher die einzige Woche im Jahr, in der ich keinen Wochentag vom anderen unterscheiden kann.

Das vergangene Jahr kann hektisch gewesen sein, das neue sich schon als genauso arbeitsreich ankündigen - in der Woche „zwischen den Jahren“ spielt das alles keine Rolle. Alle Kollegen und Kunden sind im Urlaub, es ist die einzige Zeit, in der man ohne schlechtes Gewissen gedanklich komplett abschalten kann.

Die Dörfer werden kleiner. Die Lichter der großen Stadt verschwinden im Rückspiegel am Horizont. Der Sender spielt jetzt „Santa Claus is Coming to Town“ von Bruce Springsteen. Die Landstraße führt durch eine kleine Ansammlung von Häusern. In den Gärten sind die Büsche aufwendig mit verschieden farbigen Lichterketten geschmückt, bei zwei Häuser sind sogar die Dächer mit roten, gelben und grünen Lichterketten bedeckt. Vor einem niedlichen Holzhaus wurde aus einem Drahtgestellt und Lichterketten sogar ein „Santa Claus“-Schlitten aufgebaut. Ein weihnachtliches Wettrüsten in solch ein kleinem Ort. Sogar hier muss alles größer, besser und glitzernder sein.

Meine Gedanken schweifen ab, plötzlich kommt der Streß der letzten Wochen wieder über mich. Projekte, die unbedingt fertig gestellt werden mussten, ein Chef, der selbst anscheinend keinen Wert in dieser besinnlichen Jahreszeit sieht und am liebsten durcharbeiten lassen würde. Kunden, die ungeduldig wurden, weil sie rechtzeitig in die Weihnachtsferien entschwinden wollten. Es fühlt sich so an, als hätten mir in den letzten Wochen alle ihren Frust direkt ins Gesicht gekippt.

Mittlerweile drückt der Wind die Schneeflocken mit aller Wucht gegen die Windschutzscheibe, obwohl ich keinen Deut schneller fahre. Ella Fitzgerald singt „Baby it’s Cold Outside“ und ich überlege, ob die schneeverwehte Landstrasse vereist sein könnte. Mit meinem alten Golf wäre das kein Vergnügen.

Ankommen, denke ich, einfach nur ankommen. Dann ist die Welt wieder in Ordnung. Im schwarzen Loch einmummeln und erst im neuen Jahr wieder auftauchen. Gestärkt und erholt durch die Zeitlosigkeit „zwischen den Jahren“.

Mein Ziel ist nicht mehr weit, sehe ich auf einem Schild. Ein Ort dieser Größe wird erst in den benachbarten Ortschaften ausgeschildert. Da wo ich hin will, gibt es nur 12 Häuser. Seit 30 Jahren hat sich daran nichts geändert. Ein paar alte Bauernhäuser sind von Stadtflüchtigen gekauft und modernisiert worden, in den restlichen leben noch dieselben Familien, die bereits die letzten hundert Jahre ihre Gehöfte an die jeweils nachfolgenden Generationen weitergereicht haben. Hier steht sogar außerhalb der Woche „zwischen den Jahren“ die Zeit still.

Nur ich, ich wollte nicht stillstehen und mit dem Dorf langsam altern. Ich musste unbedingt in die große Stadt, konnte dem Zauber der Hektik nicht widerstehen. Und als ich abgeklärt genug war, hinter der faszinierenden Fassade von Eitelkeiten die unsägliche Leere zu entdecken, die man trotz all der Menschenmengen in einer großen Stadt empfinden kann, war es schon zu spät. Da hatte ich einen Beruf angenommen, den man nur in der großen Stadt ausüben kann. Seitdem schaffe ich es nur noch wenige Male im Jahr zurück in die Heimat.

Die letzte Kurve vor meinem Heimatort, der Wind lehnt sich noch mal mit aller Kraft gegen meine Windschutzscheibe, wie ein letzter Versuch, mich aufzuhalten. Es gelingt ihm nicht, mein treuer Golf schnurrt die lange Kurve entlang, bis wir das Ortsschild passieren. Am Ortseingang stehen rechts und links der schmalen Landstraße zwei riesige Eichen, deren Äste sich im Wind biegen. Es sieht aus, als wären die Eichen in einem Ringkampf mit den Schneewehen.

Im Radio läuft mittlerweile „Winter Wonderland“ von Louis Armstrong. Ich lasse mich von der Stimmung des Liedes einfangen, bremse ab und fahre mit gemütlichen 30km/h in den Ort hinein.

Nachdem ich die beiden Eichen am Ortseingang passiert habe, bricht der Wind ab, als hätte man ihn einfach ausgeknipst. Im Ort ist es windstill. Rechts von der Straße sehe ich den ersten Bauernhof des Ortes, die Fläche zwischen Haus und Scheune ist schneeweiss. Die Tannen rechts und links der Hauptstraße tragen ein dickes, weißes Gewand. Der Schnee rieselt in großen Flocken herab und legt sich wie eine Schutzdecke über den gesamten Ort.

Kurz vor dem Ortsausgang liegt der Bauernhof meiner Eltern. Ich biege in die von weißen Tannen gesäumte Einfahrt und fahre auf knirschendem Schnee auf den Hof vor dem Haus, das Licht der Scheinwerfer verfängt sich in den langsam herabfallenden Schneeflocken. Als das Geräusch des Motors und der Scheibenwischer verstummt ist, merke ich wie ruhig die Welt hier draußen ist. Es ist fast so, als könne man jede einzelne Flocke auf das Glas der Windschutzscheibe fallen hören.

Meine Eltern scheinen gemerkt zu haben, dass ich komme. Die Haustür öffnet sich und wirft einen Lichtkegel auf den Hof, der sich wie ein Teppich über den Schnee legt, um mich zu empfangen.

Ich bin angekommen, endlich wieder zuhause, kann mich ins schwarze Loch „zwischen den Jahren“ zurückziehen und tief durchatmen, bevor ich in wenigen Tagen wieder zurück in die große Stadt muss.

 

hallo Geschichtenwerker,

vielen Dank für dein Feedback!

Da fände ich es besser, entweder Liedzeilen zu zitieren, die eine bestimmte Botschaft vermitteln, oder die Musik selbst zu beschreiben, um den Leser die Atmosphäre zu verschaffen, die Du Dir vorgestellt hast.
Stimmt, das machen viele. Ich kann mir nur leider sehr schlecht Liedzeilen merken, also müsste ich die Musik beschreiben. Ich finde auch, dass Liedtexte zwar Bedeutung in sich tragen, aber eine Stimmung durch die Musik entsteht.

Andererseits hat der Text mich auch an meine Weihnachtszeit erinnert und somit zumindest bei mir an bestimmte Gefühle angeknüpft,
das freut mich :)

viele Grüße
Philipp

 

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