- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Zwischen den Fronten
Ich habe eine zweite Version dieser Geschichte geschrieben. Ihr findet sie hier.
Zwischen den Fronten, Version 2
Zwischen den Fronten
Soldaten schickt man an die Front. Ich wurde dort geboren. Inmitten einer nicht enden wollenden, wabernden Front, die so sehr ein Teil meiner Jugend war, dass man sie nicht mehr im Besonderen wahrnahm.
Eine Front ist keine Linie aus Mündungsfeuer und Leichen, wie in Filmen. Eine Front ist einfach ein Landstrich, in dem man lebt, wenn man kein Glück hatte. Es gibt zwei Seiten, von denen keine sich für die interessiert, die hier leben, aber jede bereit ist, für etwas auf der anderen Seite zu sterben.
Das Meer und die Berge. In unserem Krieg ging es um das Erz und den Hafen. Also um Macht. Und über uns schwappte alles hinweg, wie die stetigen Wellen, über die Felsen in der Bucht.
Wir wussten davon. Und kümmerten uns nicht. Konnten nichts tun, denn letztendlich hatten sie die Gewehre, auf beiden Seiten, und wir hatten Schaufeln und Dreschflegel.
Wir brauchten uns nicht zu kümmern, denn immerhin hatten wir zu essen. Und wir waren nicht wichtig. Für niemanden. Stellten keine Macht dar. Und keine Gefahr. Deshalb ließ man uns in Ruhe.
Bis zu diesem Dienstag im Mai. Er musste im Schutze der Dunkelheit angekommen sein. Als wir aufstanden, war er schon da.
Namenlos und ganz in Grün thronte er auf der Ladefläche seines Jeeps, aufrecht, das Gewehr mit beiden Händen vor der Brust. So hatte er sich vor dem Brunnen auf dem Dorfplatz aufgebaut. Wir sahen ihn. Niemand sprach zu ihm und auch er schwieg. Aber wir wussten: Er war nun unser Besatzer.
Von Tag zu Tag lockerte sich seine Haltung und nicht einmal wir Kinder fürchteten uns noch davor, am Brunnen vorbeizugehen. Er war in das Haus des Lehrers gezogen. Und auch dort sprach er offenbar nur wenig. Worüber auch. Er hatte ein Funkgerät und empfing Nachrichten von der Front. Von denen wir nichts erfuhren.
Von Zeit zu Zeit ließ er den Lehrer verkünden, wie es nun weitergehen solle. "Steuern" nannte er es, und wir brachten Lebensmittel herbei. Nicht viel, denn er war ja nur ein einzelner Mann.
Manchmal verlangte er auch andere Dinge. Und er bekam sie, so hieß es. Ich war zu jung, um zu verstehen, worum es ging. Ich weiß nur, dass die Tochter unseres Nachbarn es ihm bringen sollte. Und die Nachbarin und meine Mutter die ganze Nacht in der Küche saßen und weinten, während die Männer im Schuppen blieben und tranken.
Heute weiß ich, worum es ging und habe begriffen, warum ihr Bruder tobte und schrie, er werde dieses Schwein umbringen. Sie haben ihren Bruder zurückgehalten, in jener Nacht und auch in den folgenden. Aber nachdem ich alles weiß, fällt es mir schwer, zu entscheiden, auf wessen Seite ich stehe. Ihr Bruder hatte jedes Recht der Welt dazu, aber er hat jedenfalls überlebt. Auf diese Weise.
In den folgenden Monaten änderte sich nur wenig. Der Ablauf im Dorf war durch seine Anwesenheit kaum gestört. Wir nahmen ihn in stillem, brodelnden Zorn hin. Die Jungen schmiedeten Pläne, die Alten wollten nur überleben. Auch diese Zeit, wie so viele zuvor.
Fast jeden Tag hörten wir Berichte von der Front. Dörfern, die wir kannten. Mal weit entfernt und dann wieder ganz dich bei uns. Von Hunderten Soldaten, Toten, Verletzten und Gefangenen. Ein paar mal, wenn es plötzlich ganz still war, hörten wir das Echo von Maschinengewehren.
Der Soldat war dann meist gut gelaunt. Und verlangte abends mehr Essen und Wein. Seine Truppen waren auf dem Vormarsch. Eine Rauchsäule am Horizont schien ihn in noch ausgelassenere Stimmung zu versetzen.
Am nächsten Tag hörten wir, dass seine Kameraden ein Flüchtlingslager niedergebrannt hatten. Dünne Zelte, von denen nichts geblieben war. Viele Menschen waren gestorben. Menschen wie wir. Und wieder fiel es den Alten schwer, ihre Kinder zurückzuhalten. Pläne wurden geschmiedet, Waffen gesucht. Sie waren über die Zeit näher gerückt. Es betraf Stück für Stück auch uns. Aber wir konnten nichts tun.
"Sie werden herkommen, wenn ihr das tut." Niemand wollte auf die hören. "Warum hat sonst das Lager gebrannt?" Wir erinnerten uns an die Berichte über die Truppen und an die Toten. Und ein weiteres Mal ließen wir uns besänftigen.
Währenddessen lehnte der Soldat lächelnd am Brunnenrand. Das Gewehr eine halbe Armeslänge von ihm entfernt. Er war sicher unter uns und er wusste es. Am Abend verlangte er wieder Wein. Und die Tochter unseres Nachbarn musste ihn bringen. Niemand weinte mehr, stattdessen schwiegen wir. Und an diesem Abend konnten wir einander nicht mehr in die Augen sehen.
Von nun an begann der Soldat, jeden Tag durch das Dorf zu wandern. Er führte lange Listen über das Vieh, die Vorräte und unsere Felder. Man sah ihm misstrauisch nach, wo immer er hinging, aber niemand stellte sich ihm in den Weg. Einige Tage später, noch mitten in der Erntezeit, ließ der Soldat verlesen, welche Steuern wir abzuliefern hatten. Ein Lastwagen würde kommen und unsere Tiere und unser Korn zu den Truppen zu bringen. Er verlangte zuviel. Und wir wussten es. Verlangte mehr, als wir geben konnten, vor dem Winter. Aber er hatte gefordert, und wir mussten geben.
Dann aber, noch bevor der Lastwagen unsere Lebensmittel abholen konnte, verbreitete sich die Nachricht. Seine Truppen waren auf dem Pass gescheitert. Hatten in einer blutigen Schlacht einen Großteil ihrer Männern verloren. Die restlichen waren versprengt auf dem Rückzug.
Es wurde darüber gesprochen, dass sie sich neu formieren wollten. Aber es war nur eine Handvoll von ihnen übrig und uns allen war klar, dass die anderen aus den Bergen herausbrechen würden und die übrigen Männer vertreiben. Oder töten.
Der Soldat stand wiederum an den Brunnen gelehnt. Beinahe wie immer. Nur ein wenig angespannter. Das Gewehr dichter neben sich.
Es hat ihm nichts genützt. Sie kamen in der Nacht. Schleiften ihn aus dem Haus des Lehrers und auf den Dorfplatz hinaus. Wir alle waren dort. Versammelt im Kreis. Er war kreidebleich.
Wir standen nur schweigend um ihn, unfähig, auszudrücken, was in uns vorging. Ohne Worte für das, was in den letzten Monaten geschehen war.
Sein sonst so starker Blick wich uns aus. Er wand sich hin und her. Suchte mit gehetzten Augen nach einer Lücke in unserem Kreis. Aber wir rückten nur dichter zusammen. Näher auf ihn zu, Schritt für Schritt, bis er zusammenbrach. Auf den Knien lag er im Staub des Platzes und hob flehend die Hände. Niemand tat etwas. Wir standen nur und sahen auf ihn herunter.
Schließlich trat die Tochter unseres Nachbarn einen Schritt vor. Ruhig und gemessen, als schreite sie zum Altar. Dann trat sie ihm mit aller Kraft in den Magen. Und als er stöhnend in sich zusammensackte, trat sie in sein Gesicht. Nur einmal und ohne hinzusehen. Dann drehte sie sich um, als sei nichts geschehen, und ging davon.
Als er aufsah, war sein Gesicht blutverschmiert. Das gab den Ausschlag. Ich weiß nicht, wie lange es ging, aber wir traten und prügelten ihn mit bloßen Händen, Steinen, Knüppeln. Als sein Kopf nicht mehr zu erkennen war, keine Form mehr hatte, ließen wir von ihm ab. Seine Uniform hatte sich blutrot gefärbt.
Die Jungen warfen ihn auf seinen Jeep und brausten ohne ein weiteres Wort davon. Sie haben ihn im Wald, weit ab vom Dorf, verscharrt. Mit seinem Gewehr. Seinen Wagen haben sie verbrannt.
Am nächsten Morgen war sein Blut aus dem Staub gewaschen, als wäre er nie hier gewesen. Im Haus des Lehrers fanden sich keine Spuren mehr. Und niemand von uns hat je wieder von ihm gesprochen. Nach einer Weile kamen die Soldaten der anderen Seite. Blieben eine Weile und gingen.
Die Front wäscht über unser Dorf wie Brandung über die Felsen, unten in der Bucht. Nichts ändert sich wirklich, alles spült fort und langsam nutzen die Steine sich ab.