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Zwischen Bergen und Meer
Dieser Ort dient der Rast; mir scheint, ehe man zur Ruhe kommt, wird man von Langeweile erschlagen.
Die Frage, wie lange ich bleiben würde, beantworte ich mit einem knappen „bin auf der Durchreise“. Sie sind keine andere Antwort gewohnt, die Einrichtung der Zimmer zeugt davon. Es findet sich alles, was man braucht, aber nichts, was man nutzen wollte, selbst die Bettdecke ist zum Zudecken geschaffen, nicht zum Einzukuscheln. So ist dann auch der Schlaf, ohne Träume; früh am Morgen stehe ich auf und denke beim Packen über den Fortgang meiner Reise nach. Noch unschlüssig trete ich auf den Balkon und atme durch.
Die Luft! Ein leichter Geschmack von Salz, und dann doch das Gefühl von Schnee – warum Gefühl, wenn man auch hier von einem Geschmack sprechen kann. Beides kristallisiert sich auf den Lippen, wenn man lang genug den Kopf in den Wind hebt, wie eine Statue, tagelang, so leicht, so fragil, dass es sich verflüchtigt, noch ehe die Zunge den Geschmack definieren kann.
Ich bleibe noch einen Tag, sage ich an der Rezeption. Man zeigt keine Überraschung.
Ich spaziere durch den Ort. Man hat nicht den Eindruck, er sei bewohnt, trotz der Häuser mit den gepflegten Vorgärten, trotz der Wäsche, die aus den niederen Fenstern hängt, trotz der Menschen, die die Straße fegen, auf Bänken sitzen, schwatzen. Es gibt hier nichts zu sehen, was es anderenorts nicht größer, schöner, besser gäbe. Den Felszug, der sich über den Ort hebt, kann man markant nennen, aber auch nur, weil es das Einzige ist, das sich aus dem Unscheinbaren hebt.
Es führt ein Weg hinauf, nach einem kurzen, steilen Anstieg spaziert man wie an einer Promenade über den Felsrücken, bis hin zur Nase, die schroff, aber wenig spektakulär abfällt. Ein Geländer sichert den Rand, zwei Bänke stehen da, Rücken an Rücken, mit der Aussicht auf … was?
Dort, im Dunst, muss das Meer liegen, man sieht es in der Art, wie die Sonne darüber steht. Über dem Meer sieht die Sonne immer nachdenklicher, stiller aus.
Und dort, zur anderen Seite, sieht man die Berge, vielmehr die Schatten, die sie auf den Horizont werfen, die unverkennbare Art, das Licht in den Tälern zu schlucken, um es wieder von den Gipfeln zu werfen.
Und hier treffen sich ihre Boten, Salz und Schnee, in einer kulinarischen Mitte. Ich lächle. Wohin soll es also morgen gehen?
Als ich Stunden später wieder langsamen Schrittes zurückgehe, weiß ich es noch immer nicht.
Die Berge, denke ich einen Tag später. Ich habe immer eher die Berge gemocht. Mit ihnen kann man wachsen, je höher man wandert, je größer man wird, umso bedeutungsloser erscheint das, was unter einem liegt. Man steht über den Dingen, nicht weil man sich erhöht, sondern weil man sie als klein erkennen kann.
Und ich liebe es zu wandern, den Körper zu spüren, das Gewicht auf den Beinen, wenn diesen die Last langsam schwer wird, das Klopfen des Herzens, das die dünner werdende Luft zu kompensieren versucht. Man hat immer das eine Ziel vor Augen, den Gipfel, und wenn man ihn erreicht, heben sich andere Ziele, andere Gipfel um einen herum, nie hört man auf, etwas erreichen zu wollen.
Das Meer, denke ich dann. Es wird mir Ruhe bringen. Stundenlang kann ich über das Wasser schauen, ohne dass da anderes als Schauen ist. Das reinigende Element, mindestens ebenso grenzenlos wie der Verstand, der sich darin verlieren kann, um getauft, reingewaschen, wiederaufzuerstehen.
Das endlose Schwimmen, diese vollkommene Mischung aus dem Kampf gegen die Wellen und dem Sich-treiben-Lassen, sich dem Element zu ergeben, um dann, wenn das Wasser es will, wieder an den Strand gespült zu werden.
Ich schrieb meinen Freunden, ich würde eine Zeitlang meine Reise unterbrechen. Ich schrieb viel, dieser Tage. Vieles, was ich immer aufgeschoben hatte, weil es mir nicht wichtig war. Ich schrieb Menschen, von denen ich nicht mal mehr wusste, ob sie noch lebten oder ob sie sich an mich erinnern würden. Und ich schrieb mir selbst, einem Ich in der Vergangenheit. Gedankenfetzen, Reflexionen, eine rückwärts gerichtete Schnitzeljagd durch alte Erinnerungen, Erfahrungen, Sehnsüchte, Träume. Jeden Tag spazierte ich auf den Felszug, setzte mich auf eine der Bänke und ließ die Ruhe in mir wirken, während sich mein Blick in der Weite verlor.
Ich erhielt überraschend Besuch. Er saß im Zimmer, als ich Abends zurückkehrte. Erfreut umarmten wir uns.
Die Nacht verharrten wir in der Umarmung, erst der Schlaf trennte uns.
„Dass dir nicht langweilig ist, hier“, sagte er am Morgen. Ich lachte und wies auf meine Notizen: „Es gibt so viel zu tun.“
Gleich nachdem wir uns verabschiedet hatten, setzte ich mich an den Tisch und schrieb ihm, was wir zu reden versäumt hatten.
Ich lernte die Bewohner kennen. Und kaum kannte ich die Namen, kannte ich ihre Geschichten. Ich schrieb sie auf, die kleinen und großen, und als ich sie ihnen wieder erzählte, nickten sie und sagten: „Jaja, so war das!“
Man erzählte mir von anderen Orten, die ich unbedingt besuchen müsste. Also ließ ich mir eines Morgens ein Taxi kommen.
„Wohin soll es denn gehen?“ fragte der Fahrer.
„Fahren Sie einfach mal los“, antwortete ich.
Der Geruch im Taxi erinnerte mich an etwas, dann das Surren des Motors, dann das Gefühl von Schlaglöchern und Kurven. Ich nahm mein Notizbuch und schrieb. Als wir Abends zurückkehrten, war es fast voll.
Einmal hatte ich Fieber und Kopfschmerzen. Bis in den Mittag hinein blieb ich im Bett und sehnte mich nach draußen. Vermisste den Gang auf den Felszug, das Sitzen dort, dann die Arbeit an meinen Notizen, vermisste die tägliche Routine. Am späten Nachmittag hielt ich es nicht mehr aus und ging los. Es dämmerte bereits. Mein Blick verlor sich nicht in der Ferne, sondern in der Dunkelheit. Eine neue Erfahrung, die ich unbedingt notieren wollte, aber das Licht war zu schwach.