Zwielicht
In der Dämmerung waren die Kornblumen am schönsten. Das Blau war kräftig und Anna erinnerte sich an eine Unterrichtsstunde in Kunst, in der erzählt wurde dass blau in der Dämmerung am besten zur Geltung kam.
Seit Wochen saß sie nun jeden Tag, wenn die Sonne unterging, am Fenster, mit ihrer Katze Schimu am Schoß, und betrachtete die Kornblumen. Es waren ganze Felder, die sich im sanften Wind wogen, während die Sonne mal orange, mal rot, mal rosa oder auch gelb hinter den Bergen in der Ferne verschwand. Und jedes Mal, wenn die Sonne verschwunden war, zündete Anna Kerzen an, setzte sich mit ihrer Feder und einem Tintenfass vor ein Blatt Papier und wartete.
Sie wartete auf die richtigen Worte, auf die perfekten Sätze einer Geschichte, die schon seit Tagen, Wochen, Monaten in ihrem Kopf spukte. Manchmal schaffte sie es einen Satz zu schreiben. Das würde ein guter Abend sein. Manchmal hatte sie auch nur eine Idee, die sie dann in einem kleinen, braunen Lederbüchlein niederschreiben würde – Ideen konnte sie immer gebrauchen, wenn sie es schaffen würde die ersten Sätze, Zeilen, Absätze ihrer Geschichte zu schreiben.
Anna wusste nicht mehr, wann sie beschlossen hatte, in das kleine Häuschen mitten in einem Kornblumenfeld zu ziehen. Sie hatte eigentlich immer in der Stadt gelebt – sie war den Lärm gewohnt, den Smog, die vielen Menschenmassen und die Autos und alles, was eine Stadt ausmachte.
Doch eines Tages war sie mit einer Freundin spazieren gewesen. Sie hatten sich am Rand der Stadt getroffen und waren einfach gegangen, soweit ihre Gesprächsthemen sie getragen hatten. Und irgendwann, als es schon dämmerte, waren sie auf dieses Haus gestoßen. Anna war verliebt stehen geblieben – sie liebte Kornblumen. Sie mochte jede Art von Blumen, ihre Wohnung und jetzt ihr Haus waren voll damit, doch Kornblumen hatten eine gewisse Magie, etwas, was ihr besonders gefiel. Sie konnte diese Blumen stundenlang betrachten und hatte sich immer noch nicht satt gesehen.
Zwei Wochen später hatte sie all ihr Hab und Gut verkauft und war in das kleine Häuschen im Kornblumenfeld gezogen. Sie brauchte nicht lang in die Stadt, um Lebensmittel zu besorgen und sich ab und zu mit ihrem Verleger zu treffen.
Anna war Schriftstellerin. Sie hatte nur ein Buch in ihrem Leben geschrieben, doch dieses hatte eingeschlagen wie eine Bombe. Von einem Schlag auf den nächsten war sie berühmt geworden. Anfangs hatte es ihr gefallen, all die Leserbriefe zu beantworten – doch als das Geschrei nach einer Fortsetzung immer lauter wurde, wurde sie immer leiser. Sie wollte keine Fortsetzung schreiben. Viel lieber würde sie ein neues Buch schreiben, ein anderes, eines das nicht so beliebt sein würde. Sie wollte all ihre Gedanken reinschreiben – über das Leben, die Liebe, über das Schöne in der Welt und über die Farben. Die Farben der Kornblumen, die Farben ihres Hauses und natürlich die Farben der Dämmerung, des Zwielichts, ihrer liebsten Tageszeit.
Schimu schnurrte. Anna hatte nicht bemerkt, dass sie laut gedacht hatte. Sie lächelte still und betrachtete den Himmel, der dieses Mal blutrot war. In der Stadt war der Himmel nie so schön gewesen, die Dämmerung nie so eine feste Tageszeit, die Tageszeit, auf die sie sich den ganzen Tag freute.
Nicht viele Leute verstanden ihre Vorliebe für das Zwielicht. Vor allem ihr Bruder hielt sie für eine Art Spinnerin, verwechselte sie mit einer Anhängerin diverser Subkulturen und riet ihr, sich mit Gleichgesinnten zu treffen. Auch das war ein Grund gewesen, weshalb Anna sich entschlossen hatte, in das kleine Haus zu ziehen – hier war sie allein und ungestört, und auch wenn man sie für ungesellig hielt, so konnte sie doch immer in der Dämmerung an ihrem Fenster sitzen und den Himmel und die Kornblumenfelder betrachten und niemand machte Kommentare.
Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, die dunkelblaue Nacht rückte nach. Anna dachte noch kurz nach.
„Es ist wieder Zeit, meine Liebe“, sagte sie dann zu Schimu. Die Katze betrachtete sie mit ihren großen, blauen Augen, stand schließlich auf, streckte sich genüsslich und sprang von Annas Schoß.
Anna holte Streichhölzer, zündete Kerzen an und setze sich an ihren Tisch. Sie tauchte ihre Feder in die Tinte, hielt die Spitze über das Blatt Papier und wartete. Auch eine Weile später hatte sie noch nichts geschrieben, die Tinte an ihrer Feder war schon wieder völlig eingetrocknet. Sie nahm ihr kleines Lederbuch, tauchte die Feder wieder in die Tinte und begann, die Idee für ein späteres Kapitel niederzuschreiben.
Die schönste Tageszeit ist das Zwielicht. In vielen Farben, je nach Laune der Natur, kann man betrachten, wie die Sonne ihren täglichen Kampf mit der Nacht verliert und hinter den Bergen, Häusern, Wäldern, oder hinter dem Meer verschwindet. Nach dem Zwielicht kommt die Nacht – die Nacht ist anders als der Tag. In der Nacht traut man sich Dinge zu tun, die man tags lassen würde. Man hat andere Ideen und andere Vorstellungen, vom Leben, der Liebe, von der Schönheit der Dinge und vielem mehr.
Am Tag liebt man die Schönheit der Natur, der Berge, der Bäume, der Blumen und der Felder. Im Zwielicht kann man Farben ganz anders betrachten – so wirkt die Farbe Blau am schönsten in der Dämmerung. Ein Kornblumenfeld wirkt am Tag ein wenig blass – doch im Zwielicht wirken die Blumen kräftig und wunderschön. Und in der Nacht liebt man den Mond, der durch das Fenster scheint, der sich in einem klaren See spiegelt, und die Sterne, die still und unveränderbar am Himmel stehen.
Doch am schönsten ist der Himmel in der Dämmerung. Wenn keine Wolken ihn bedecken, kann man ihn in vielen Farben bewundern, vom blassesten Gelb bis zum kräftigsten Rot, vom zartesten Rosa bis zum schönsten Violett.
Anna legte ihre Feder wieder zur Seite und las, was sie geschrieben hatte. Ja, dachte sie, heute war ein guter Tag gewesen.