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- 03.07.2017
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Zwergenknabbereien
Das Geräusch der kleinen Füße auf dem Korkfußboden reichte aus, um Leon zu wecken. Er öffnete die Augen und starrte durch die Dunkelheit an einen Himmel aus Leuchtsternen. Die Biberbettwäsche wurde schwer und viel zu warm, aber er traute sich nicht, einen Arm oder ein Bein an die kühle Luft zu strecken.
Er lauschte und hoffte, sich das Geräusch nur eingebildet zu haben. Vielleicht hatte ihm sein angespannter Verstand einen Streich gespielt und er blieb eine weitere Nacht verschont. Nein, da war es wieder. Ein Geräusch, als würde eine Ratte in Stiefeln durch sein Zimmer huschen. Aber Leon wusste, dass der Besucher kein Nagetier war - auf jeden Fall nicht im herkömmlichen Sinne.
„Ich habe heute nichts für dich!“, rief er in die Dunkelheit.
Ein Rascheln durchdrang das Rauschen in seinen Ohren. Es klapperte und rumpelte, gefolgt von abgehackten Flüchen. Leon befreite sich strampelnd von der Decke, schaltete die Nachttischlampe an und hockte sich angespannt auf das Bett, bereit für den Eindringling.
Dort stand er zwischen dem Todesstern und der Rennbahn. Die Schienen und Autos lagen kreuz und quer. Leon hatte heute Nachmittag Stunden damit verbracht, alles aufzubauen.
Die kleinen Augen des Besuchers funkelten wie Rubine, aber schön waren sie nicht. Mit der spitzen Mütze und dem grünen Oberteil machte er dem Gartenzwerg der Nachbarn Konkurrenz. Das Lächeln war gefüllt mit Piranhazähnen, und obwohl Leon es schon oft gesehen hatte, lief eine Gänsehaut über seinen Körper, als hätte jemand die Klimaanlage eingeschaltet.
Der Zwerg hatte ihm nie einen Namen genannt, aber Leon nannte ihn Egon. Für egoistisch.
„Wo ist mein Essen?“ Die buschigen Augenbrauen bildeten ein V und zitterten vor Erregung. „Ich knabber dir das Fleisch von den Knochen!“
„Ich habe dir schon genug gegeben. Geh weg und lass mich in Ruhe!“ Leon reckte das Kinn empor. Schweißtropfen bildeten sich wie kleine Verräter auf seiner Stirn, kitzelten ihn an der Schläfe. Er musste den Zwerg vertreiben, ein für alle Mal. Nicht umsonst ging er seit zwei Jahren jeden Mittwochabend zum Karate. Das sollte doch ausreichen, um einen kleinen Wicht fertig zu machen.
„Waaas?“ Egons Stimme überschlug sich und sein Gesicht wurde dunkelrot.
Für einen kurzen Moment hoffte Leon, der Zwerg würde sich rumpelstilzchenmäßig vor Wut zerreißen.
„Du weißt genau, was passiert, wenn du mir kein Essen bringst. Ich knabber dir das Fleisch von den Knochen!“
Wie könnte Leon das vergessen? Egon ließ diesen Hinweis schließlich mindestens fünf Mal pro Besuch fallen. Leon stellte sich vor, wie sich die spitzen Beißer in seine Haut bohrten. Das Zimmer schwankte.
Experimente waren noch nie Leons Fall gewesen, also hatte er sich stets bemüht, den Zwergenhunger zu stillen. Wer voll mit Süßigkeiten war, der hatte keinen Appetit mehr auf Menschenfleisch – so die Theorie. Was hatte er nicht alles herbeigeschafft. Double Chocolate Cookies, Weingummischlangen, gepuderte Erdbeer-Marshmallows, Erdnussbutterschokodrops – sogar ein Stück von Mamas Walnussbrownies hatte Leon geopfert. Mit Deftigem musste er gar nicht ankommen. Einmal hatte er Schinken mitgebracht, den hatte Egon ihm direkt ins Gesicht geworfen. Nur Zucker besänftigte den Zwerg. Und anscheinend Menschenfleisch.
Mama würde ausflippen, wenn sie ihn noch einmal beim Süßigkeitenklauen erwischen würde. Was sollte er dann schon sagen? Tut mir leid, Mama. Ich werde von einem miesgelaunten Zuckerjunkie erpresst, und wenn ich ihm nicht bringe, was er verlangt, knabbert er mir das Fleisch von den Knochen. Leon bezweifelte, dass er damit auf Verständnis stoßen würde. Also musste er dem Zwerg endlich Kontra geben.
„Es ist mir egal. Du hattest deinen Spaß. Such dir jemand anders, den du erpressen kannst.“
Egon kehrte ihm den Rücken zu und ging. Was hatte er vor? Der Zwerg stolzierte bis an die gegenüberliegende Wand, drehte sich zackig um 180 Grad. Plötzlich markierten die roten Augen Leon wie Laserstrahlen. Er hätte schwören können, dass Dampf aus der Nase des Zwergs drang. Die Stiefel knatterten über den Boden und Egon kam wie ein Geschoss auf Leon zu. Der Zwerg sprang ihn mit Salto und Kampfschrei an und rammte seine spitzen Zähne in Leons Arm.
„Ah!“ Leon versuchte den Zwerg abzuschütteln, dabei wand er sich wie ein tollwütiges Tier. Die Schmerzen benebelten ihn so sehr, dass ihm glatt entfiel, wie der Karategriff ging, um an den Arm geklammerte Zwerge loszuwerden. Er zappelte in seinem Bett herum und verteilte Blut auf Anakin Skywalker, der ihn kampfbereit von der Bettwäsche aus anstarrte. Als Leons Arm gegen die Wand knallte, lockerte sich Egons Biss und der Zwerg rutschte in die Ritze hinter dem Bett.
Leon atmete schwer. Während er auf das Blut starrte, das seinen Arm hinunter lief, hörte er den Zwerg wie einen Minibulldozer durch den Kram unter dem Bett wühlen. An der Vorderseite angekommen sprang Egon in die Luft, bereit für einen neuen Angriff.
Leons Schienbein schnellte hervor, traf den Zwerg im Flug, so dass Egon durch das Zimmer flog und ungebremst gegen die Wand knallte. Benommen blieb er auf dem Boden liegen. Dann schüttelte er leicht den Kopf, öffnete die Augen und entsandt einen Todesblick an Leon. Leise knurrte er: „Morgen bekomm ich mein Essen. Sonst wirst du es bereuen.“
Der Zwerg rappelte sich auf, um sich dann mit einem zirkusreifen Sprung an die Türklinke den Weg zum Flur zu öffnen. Er quetschte sich durch den Spalt und war verschwunden.
Das Frühstück am nächsten Morgen schaufelte Leon zombiemäßig in sich hinein. Die Bissstelle am Arm pochte und er wusste nicht, wie er die Wunde und die Blutflecken im Bett seinen Eltern erklären sollte.
Mama wuschelte ihm durch die Haare. „Du entwickelst dich ja langsam zu einem ganz schönen Morgenmuffel.“
„Mmh.“
„Los, mach dich fertig“, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Leon schlurfte ins Bad. Auf Schule hatte er zwar keine Lust, aber dort gab es wenigstens keine Zwerge.
Was Egon wohl vorhatte? Zu einem Angriff, wie in der letzten Nacht, war es bisher nie gekommen. Insgeheim hatte Leon immer gehofft, der Zwerg würde nur bluffen. Doch nun hatte Egon gezeigt, dass er sich nicht scheute, seine Zähne einzusetzen.
Ob Leon seine Eltern einweihen sollte? Nein, die würden ihm niemals glauben.
Nachdem er einen blauglitzernden Wurm auf die Zahnbürste gequetscht hatte, grinste Leon in den Spiegel. Sein Anblick erschrak ihn so sehr, dass er schreiend zurücksprang und gegen den Badezimmerschrank krachte. Die Zahnbürste fiel klappernd zu Boden, verteilte die blaue Paste auf den Fliesen. Langsam richtete Leon sich auf und näherte sich dem Spiegel.
Vorsichtig hob er mit dem Finger die Oberlippe an, offenbarte das Weiß darunter. Er wimmerte und ließ die Haut wieder los. Als wenn es weg wäre, nur weil er es nicht mehr sah ... Mit der Zunge tastete er sich vor. Als er die vorderen Zähne berührte, zuckte er zurück. Kein Zweifel. Das war nicht so, wie es sein sollte.
Er schloss die Augen und atmete tief durch. Er litt an Zwergenparanoia oder ähnlichen Wahnvorstellungen.
Noch einmal hob er die Oberlippe an, er konnte es nicht leugnen. Seine Zähne hatten sich verändert. Wo sie sonst brav nebeneinander, Kante an Kante, gestanden hatten, erinnerten sie nun eher an kleine Zuckerhüte.
Es klopfte an der Tür. „Alles okay? Du musst gleich los.“
Leon schaute zur Tür, zum Spiegel und wieder zur Tür - er raufte sich die Haare.
Mama klopfte erneut. „Leon?“
„Ähm ... mir gehts nicht gut. Ich glaub, ich kann nicht zur Schule.“
„Was ist denn los?“
„Irgendwie komisch.“ Schnell schob er hinterher: „Übel. Kopfschmerzen.“
„Ohje, nicht dass dich auch diese Grippe erwischt hat. Ich mach dir 'nen Tee.“
Leon fuhr sich durchs Gesicht. Was passierte mit ihm?
In seinem Zimmer lief Leon im Kreis, immer rund herum um die Carrera-Bahn. Er musste Egon irgendwie zufrieden stellen. Leon war sich sicher, dass die Veränderung seiner Zähne mit dem Biss zusammenhing. Also müsste Egon auch in der Lage sein, das wieder zu reparieren.
Das mit dem Kranksein war nicht ganz durchdacht gewesen. Wie sollte er jetzt an Süßigkeiten kommen? Kranke bekommen keine Schokolade oder Kekse. Höchstens ein Eis, aber auch nur wenn man Halsschmerzen hatte.
Irgendwo im Haus musste doch noch etwas Brauchbares zu finden sein. Im Schlafanzug schlich er die Treppe hinunter. Leon hörte Mama im Keller summen und tapste in die Küche. Vorsichtig öffnete er die ewig quietschende Tür des Süßigkeitenschranks. Alles leer. Seit Papa auf Diät war, sorgte Mama dafür, dass erst gar nichts Verlockendes in der Nähe war.
Leon schob einen Stuhl an die Arbeitsfläche, um nach der Keksdose auf dem Schrank angeln zu können. Nur ein paar traurige Krümel schauten ihn an. Sein Vater hatte wahrscheinlich auch schon alle Möglichkeiten ausgeschöpft.
Aber Mama konnte auch nicht ohne Schokolade leben ... und deswegen hatte sie immer einen Notriegel in der Handtasche! Leon eilte zur Garderobe.
„Was machst du denn hier?“
Hastig drehte er sich um. „Nichts.“
„Und dann auch noch mit nackten Füßen!“ Mama stemmte die Arme in die Hüfte, versuchte böse zu gucken. „Ab ins Bett.“
„Aber ...“ Was sollte er schon sagen? Verzweifelt zog Leon sich in sein Zimmer zurück.
Leon lag im Bett und wartete. Der Kamillentee auf dem Nachttisch, den Mama in Kombination mit einem Gute-Nacht-Kuss gebracht hatte, war längst kalt geworden.
Den ganzen Tag hatte er darüber nachgedacht, wie er an Süßigkeiten kommen konnte, ohne das Haus zu verlassen. Er hatte keine Lösung gefunden.
Nun war es wieder Nacht und es konnte nicht mehr lange dauern, bis Egon auftauchte. Leon versuchte gar nicht erst zu schlafen. Viel lieber malte er sich aus, was mit ihm passieren würde. Er sah es genau vor sich. Seine Eltern würden am nächsten Morgen ein sauber abgeknabbertes Skelett im Bett finden, daneben einen kugelrunden Zwerg, der laut rülpste.
Doch eigentlich war das nicht die schrecklichste Version, die ihm einfiel. So sehr er sich vor dem Zwerg fürchtete, noch größere Angst machten Leon seine eigenen Zähne. Er hatte das Gefühl, dass sie im Laufe des Tages immer spitzer geworden waren. Wer, wenn nicht Egon, sollte ihm bei diesem Problem helfen? Ein Zahnarzt wäre damit bestimmt überfordert.
Endlich hörte er das Stapfen der kleinen Füße. Aber diesmal war es nicht hektisch. Eher langsam und bedacht.
Egon erschien hinter der Kiste mit den Legoteilen, stellte sich in die Mitte des Raums und verschränkte die Arme. „Wo ist mein Essen?“
„Was passiert mit mir?“, fragte Leon und zeigte auf seine Zähne.
Egon zog eine Grimasse, wobei er ebenfalls sein Gebiss präsentierte. „Wenn du Süßigkeiten hast, verrate ich es dir.“
„Ich ... ich habe nichts.“
Egons Blick verfinsterte sich.
„Aber ich hol dir was! Morgen! Versprochen! Aber bitte, bitte mach meine Zähne wieder normal!“ Leon setzte sich in seinem Bett auf, beugte sich zu dem Zwerg.
„Morgen. Wenn ich meine Süßigkeiten habe.“ Egon drehte sich um und ging.
„Nein!“ Leon sprang aus dem Bett, während der Zwerg in Richtung Kleiderschrank davonwuselte. Er quetschte sich in den Spalt darunter und war verschwunden. Leon hechtete hinterher, legte sich auf den Boden, um in die schwarze Ritze zu schauen.
„Bitte hilf mir“, flüsterte er, doch nur die Wollmäuse hörten zu. Er lag auf dem Boden, fing an zu frieren und hoffte, dass der Zwerg wieder kam. Leons Arm brannte und seine Zähne bohrten sich von innen in die Lippe. Obwohl er eigentlich zu alt dafür war, liefen ihm Tränen über die Wange und tropften auf den Boden.
Leon musste eingeschlafen sein, denn Kälte und der unbequeme Boden weckten ihn. Es war noch dunkel draußen, aber er konnte sich jetzt nicht ins Bett legen. Er ging hinüber zum Schlafzimmer seiner Eltern, klopfte kurz und öffnete dann die Tür. „Mama?“
Sofort war sie wach und machte die Nachttischlampe an. Papa schnarchte leise weiter. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Was ist los? Geht es dir nicht gut?“
„Mama ...“, mehr bekam Leon nicht raus. Er hatte das Gefühl, die Tränen, die er zurückzuhalten versuchte, setzten stattdessen seine Kehle unter Wasser.
„Ist was passiert?“ Mama stieg aus dem Bett und kam auf ihn zu, hockte sich hin.
Leon öffnete den Mund, um ihr die Zähne zu zeigen.
„Hast du Zahnschmerzen?“ Sie kniff die Augen zusammen und zog mit dem Zeigefinger seine Lippe etwas zur Seite.
Leon starrte sie an. Mit der Zunge prüfte er nach, die Zähne stachen in das weiche Fleisch. Er ließ Mama stehen, rannte zum Spiegel im Bad. Eindeutig spitz, so wie das Gebiss eines Piranhas - oder eben eines Zwerges.
„Mama! Meine Zähne! Schau doch!“
„Was ist denn damit? Schatz, ich kann nichts erkennen.“
Leon starrte sie an. Seine Mutter sah diese Monsterzähne nicht! Einige Sekunden stand er nur da und wusste nicht, was er tun sollte. Bildete er sich das nur ein? Schließlich sagte er: „Ich hab wohl nur geträumt.“
„Möchtest du bei uns schlafen?“
Leon nickte. Das konnte auf jeden Fall nicht schaden. Egal, ob Einbildung oder nicht.
Am nächsten Morgen betrachtete Leon seine Zähne erneut im Spiegel. Sie sahen nun genauso aus wie Egons. Er konnte sie fühlen und sehen. Wie konnte es sein, dass seine Eltern nicht bemerkten, dass ihr Sohn nun ein Monster war? Auch Papa hatte beim Frühstück nichts gesagt, obwohl Leon ihn breit angegrinst hatte. Sein Vater hatte einfach nur zurückgelächelt!
Vielleicht musste Leon einfach damit leben. Wenn es kein anderer sah, war es nicht so schlimm, oder?
Dann hörte er die Haustür. Mama war vom Samstagseinkauf zurück. Er lief in die Küche, wo sie die schweren Taschen auf der Küchentheke abstellte.
Sie schaute Leon an und grinste schief. „Möchtest du was?“
„Mamaaa ...“ Leon wippte auf den Zehen hin und her.
Nachdem sie etwas in den Taschen gekramt hatte, gab sie ihm zwei Tafeln Schokolade. Er hatte sie davon überzeugen können, dass er wieder gesund war und so gerne etwas Süßes hätte.
„Aber nicht alles auf einmal essen“, sagte sie zwinkernd.
„Klaro.“ Leon nahm die Tafeln und verschwand damit in seinem Zimmer, bevor Mama oder Papa auf die Idee kamen, etwas davon zu essen.
Gut, er hatte etwas für Egon. Jetzt musste es nur noch Abend werden.
Der Tag ging einfach nicht vorbei. Leon las, dann bastelte er weiter an dem Milleniumfalken. Sogar für den Geschichtstest, der erst in zwei Wochen stattfinden sollte, lernte er. Zwischendurch schaute er nach, ob die Schokolade noch da war.
In den Händen haltend betrachtete er sie. Nougat und Schokokeks, seine Lieblingssorte. Vielleicht sollte er überprüfen, ob die Schokolade gut war. Nicht, dass er Egon eine Packung gab, mit der etwas nicht stimmte. Produktionsfehler oder so.
Vorsichtig riss er die Packung auf, um eine kleine Ecke abzubrechen. Nur zum Testen.
Die Schokolade schmolz auf der Zunge und die spitzen Zähne zerbröselten den Keks. War die gut. Ein Eckchen mehr oder weniger würde Egon bestimmt nicht stören. Das nächste Stück wanderte in Leons Mund und war im Nu verschwunden. Er brach immer größere Teile ab, Leon aß schneller, bis er nur noch eine leere Packung in den Händen hielt. Mit der Fingerspitze sammelte er die Keks- und Schokokrümel ein, die er auf dem Weg zu Mund verloren hatte.
Eine Tafel für Egon musste reichen. Bestimmt. Er legte die Packung Nougat in die Schublade seines Schreibtisches und setzte sich auf das Bett, um auf dem Tablet Candy Crush zu spielen. Er kam mit den vorgegebenen Zügen nicht mal in die Nähe des Levelziels. Sein Blick wanderte immer wieder zu der Schreibtischschublade. Nachdem er das Level zum siebten Mal nicht geschafft hatte, legte er das Tablet zur Seite und stand auf. Er öffnete die Schublade. Ja, da lag die Tafel noch. Er ließ sie im Schreibtisch verschwinden, zog sie sofort wieder hervor. Nougat war nicht wirklich seine Sorte. Aber Egon würde sie bestimmt schmecken.
Immer mehr Speichel sammelte sich in seinem Mund, so dass er schlucken musste. Langsam griff er zu der Schokolade. Er berührte die Packung und zuckte zurück. Nein! Er brauchte die Schokolade für Egon. Aber wie gerne würde er jetzt ein Stück davon essen. Nur ein kleines. Er würde Egon genug übrig lassen.
Er riss die Packung auf und ohne Pause stopfte er alles in sich hinein. Sein Mund verklebte, die Schokolade beschmierte Finger und Gesicht. Leon wusste, er beging einen riesigen Fehler. Aber am Ende war er so glücklich, dass es ihm egal war.
Leider ebbte das Glücksgefühl nach ein paar Stunden ab, stattdessen kehrten Panik und Angst zurück. Es wurde dunkel, und bald würde Egon da sein. Leon konnte seine Mutter nicht nach mehr Süßigkeiten fragen. Sie würde die Krise kriegen, wenn sie erfuhr, dass er zwei Tafeln Schokolade an einem Tag gegessen hatte.
Als Egon schließlich kam, hatte Leon innerlich schon aufgegeben. Was konnte er jetzt noch tun? Also machte er sich auf das Schlimmste gefasst.
„Ich habe nichts für dich“, sagte Leon ganz ruhig.
„Na, hattest du Heißhunger auf Süßes?“ Der Zwerg kicherte und rieb sich die Hände. „Mit den neuen Zähnen knabbert es sich viel besser, nicht wahr?“
Leon starrte den Zwerg an. „Woher ...?“
„Ach, komm. Meinst du, ich weiß nicht, was mein Biss anrichtet?“
„Was richtet er denn an?“ Plötzlich war Leon doch mulmig zu Mute.
„Na, er verwandelt dich.“ Egon machte eine Pause, stemmte die Arme in die Seiten und reckte das Kinn empor. „In einen Zwerg!“
Vor Leon Augen tanzten schwarze Sterne. „Was redest du da?“
„Was denkst du, sollst du sonst mit den Zähnen anfangen?“
„Mach mich wieder normal!“
„Tut mir leid, nach ‘nem Biss gibt’s kein Zurück.“
„Aber du hast gesagt, wenn ich dir Süßes bringe ...“
„Erstens hast du nichts Süßes und zweitens hab ich gelogen.“ Zufrieden verschränkte Egon die Arme.
Der Raum fing an, sich zu drehen. Leon war gefangen in einem Alptraum. Er musste einfach nur aufwachen. Er schüttelte den Kopf. Klatschte sich mit der Hand ins Gesicht. Es tat weh, aber es half nicht.
Egon lachte in sich hinein. „Das bringt nichts, Junge. Warte ab, das wird spitze mit uns.“
„Mit uns ...?“, flüstere Leon, dann wurde alles schwarz.
Er öffnete die Augen. Die Lider waren schwer und träge. Als Leon sich langsam aufsetzte, rutschte die Decke von seinem Oberkörper. Er war nackt!
Verwirrt schaute er sich um. Neben ihm türmte sich ein bunter Berg auf. Er drückte mit der Hand dagegen und das Material gab sofort nach. Als wäre sein Hirn in Sirup getaucht worden, schaffte er es kaum, einen klaren Gedanken zu fassen.
War er nicht mehr in seinem Bett? Er betrachtete das riesige Tuch, das ihn nur noch zum Teil bedeckte, und als er erkannte, dass die rote Linie darauf ein Laserschwert war, durchfuhr es ihn wie ein Blitz. Das war sein Schlafanzug! Und er war riesig. Leon sprang auf, woraufhin der Boden federnd nachgab. Er betrachtete das Zimmer und ihm wurde klar, dass alles seine korrekte Größe hatte. Nur er war zu klein. Viel zu klein.
„Hallooo!“, tönte es vom Boden. Leon schaute hinab und ihm schwindelte es. Er war höher als auf dem Zehn-Meter-Brett im Schwimmbad. Egon stand grinsend unten und winkte. „Komm runter, ich hab was zum Anziehen.“
Leon starrte auf den Zwerg, schaute auf sich und plötzlich wurde ihm schlecht. Er drehte sich um und übergab sich würgend neben den Deckenberg. Zitternd kniete er sich hin. Sein Kopf schwirrte, er konnte das alles nicht glauben.
Die Matratze vibrierte, kurz darauf hörte er Egon hinter sich.
„Junge, stell dich nicht so an. Wir werden einen Riesenspaß haben, sag ich dir.“ Er warf ihm eine Hose, Oberteil und eine dunkelblaue Mütze hin. Leon entfuhr ein Geräusch, eine Mischung aus Lachen und Weinen.
„Neulinge bekommen ‘ne blaue Mütze, ist halt so.“
Leon zog sich die Hose und das Oberteil an, er wollte vor dem Zwerg nicht nackt sein. Die Mütze behielt er in den Händen. „Wie soll ich das meinen Eltern erklären?“
„Deine Eltern? Die können dich noch nicht mal mehr sehen!“ Egon hüpfte vom Bett. „Komm“, rief er von unten, „wir haben zu tun.“
Leon schaute runter, aber vor Tränen in den Augen sah er kaum etwas. Er würde nie mehr mit seinen Eltern sprechen können?
„Spring. Dir passiert nichts.“
Leon war jetzt sowieso alles egal, also sprang er. Es fühlte sich nicht an wie Fallen, eher wie Rutschen. Als würde er auf der Luft nach unten gleiten. Er landete etwas holprig, aber unverletzt.
“Siehst du, das läuft!“ Egon lachte und klopfte Leon auf die Schulter.
Leon ging einen Schritt zurück. „Fass mich nicht an, du ... du Monster.“ Egon hatte ihn erpresst und verwandelt und machte nun einen auf Freundschaft?
Der Zwerg ließ die Schultern hängen und seufzte. „Sei mir nicht böse. Ich war so allein.“
„Das ist mir egal. Lass mich in Ruhe.“ Leon drehte ihm den Rücken zu. Die Tränen liefen immer noch, irgendwie wollten sie nicht aufhören.
„Komm schon, zu zweit macht das Süßigkeitenbesorgen doch viel mehr Spaß.“
Süßigkeiten. Leons Magen knurrte. Langsam drehte er sich um.
„Ich zeig dir, wie’s geht, mein Junge.“ Egon marschierte los. Doch dann kam er zurück und streckte Leon die Hand hin. „Ich bin übrigens Rabagram.“