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Zweiter Maisonntag
Es kommt mir kindisch vor, als Sechzehnjähriger eine Muttertagskarte zu basteln. Ich falte den rosa Karton in der Mitte, streiche mit dem Zeigefinger hart über die Kante. Kurz wird das Rosa eine Nuance feuchter und dunkler. In Schreibschrift zeichne ich ein „Danke Mama“ auf die Vorderseite. Als ich ein Herz um die Buchstaben ziehe, zittert meine Hand. Ich setze den Stift ab und sehe mich um. Auf meinem Schreibtisch ist nichts zu entdecken, das zur Verschönerung beitragen könnte.
Die Wohnung ist dunkel, nur in der Küche brennt die Neonlampe über der Arbeitstheke. An den Esstisch gelehnt, nehme ich einen Schluck aus der Wasserflasche und spüre, wie der Sprudel in meinem Bauch Übelkeit aufmischt. Es ist schon halb elf, und mein Vater seit eineinhalb Stunden weg. Ich nehme die Flasche mit ins Zimmer und setze mich wieder vor die Karte. Der Füller liegt schwer in meiner Hand, die Feder kratzt über das Papier. Zu viel Tinte, die die Fasern aufweicht und Löcher ins Papier reißt. Seltsam geschlungene Flüsse, auf einem rosa Land. Die Karte wird so süß wie auf Esspapier geschrieben und mit Zuckerwatte beklebt: „Da ist Sohnesliebe in mir für dich- auch wenn ich nicht immer dankbar bin zu leben, bin ich doch froh, dass du mir die Grundlage dafür gegeben hast. Wir teilen den einen Chromosomensatz, wenn das meine Liebe zu dir nicht begründet. Dein… “
„Konrad?“
In einer erschrockenen Bewegung fege ich die Karte und alle Stifte vom Tisch.
„Wo warst du denn solange?“, frage ich lächelnd, etwas zu nervös „Ich dachte du wolltest nur laufen gehen?“
„Ich war nur laufen“, sagt er unschuldig.
„Im Leben nicht für die Dauer eines Fußballspiels. Wo warst du also?“
„Auf einem neuen Ausdauerniveau. Trau mir was zu!“
Als er eintritt und sich auf mein Bett setzt, sehe ich ihm seine Erschöpfung an. Sein Kopf ist hochrot und sein graues T-Shirt beinahe schwarz vor Nässe. Laut schnauft er und lässt sich auf den Rücken fallen.
„Was hast du so getrieben? Es ist Samstag, du könntest auch mal Feiern gehen. Dann müsstest du dich nicht wundern, wo dein alter Herr bleibt.“
Als ich nicht antworte, erhebt er sich und verlässt das Zimmer, leise die Tür hinter sich schließend. Ich warte, bis gedämpft Wasserrauschen zuhören ist. Ich schiebe den Stuhl zur Seite und sammle die Stifte ein, schreibe auf dem Boden sitzend „Konrad“ auf die Karte, die dann in der Schublade verschwindet. Den Wecker stelle ich auf Sieben, vom Sprudelwasser trinke ich nicht mehr. In meinem Magen ist Unruhe genug.
Sieben und der Wecker macht rücksichtslos alles wach. Ich muss schneller als er sein. Voll auf die Zwölf- Dann eine Ruhe, die durch das Schnarchen meines Vaters auf der anderen Seite der Wand einen Takt bekommt. Ihn hat er nicht geweckt.
Der zweite Sonntag des Maimonats, ein schönes Datum. Der regnerische April ist überstanden und man erinnert sich wieder daran, was Sommer war.
Die Sonne durchs Fenster wärmt schon, fällt auf den Schreibtisch, als wolle sie sagen: Hier liegt das Tagesthema- die rosa Karte für deine Mutter und, eigentlich dem Tag nicht gebührend, noch mehr für deinen Vater.
Ich bücke mich und ziehe die Schublade auf. Als ich das Wort „Mama“ auf dem Karton sehe, wird mir meine Nacktheit bewusst, und meine Hand drückt die Schublade schnell wieder zu. Dann muss ich lächeln. Ich ziehe mir etwas an, dann kann ich die Karte nehmen und betrete mit ihr die Küche, in der immer noch die Neonlampe brennt. Ihr Licht wirkt im Vergleich mit der Morgensonne blass. Ich knipse sie aus und setze den Kaffee auf.
Der Frühstückstisch sieht perfekt aus. Er ist nicht dekorativ, aber ordentlich und klassisch, mit Kaffee, warmen Brötchen, Wurst- und Käsescheiben auf kleinen Tellern, Milch im Kännchen und zur Krönung Obstsalat. Letzterer aus Nervosität geschnippelt. Sonnenstrahlen fallen auch auf diesen Tisch, und deshalb muss die Karte drauf. Ich mache es schnell, sodass keine Zeit zur Überdenkung bleibt. Ich werfe keinen letzten Blick auf den nun vollendeten Tisch. Ich muss raus, und mache schnelle Schritte durch den Flur in mein Zimmer.
Jetzt vielleicht noch eine halbe Stunde. Mein Vater steht für Sonntage immer früh auf. Ich sehe mich um, als betrachte ich das Interieur zum ersten Mal. Mir fällt auf, was alles schmutzig ist: Handabrücke auf der Fensterscheibe, zerrissene Zettel neben dem Mülleimer, Schmutzringe um die Blumentöpfe auf der Fensterbank. Dann höre ich, wie mein Vater die Tür öffnet und den Flur passiert. Mein Hirnkreislauf überhitzt, ich stürze in den Gang und sehe ihn schon die Karte vom Tisch nehmen. Ich bin voller Anspannung. Er blickt fragend auf die Vorderseite, sieht väterlich aus, mit seinem Bart, in den sich bereits grau gemischt hat, das gleiche an den Schläfen, der großen Brille auf seiner Nase.
Er öffnet die Karte, liest ein paar Sekunden, klappt sie wieder zu, besieht die Rückseite, öffnet sie wieder, liest. Es ist zu spät, alles für einen Irrtum zu erklären. Die Augenbrauen zusammengezogen, die Mundwinkel zuckend, als wolle er lächeln, sieht er mich an. Dann legt sich die Regung auf seinem Gesicht wieder.
„Originell“, sagt er, hebt nun die Brauen, beinahe in einem Ausdruck der Anerkennung für meine Bastelei. Langsam setzt er sich, stellt die Karte zurück auf den Tisch.
„Ich habe schon gemerkt, dass dich so was beschäftigt.“
Seine Worte müssen einen Moment in meinem Verstand ziehen, wie Tee im Wasser, um dann wütende Fassungslosigkeit bei mir zu bewirken.
„Du hast es gewusst und nichts gesagt? Du wolltest schön fein raus sein. Jetzt bin ich der böse Störenfried!“ Mit der flachen Hand schlage ich auf den Türrahmen. Als ich hinsehe ist da ein feuchter Abdruck. Ich wische mit der Hand über die Hose.
„Ich hielt es nicht für angebracht“
„Nicht für angebracht? Du dummes Arschloch!“
Er lässt so mit sich sprechen, und ich bin von dem, was ich mich traue selbst überrascht.
„Du scheiß Schwein! Was wenn ich eine Mutter brauche?“
Ich zittere, fühle mich gefroren und kochend zugleich. Ich bin Trockeneis, kann mich auflösen, ohne eine Pfütze zu hinterlassen- ich weiß nicht mehr, was ich sage- beschimpfe ihn weiter. Lehne mich erschöpft gegen den Türrahmen und gleite mit dem Rücken daran herunter. Ich will nicht mehr, ich gebe auf. Meine Wut ist das Trockeneis, nicht ich.
Ich rieche den Kaffee und die Brötchen. Gerüche, die Vertrauen schaffen, gepaart mit wärmendem Sonnenlicht. Wir sind alleine und es herrscht eine Stille, in der mein Weinen überspielt werden muss. Aber ich habe keine Ahnung was ich sagen soll.
Bis ich zehn war, kam mir das Leben das wir geführt hatten normal vor. Mir fehlte niemand. Dann fragte ich mich doch irgendwann, wer meine Mutter sei, war aber zu feige zum Fragen. Ich habe mich aus Scham nicht getraut bis ich dreizehn war. Ich begann, mich zu fragen, warum nie über sie geredet wurde und hatte Angst vor der Antwort. Aber jetzt... Ich blicke auf, sehe ihn an.
„Antworte mir endlich!“
Er starrt auf den Tisch, steht auf, und setzt sich mir gegenüber.
„Sie bekam dich und gab dich an mich ab“, sagt er knapp, ohne mich anzusehen.
Ich schlucke und fühle ein schmerzhaftes Brennen in der Nase aufsteigen.
„Du hast nie mit ihr gelebt? Und sie hat mich einfach weggegeben?“
„Wir haben zusammen gearbeitet. Das war fast alles. Und Arbeit war’s dann auch, was ihr wichtiger war. Ich musste sie…“, er unterbricht sich und fährt mit der Hand über sein Knie, auf das er schaut.
„Nein! Sag alles!“
Es ist still, mein Atem geht schwer. Ich stemme mich hoch, halte mich am Türrahmen fest, und rutsche lächerlicherweise fast ab. Die Scham über meinen Pathos und die Karte wachsen.
„Was musstest du sie?“
Ich trete meinen Vater. Er reagiert nicht. Ich weiß, was er sagen will, kann es mir denken. Aber jetzt bin ich grausam. Meine Faust schlägt gegen die Wand und es tut nicht weh. Der Schmerz kommt erst, als mein Vater sagt, ich tue nur mir selbst weh. Dann packt er mich, seine Finger um mein Handgelenk drücken zu fest, um den Puls zu spüren. Mit der anderen Hand packt er mich am Kinn, zwingt mich, ihn anzusehen.
„Ich musste sie überreden, dich nicht abzutreiben.“
„Okay“, flüstere ich, „Einverstanden.“ Dann atme ich tief ein. Der Griff um mein Handgelenk wird leichter, sein Zeigefinger fährt über die pochende Stelle.
„Und jetzt?“
Wir schweigen und sehen uns in die Augen. Ich habe seine Augen, sein Gesicht. Von ihr ist nur eine Hälfte meiner Gene.
Dann versuche ich mit zuckenden Mundwinkeln ein Lächeln, „Frühstücken?“
So wahnsinnig der Vorschlag auch klingen mag.