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Zwei Künstler und ein Polizist
Bin kein gewöhnlicher Mensch. Bin Künstler! Deshalb die Qualen. Deshalb das Leiden an der Einfallslosigkeit, am ewig Gleichen. So denke ich, während ich meine Kleidung ablege und im Bad vor den Spiegel trete. Der Peter hat mir diese Videokamera geschenkt. Zur Inspiration, sagt er. Das Arschloch! Der schöpferische Mensch braucht Inspiration wie der Bauer das Brot. Aber die kommt nicht so, dass man technische Spielzeuge ausprobiert und sich den Dreck im Wohnzimmer im Fernseher anschaut. Hab das Ding ja ausprobiert und unten auf der Straße die Leute gefilmt, wie sie ihre Einkaufstaschen nach Hause tragen und ihre Hunde spazieren führen und den ganzen bürgerlichen Scheiß.
Jetzt steht es auf einem Stativ, draußen im Vorraum, die Linse auf mich gerichtet, als würde es mich anschauen. Ich kratze mir die Bartstoppeln und überlege. Gehe darauf zu und drücke mit dem Finger auf ein paar Knöpfe. Starte die Aufnahme, ganz spontan! Dann wieder hin vor den Spiegel: Schaue mich an! Wetze das Rasiermesser, trage mit dem Rasierpinsel Schaum auf. Kühl und feucht. Ich schaue der 64-jährigen Wahrheit direkt ins Gesicht. Das Messer schabt über die Haut, macht alles glatt und frisch. Aber dann schreie ich auf! Schmerz hat zugebissen, hat mich wie eine plötzliche Eingebung direkt ins Hier und Jetzt hineingestoßen. Aus dem Schnitt unter dem Ohrläppchen fließt Blut heraus, läuft in dicken Tropfen bis zum Kinn hinunter, landet auf den Fliesen.
Der Künstler muss vorwärts gehen, muss den Raum des Kreatürlichen überwinden, hin zur Freiheit. Der Schnitt in das Ohrläppchen hinein, in den Knorpel hinein, macht mich ganz rasend. Das Herz hämmert viel zu schnell. Ich ziehe das Messer erbarmungslos weiter, blute wie eine Sau und schreie! Mit dem Einsatz meiner ganzen Willenskraft gelingt es, das Ohr durchzuschneiden. Jetzt liegt es warm und klebrig auf meiner Hand. Blut fließt mir über den Oberkörper. Ich verliere fast die Besinnung. Mein Blick wandert kurz zu der Kamera hinüber. Ich lege das abgetrennte Ohr in die Badewanne hinein, streiche das Blut von der Klinge und in mir denkt es: weiter!
Die beiden Polizisten Pospisil und Haider, von der Kripo zur Wohnung des Künstlers geschickt, weil der Hausmeister die Polizei angerufen hatte, stiegen im Erdgeschoß in einen Aufzug aus der Gründerzeit. Man konnte von außen den Mechanismus mit all den Rädern und Schnüren sehen. Der Hausmeister trug einen blauen Mantel. Die Schlüssel an einem sehr umfangreichen Schlüsselbund klapperten aneinander, während er nach dem richtigen suchte. Seine Hände zitterten: „Sie können sich nicht vorstellen, wie er geschrien hat. Über eine Viertelstunde lang.“
"Warum sind Sie ihm dann nicht zu Hilfe gekommen?"
Verlegen machte der Hausmeister den Polizisten klar, dass er schon öfter Schreie aus dieser Wohnung gehört hatte und wenn er hinauf gegangen war um nachzusehen, hatte es immer mit Streit geendet.
„Glauben Sie denn, dass eine andere Person bei ihm gewesen ist?“
„Nein. Also gehört hab ich nichts.“
Mit einem Ächzen blieb der Aufzug im fünften Stock stehen. Im Treppenhaus roch es nach Putzmittel und altem Holz. Der Hausmeister schloss die Tür auf. „Brauchen Sie mich noch?“
„Lassen Sie uns den Schlüssel da. Wir kommen später noch einmal zu Ihnen.“
Schon beim Öffnen der Tür bemerkten Sie einen altbekannten süßlichen Geruch. An den Wänden hingen Radierungen und Fotografien. Über einer Kommode, sicherlich echt antik, ein Spiegel mit Goldrahmen. Teppiche auf den Böden und Blumen auf Beistelltischen: Das Ambiente atmete Geborgenheit und Wohlstand. Nur die Art der Bilder passte nicht so recht dazu: Abbildungen von Menschen, die auf den Boden schissen und einander den Stinkefinger zeigten.
Pospisil hatte zu seiner Zeit den zerschmetterten Körper eines Selbstmörders unter dem Donauturm gesehen, auch Wasserleichen und die alte Frau, die drei Wochen lang in ihrer Wohnung verrottet war, ehe die Nachbarn, durch den Gestank alarmiert, die Polizei verständigt hatten. Der verkrümmte Körper auf dem Boden des Badezimmers und Unmengen von gestocktem Blut, verschmiert über die Wände und den Spiegel, waren sicher nicht das Schlimmste, was er gesehen hatte. Den Würgereiz konnte er beherrschen. Er sah gerade, dass ein paar abgetrennte Körperteile in der Badewanne lagen, als er den Kollegen schreien hörte.
Haider hatte ein Rasiermesser, vielleicht die Tatwaffe, aufgeklappt und begann, sich damit in den Unterarm zu schneiden. Die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, zog er das Messer bis zum Ellenbogen. Pospisil reagierte geistesgegenwärtig, schlug ihn nieder, schleifte ihn durch den Vorraum bis ins Treppenhaus hinaus und die ganze Zeit spritzte Blut auf alle Möbel und Wände und Haider schrie. Pospisil konnte den Arm des Kollegen mit seinem Gürtel abbinden, hörte Schritte, die klatschend die Treppe heraufkamen: Der Hausmeister kam angelaufen, schlug sofort die Wohnungstür zu. Das Handy, das er aus dem Mantel zog, fiel ihm zuerst auf den Boden. Er wählte den Notruf. Pospisil, den Kollegen im Arm, schaute ihn an, mit großen Augen, atmete stoßweise und schüttelte immer wieder den Kopf.
Ein Sonderkommando in Schutzanzügen untersuchte die Gegenstände in der Wohnung, packte sie in Plastikfolie und schickte sie zu chemischen Analysen. Die Substanz, mit der die Kamera imprägniert worden war, setzte den Selbsterhaltungstrieb außer Kraft, stürzte das Opfer in einen schöpferischen Rausch oder weckte diese Kräfte erst, wenn sie bislang unentwickelt waren. Und danach? Wer den Rausch überstand, in dem waren alle falschen Moralbegriffe unweigerlich zerstört.
„Verstehen Sie?“
Der Mann im weißen Anzug beschrieb den Vorgang mit leuchtenden Augen. Er hatte langes, graues Haar. Man kannte ihn aus Berichten in den Feuilletons. Wie der Verstorbene war er Mitglied der Akademie. Er redete mit den Händen, um seine Ausführungen zu unterstreichen: „Über viele Jahre habe ich Versuche angestellt! Wie man diese Kräfte, die in uns gefangen liegen, endlich frei setzen kann. Zum Wohle dieser verkorksten Gesellschaft. Zum Abschütteln der Repression! Aber ich habe es nie gewagt, gewisse Grenzen zu überschreiten. Bis dem Karl alle Ideen ausgegangen sind.“
„Sie wollen damit andeuten, Sie haben dem Verstorbenen die Droge mit Absicht verabreicht?“
„Natürlich! Ihm ist ja nichts mehr eingefallen. Er war verbraucht. Was soll er da noch ewig leben? Es war nur zu seinem Besten.“
Pospisil nickte, stand auf und öffnete das Fenster des Untersuchungsraumes. Das Verhör hatte nicht einmal eine halbe Stunde lang gedauert.
„Was ist jetzt? Komm ich vor Gericht?“
„Ich werte Ihre Aussage als Geständnis.“
Die uniformierte Kollegin an der Tür nickte ihm zu.
„Und die Aufnahme aus der Kamera? Wann wird die zur Verfügung stehen?“
In den Augenblick der Verblüffung hinein rief der Verdächtige: „Nun stellen Sie sich nicht dümmer als Sie sind! Für die Ausstellung! Er soll ja nicht umsonst gestorben sein.“