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Zwanziger Schrot
In den letzten Tagen brachte ich ihm morgens eine Handvoll Munition, und jedesmal
fragte er mich nach der guten Flinte und dem 20er Schrot.
Nein, sagte ich. Das Luftgewehr reicht.
Wir haben hier keine Nachbarn, sagte er. Das hat keine Sau zu interessieren, das ist immer noch mein Grundstück!
Gegen Abend sammelte ich dann die Tauben ein.
Sie lagen auf der anderen Straßenseite, im Schatten des Dachvorsprungs. Ich hob sie auf und schmiss sie in die Mülltonne.
Wir alle warteten seit Wochen auf das Ende.
Er sagte, er will nicht alleine gehen.
Jeden Morgen, als ich in der Küche die Diabolos aus der Dose holte, saß meine Mutter am Tisch und schüttelte den Kopf.
Und was machen wir, wenn die Dose leer ist?
Ich antwortete ihr nicht. Ich griff mir ein Dutzend und brachte sie meinem Großvater in sein dunkles Zimmer im Obergeschoss.
Er lag im Bett vor dem offenen Fenster, das Gewehr schon über der Decke.
Ich legte ihm die Diabolos auf das Laken, ich reihte sie hintereinander auf wie eine Kette.
Mein Leben war beschissen, sagte er.
Draußen gurrten die Tauben. Es gab eine Menge Tauben in diesem Jahr.
Ich habe die Viecher schon immer gehasst, sagte er. Die taugen zu nichts.
Er sah mich nie an, wenn er mit mir sprach. Er starrte einfach aus dem Fenster.
Im Haus hörte man von den Schüssen nicht viel.
Als würde man mit einem Hammer einen Nagel in die Wand schlagen.
Mein Großvater starb; nur seine Hände schienen lebendig zu bleiben.
Jeder Schuss ein Treffer.
Nicht jede Taube war sofort tot.
Manchen musste ich erst das Genick brechen.
Mein Großvater besaß eine Menge Waffen.
Er ging früher oft zur Jagd und schoss auf seinem Grundstück auf Ratten und Mäuse.
Seinem jüngsten Sohn hat er einmal ins Auge geschossen.
Ein Versehen, wie er sagte. Außerdem sei es ja nur ein Diabolo gewesen.
Sein jüngster Sohn war mein Vater.
Das Projektil blieb in der Pupille stecken, nur deswegen verlor er das Auge nicht.
Mein Vater war nicht da, als es geschah. Er rief mittags an und sagte, er komme später, er müsse noch etwas auf der Arbeit erledigen.
Er kam erst nach Mitternacht, als habe er es geahnt.
Mein Großvater war nicht der einzige Mensch, den ich habe sterben sehen, aber er war der einzige, der sterben wollte.
Ich habe seine Atemzüge gezählt; viermal in der Minute, dann nur noch zweimal, ich blieb bei ihm bis zum letzten.
Er starb mit offenen Augen.
Ich nahm ihm das Gewehr aus den Händen, ging ans Fenster und zielte. Manchmal reicht die Bewegung eines Fingers, um sich zwischen Liebe und Hass zu entscheiden.
Mein Vater machte die nötigen Anrufe am nächsten Morgen.
Ich fragte, ob er schon Abschied genommen habe.
Er fragte, ob ich das Luftgewehr behalten wolle.
Ich habe nie verstanden, warum er meinem Großvater erlaubt hat zu tun, was er getan hat. Vielleicht weil er immer Sohn geblieben ist.
Die anderen Waffen wurden weggegeben, manche verschenkt. Am Ende blieb nur noch der Schrank aus dunkelgrauem Stahl übrig. Niemand wollte ihn haben; das Modell alt und überholt, der Widerstandsgrad zu gering.
Wenn jemand stirbt, beginnt seine Haut anders zu riechen. Streng, durchdringend. Man kriegt diesen Geruch nur schlecht wieder aus der Nase. Noch Wochen später hing er im ganzen Haus. Und als er schließlich verschwunden war, da war es so, als habe mein Großvater nie existiert. Kein Bild, kein Gegenstand, kein Kleidungsstück. Erst Jahre später fand ich heraus, dass mein Vater das Luftgewehr in einen Schirmständer in seinem Arbeitszimmer gestellt und dort vergessen hatte.
Ich behalte nur diese eine Erinnerung: Wie er das Gewehr lädt, die Hände ganz ruhig, und wie er etwas töten will, etwas mitnehmen auf die andere Seite.