- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 29
Zum Tod des antiken Dichters Anakreon
Die Flamme der Öllampe erfüllte keinen Zweck mehr. Erste Sonnenstrahlen fluteten durch die offenstehende Terrassentür in den Raum. Papyri, dicht bekritzelt mit Schriftzeichen in ionischem Dialekt, lagen verstreut auf dem Tisch. Eines nur halb beschrieben, im Satz unvollendet, deutete darauf hin, dass der Schreibende mitten im Vers unterbrochen worden war. Wie achtlos fallengelassen, daneben eine Rohrfeder mit schwarzer Spitze und eine umgekippte Schale mit Weinbeeren.
Der Bewohner war früher an Fürstenhöfen, wie jenen von Polykrates oder von Hipparchos, ein gern gesehener Gast gewesen. Jetzt beanspruchte er seit Langem den schönsten Raum im Gasthaus Zum Nektar der Athene zu seiner Unterkunft. Trat man vor die Tür, erblickte man den Felsrücken mit der Akropolis, dem Sitz der Götter. Der Tempelbezirk hob sich mit seinen Säulenbauten erhaben gegen den wolkenlos blauen Himmel ab. Ein Jubeltag schien bevorzustehen. Vereinzelt traten Bürger ins Freie, Athen erwachte.
Als Nafsiká, das Hausmädchen des Gasthauses, auf ihr Klopfen keine Antwort bekam und die Tür öffnete, erschrak sie heftig. Der alte Mann lag am Boden, der Schemel umgeworfen. Sein von schlohweissem Haar umrahmtes Gesicht erstarrt zu einer Maske. Die Augen und der Mund weit aufgerissen, das Antlitz eines Toten. Er musste der Göttin Artemis begegnet sein, die ihn niedergestreckt hatte.
Jede zweite Stufe überspringend eilte Nafsiká hinab zum Schankraum, in dem Polykarpos, der Wirt, bereits an der Tagesarbeit war, die Gäste bewirtend. Vor dem Zeus verehrenden Hausaltar verharrte sie kurz.
Kaum hatte sie den Türbogen durchschritten, rief sie schwer atmend, «Anakreon, der Dichter, ist tot!»
Polykarpos hielt mitten in einer Handbewegung inne, einen Moment den Mund offen, ohne ein Wort zu sagen. Dann wie gedankenverloren: «Ich hoffe, in seinem Besitz finden sich genug Silbermünzen, um seine Zechen sowie seine Entsorgung zu begleichen.»
Orpheus, ein durchreisender Gast, der an einem Tisch sein Frühstück einnahm, lachte auf. Dem Wirt rief er zu: «Bringt mir einen Becher Wein. Der Tag will geehrt sein, an dem einer der letzten Vertrauten der Tyrannen, die ihn nährten, von dieser Welt abtrat.»
Nafsiká war entsetzt, sowohl die schamlosen Worte von Polykarpos als auch die des Orpheus schienen ihr zu dieser Stunde weit verfehlt. «Er war ein Dichter, der das Schöne pries. Der unseren gewöhnlichen Alltag mit seinen Versen aufhellte und das Wunderbare am Dasein in gelenker Form darbot, zur Freude aller. Wie könnt Ihr so ehrfurchtslos von ihm sprechen, da er nun gegangen ist.»
Orpheus vermochte den Spott nicht zurückhalten. «Anakreon, ein gepriesener Dichter? Vergleicht man seine Verse mit den erhabenen Strophen der Sappho, scheint er mir unbedeutend. Oder stellt man sein Schaffen dem unübertrefflichen Epos von Homer gegenüber, ist Anakreon doch nur ein vager Schatten im Tempel der Dichtkunst. Seine Kunstfertigkeit bestand wohl mehr darin, dass er zu hofieren wusste. Allem voran die weiblichen Seelen bezirzte, ihren Männern vorgab, mit seinen Versen im Herzen erlangten diese mehr Liebreiz. Was einzig für ihn spricht, ist sein Elan, mit dem er sein Tun bis ins hohe Greisenalter aufrechtzuerhalten vermochte. Nein, für mich ist sein Abgang kein Verlust.»
«Ihr gebt wohl nur das Geschwätz des gewöhnlichen Volkes wider, das Anakreon nie persönlich begegnete und von seiner Dichtkunst einzig hörte, ohne sie zu kennen und zu verstehen.» Es war der wohlhabende Bürger Xanthus, der Orpheus mit mahnenden Worten widersprach. «In meinem Haus war Anakreon stets willkommen. Er bereitete meiner Familie als auch unseren Gästen so manch frohe Stunde. Nur wer die Kunst in ihren verschiedenen Artungen und vollendeten Formen wirklich versteht, kann ihren Wert ermessen. So ist sein Tod ein wahrer Verlust, da diese eine Quelle nun versiegt ist. Ich bin mir sicher, seine Verse werden auf ewig Menschen erfreuen. Wer seinem Werk hingegen mit Missgunst begegnet, wird es beschämen.»
Einzelne Bürger unter den Anwesenden raunten deutliche Zustimmung, ohne aber das Wort selbst zu ergreifen.
«Einen kurzen Vers von ihm will ich Euch nicht verwehren, damit ihr seine Wesensart versteht», setzte Xanthus nochmals an. «Der Greis / Ich liebe einen heiteren Greis, / Ich liebe junger Tänzer Scharen; / Doch tanzt die Weise mir ein Greis, / So ist er alt zwar nach den Haaren, / Doch in dem Herzen glüht es heiss.»
Da brauste Helios auf, ein junger Mann, der sich bisher mit mässigem Erfolg im Verfassen von Dramen und dem neu aufgekommenen Satyrspiel versuchte. «Formvollendet erscheinen seine Worte einzig jenen, die ihre Sinne wie von einem berauschenden Nektar gleich betäuben lassen. Es ist nicht lange her, da schrieb er doch viel eindeutiger noch die Strophen: An ein junges Mädchen. / Du musst nicht fliehen, weil mir / Nur weisses Haar geblieben! / Weil dir die Jugend blühet, / Hold auf den Wangen glühet, / Verachte nicht mein Lieben! / Du weisst ja, wie sich zwischen / Der Lilien weisses Schimmern / Oft Rosen lieblich mischen!
Nicht wahres Heldenleben vermochte er zu besingen, nur Lüsternes, was seine Worte da umspielten, und das soll Kunst sein.»
Gelächter brannte bei einigen Gästen auf, böse Worte wurden von andern eingeworfen, fast tumultartig die Dispute zwischen den Anwesenden.
Da verschaffte sich Orpheus erneut Gehör. «Wie wahr Ihr sprecht, ein Verführer war er, sich der Sinnlichkeit des Gottes Eros bedienend und die Berauschung durch den göttlichen Dionysos schamlos nutzend. Wie ich schon andeutete, am Hofe von Tyrannen war dies wahrscheinlich ein gefälliger Brauch, zu gewissen Stunden der Wollust frönen. Das gewöhnliche Volk musste derweil darben.»
Der Bürger Xanthus nun auch in Rage rief laut: «Wer seid Ihr, dass Ihr so über einen ehrenwerten toten Dichter sprecht? Die Göttin Tisiphone wird diese Worte nicht so stehen lassen. Ihrer Pflicht zur Vergeltung wird sie bestimmt in geeigneter Weise nachkommen. Dass ihr dann noch zynisch lacht, denke ich nicht.»
Das Publikum reagierte teilweise belustigt, manche aber auch betroffen. Die Anrufung einer der drei Erinnyen war keine wohlwollende Entgegnung. Mit Tisiphone, die auch als Rächerin bei Mord auftrat, war unterschwellig ein solcher Tod in den Raum gestellt. So richtig wollte jedoch niemand daran glauben, ein reich erfülltes Leben, das nun seinen Tribut forderte, schien bei Anakreon durchaus angezeigt.
Nun mochte Polykarpos auch nicht zurückhalten, einen Nekrolog einzubringen. «Es ist wahrlich verwunderlich, wie sie ihm huldigten, ihn heimlich zu sich in die Häuser eingeladen hatten, damit er ihnen seine Verse rezitiere. Trotz seines hohen Alters begab er sich noch täglich auf den Weg, die Gemächer der Frauen und wohl auch die der hehren Töchter zu durchkreuzen, während ihre Männer geschäftlich unterwegs waren oder als ehrenwerte Bürger an der Volksversammlung teilnahmen. Stets kam er mit Silberlingen bereichert zurück, was ihm ermöglichte, sein Leben feudal zu gestalten, nicht darben zu müssen, wie manche Dichter, die für ihre Kunst hart arbeiten. In meinem Gasthaus beanspruchte er den besten Raum, verbat sich jeden Lärm, wenn er am Schreiben war. Doch letzte Nacht hörte ich ihn jämmerlich husten, keuchen, poltern. Ich wähnte ihn betrunken, dann war es plötzlich still. Die Altersbeschwerden hatten ihn zur Ruhe gezwungen, der Schlaf ihn übermannt, war mein Gedanke. Dass sie ihn gleich zur letzten Ruhe gebettet hatten, ahnte ich nicht.»
Nafsiká fand an den gehässigen Nekrologen und den Anfeindungen keine Freude. Es waren Worte, die den Mäulern boshafter Satyrn entsprungen sein mussten. Ein weiterer Widerspruch stand ihr jedoch nicht zu. So erhob sie ihre Stimme nur gegen die Deutung seines Todes. «Es scheint mir nicht, dass das Alter ihn dieser Welt entriss. Sein Geist war jung geblieben, gab ihm Ansporn und Lebensenergie die ausreichten, gut nochmals ein weiteres Dezennium unter uns zu weilen. Sein Gesicht ist verzerrt, als ob etwas Schreckliches ihn heimsuchte. Er musste der Göttin Artemis als Todesbotin persönlich begegnet sein, die ihm jemand feindlich gesinnt zusandte.»
Der Wirt, nun arg verunsichert, bemerkte: «Ich werde ihn mir selbst ansehen. Bei dieser Gelegenheit kann ich auch gleich klären, ob der Verstorbene seine Schulden zu decken vermag. Die Verehrerinnen werden mir für die Papyri mit seinen posthumen Worten wohl kaum mehr als einen kargen Obolus geben.»
Damasos, ein Kundiger der Heilkunst des Asklepios, untersuchte den Leichnam des Anakreon, sein Gesicht und seine Körperhaltung dabei ausführlich studierend. Polykarpos, der neugierig unter der Türe stand, vorgeblich um zuzugreifen, wenn eine helfende Hand notwendig war, wurde von Damasos weggeschickt. «Wartet im Schankraum auf mich, bis ich die Ursache seines Dahinscheidens geklärt habe. Und denkt daran, aus seinem Besitz steht mir eine angemessene Entschädigung zu, die ihr mir dann gleich überreichen könnt.»
Die Kunde vom Tod des Dichters Anakreon hatte in Athen schnell die Runde gemacht. Der Schankraum war voll von Neugierigen, auch draussen, standen sie herum und diskutierten. Es waren einzig Männer. Für Frauen galt es nicht als schicklich, sich öffentlich zu präsentieren. Dennoch hatte sich eine Anhäufung von Frauen weiter entfernt zusammengefunden, zum Gasthaus blickend. Orpheus, der dies bemerkte, empörte sich laut: «Nun kommen schon die Weiber an seine Totenstatt zum Wehklagen.»
Schlagartig verstummten sie alle, als Damasos in den Schankraum trat. Einen Moment war er verwundert, als er die Menge erblickte, die ihn fragend anschaute.
«War es die Göttin Artemis, die ihn heimsuchte?» Es war Nafsiká, die Damasos danach fragte.
«Ob es die Göttin Artemis war, welche die Weinbeere ihm reichte, kann ich nicht sagen. Aber diese Frucht führte zu seinem Tod.» Er hielt das inkriminierte Objekt zwischen zwei Fingern hoch.
«Vergiftet?» Die fragende Stimme kam aus der Menge. Das verschwörerische Wort löste ein Geraune aus. Die Blicke von einigen Anwesenden wandten sich auf Xanthus, der mit der Göttin Tisiphone doch nahezu ein Orakel präsentiert hatte, als ob er ahnte, was geschehen war.
«Also doch!», war ein Ruf aus der Menge zu hören.
Damasos hob beschwichtigend die Hand. «Nein, nicht vergiftet. Anakreon besang die Liebe, die Rosen und den Wein. So wurde es ihm zum letzten, krönenden Geschenk, dass er an einer Weinbeere erstickend sterben durfte.»