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zu spät, viel zu spät
Das Photo, das an dem Grabstein zu sehen war musste gemacht worden sein, bevor all das, was sie mit der Zeit in sich hineingefressen hatte von ihrem Herzen Besitz ergriff, denn es zeigte die bald 20jährige, die nun in dem Grab lag. Es zeigte lange dunkle Haare, dunklere Augenbrauen und darunter wache, spöttische Augen. Unter der schmalen Nase lächelte ein Mund, wie als wollte er sagen: „Hallo du! Lass uns einen Spaziergang machen und später auf eine Party gehen, ja? Ich muss hier weg." Ich stand plötzlich wie einer der Steine da und wusste nicht, was ich denken sollte, so sehr schmerzte mich der Anblick, dann bahnten sich die ersten Worte einen Weg durch das statische Rauschen in meinem Kopf: DU - BIST - ZU - SPÄT - GEKOMMEN
Seit mehr als einem Jahr schon lag sie sich auflösend in ihrem Grab, während ich mir noch so sicher war sie eines Tages zu finden.
Blumen standen gebeugt über die Einfassung der Erde, blau mit dunklem Rand, ich weiß nicht wie sie heißen, so wie ihre Augen wohl ausgesehen haben mussten.
Noch einmal: DU - BIST - ZU - SPÄT - GEKOMMEN.
Und dieses mal rissen die Worte alles mit, was sich hinter ihnen angestaut hatte. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich überlies das dem Regen.
„Entschuldigen Sie? Haben Sie sie gekannt?" sprach mich plötzlich eine Frau an, die ich sofort als ihre Mutter erkannte. So ähnlich waren die Gesichtszüge, so tief saß der Schmerz in den blauen Augen.
„Es kommt mir fast so vor." antwortete ich nach einer Weile ziemlich plump und wischte mir den Regen aus dem Gesicht.
Sie nickte nur. Gleichgültig. Und wie aus Trotz blieb ich stehen und fragte: „Währe es taktlos zu fragen, was passiert ist?" Sie hatte sich hinuntergebeugt um etwas Ordnung in die zerdrückten Blumen zu bringen und blickte jetzt auf - einen unlesbaren Ausdruck in ihren Augen..
„Sie hat sich erhängt." Es war fast ein Flüstern, eine Ahnung im Plätschern des Regens. Und mir wurde plötzlich schwindelig. ‘Warum liegt sie dann...? Erhängt? Zu spät... Kirchliches Begräbnis? Male an ihrem weißen Hals. Schräges Licht und schwebender, schwankender Schatten.’
„Das tut mir leid." stammelte ich und ich meinte es mehr als mir in dem Augenblick bewusst war.
Sie nickte nur stumm. Gleichgültig.
Nur ein weiterer Passant, der keine Ahnung davon hat, wie es ist. Wie es ist zwei Töchter zu verlieren. Wie als hätte er meine Gedanken gelesen schweifte sein Blick zurück zum Grabstein- zu den Namen, Jahreszahlen und den beiden Medaillons mit den Photos meiner Töchter - meiner toten Töchter - dann wandte er sich ab, verharrte einen Augenblick zögernd, murmelte etwas wie „Entschuldigung. Ich sollte jetzt gehen." und war im Regen verschwunden.