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Zozo

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04.03.2018
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Zozo

»Warum isst du die Weißen nicht?«, fragt Zozo.
»Die Weißen, die sind gemein«, antwortet Oriol. Er pickt ein Weißes aus der Tüte, legt es quer auf den Daumennagel und schnippt es im hohen Bogen weg. Es fällt mit einem leisen Patsch ins Wasser. Ein Fisch schnappt danach. Kleine Ringe tanzen auf der Oberfläche, der Fisch schlägt kräftig mit der Schwanzflosse und taucht unter.
Die Sonne steht tief und tanzt mit flirrenden Strahlenspitzen auf dem violetten Wasser. Aus den bewaldeten Hügeln ringsum kommt frischer Wind. Der Nachmittag neigt sich dem Ende. Ein löcheriger Vorhang aus graubraunen Wolken zieht vor dem orangeblau gefleckten Himmel auf.
Der Fisch ist aufgetaucht und wackelt einen langgezogenen Halbkreis, bevor er zuckt und untergeht. Kurz darauf dreht sich der helle Bauch nach oben.
Oriol schüttelt den Kopf. »Da war wohl jemand zu gierig.« Durch die schwarzen Strähnen, die ihm über die Stirn fallen, streift sein Blick Zozo, er senkt den Kopf. Zozo starrt auf die Stelle, wo der Fisch im Wasser treibt. Die Strömung unter der Steinbrücke nimmt ihn auf, schaukelt ihn sachte.
»Hast du das gewusst?«, fragt sie. Oriol zuckt die Schultern, dreht den Rücken zum Wasser, stützt beide Hände hinter sich auf die Brüstungsmauer.
»Ist doch egal, oder?«, sagt Oriol und Zozo fragt sich, ob er die Absicht meint oder den Fisch. Er knistert mit der Tüte, greift sich den nächsten Drobs.
»Wer sagt's denn, einmal 'Engelsblau', Teufel nochmal, das brennt auf der Zunge wie Schlumpfscheiße.« Oriol pfeift durch die Zähne, steckt sich den Blauen in den Mund und schnauft wie ein Pferd.
Zozo muss grinsen, weil sie noch nie darüber nachgedacht hat, ob Schlümpfe auch scheißen und ob die Scheiße blau ist, geschweige denn ob die auf der Zunge brennt. Sie weiß, er zieht eine Show ab, aber das ist gerade egal. Zozo sucht seinen Blick.
Oriol schaut über das Wasser, seine Augen wandern zu ihr, er macht den Mund auf und streckt ihr die blaue Zungenspitze raus.
»Du bist echt merkwürdig.«
Mit seinen gelben Pupillen erwidert er Zozos Blick, klappert mit den angespitzten Zähnen und knurrt sie an. Zozo schluckt. Gerade wenn sie sich ein wenig näher fühlt, macht er wieder sowas. Oriol ist speziell. Wie er sie anschaut, wie er redet und was er sagt, fremd ist das, niemand redet so. Nicht da, wo sie herkommt, aber von da kommt er ja auch nicht.
Sie wendet den Blick ab, schaut runter auf ihre nackten Knie. Unter ihren knallroten Lackboots wälzt sich träge der dunkle Fluss zwischen den vermoosten Brückenpfeilern hindurch. Vor der Brücke versinken die letzten Sonnensplitter im schwarzen Wasser.
»Gibt's überhaupt welche, die gut schmecken?« fragt sie.
»Klar, die Roten, hm, nach blutigem Steak … und die Gelben«, sagt Oriol und grinst.
»Wonach schmecken die, was meinst du?«, fragt er.
»Weiß nicht, obwohl warte, Zitrone ..., ganz sicher Zitrone.«
Oriol fletscht die Zähne, hält Zozo die Tüte hin. »Nimm mal eins.«
Zozo fingert in die Tüte, holte ein Gelbes heraus, riecht daran und rümpft die Nase. Sie knabbert ein winziges Stück ab und nimmt es in den Mund. Schnell spuckte sie es aus und wischt über den Mund.
»Alter, ist das widerlich, wer isst so was?«
Oriol kneift die Augen zu und grinst. Er hält die Hand auf. Zozo sagt nichts und legt den Rest vom Gelben auf seine Handfläche.
»Ich … und alle, die so sind wie ich.«
Oriol wirft das Gelbe in die Luft und schnappt es mit dem Mund. Beim Kauen verzieht er keine Miene. Als er rülpst, klopft er mit der Faust auf die Brust und zeigt mit einem Lachen seine blanken Eckzähne.
Er sucht Zozos Blick, kommt dem Gesicht näher, flüstert in ihr Ohr. »Weißt du, ich mag manches, was sonst niemandem gefällt.«
Oriol küsst ihr den Hals, knabbert ein wenig mit den Eckzähnen am zarten Fleisch, Zozos Nackenhaare stellen sich auf, sie hebt das Kinn und dreht den Kopf leicht …

– »Sonja!« –
Zozo tippt zweimal auf die rechte Kante, der UltraVR Helm löst sich von Stirn und Schläfe und klappt auf. Sie blinzelt, schiebt das Teil auf die Station. Mist, sie hat nicht mitbekommen, dass Frau Berger aufgewacht ist.
– »Sonja!« –
»Ist gut, ich komme.« Zozo reibt die Augen, fährt mit den Fingerspitzen über die gerötete Haut der Schläfe. Ihre Hand wandert tiefer, zu der Stelle an ihrem Hals, wo er sie angehaucht hat. Sie spürt dem Ziehen nach, hinunter in die Brust, atmet tief und wartet, bis es aufhört.
Als sie die Tür öffnet, schaut Frau Berger sie mit großen Augen an.
»Sonja, wo bleiben Sie denn?« Der Fernseher gegenüber dem Pflegebett ist auf laut gestellt. Die übliche Vorabend-Quizshow läuft. Das Abendbrot auf dem Tablett ist kaum angerührt.
»Ich war kurz nebenan.«
– »Wie?« – Applaus vom Band brandet auf. Zozo geht zum Pflegebett, wiederholt ihre Antwort und setzt ein Lächeln auf.
»Sonja, gleich kommen die Nachrichten, ich möchte vorher noch auf Toilette.« Der Moderator stellt die nächste Frage, im Sekundentakt zählt ein nervtötender Beeper rückwärts. Zozo atmet laut aus. Sie dreht den Tablettwagen zur Seite, schlägt die Bettdecke zurück, fasst beide Beine an den Unterschenkeln und dreht sie nach vorne. Sie bückt sich, hebt die Pantoffeln auf und steckt sie über Frau Bergers verkrümmte Zehen, dann richtet sie sich auf.
Vorsichtig greift sie hinter die Achseln, eine Wolke aus altem Schweiß nimmt ihr den Atem. Sie hält die Luft an, zieht Frau Berger in den Stand und dreht sie zum Rollstuhl. Als sie umgreift, lässt Frau Berger sich fallen. Zozo hält sie an den Händen fest, so gut sie kann. Die alte Frau stöhnt.
»Der Jerome …, ach schon gut.«
Zozo erwidert leise: »Tut mir leid, aber ich bin nicht der Jerome.« Zozo spürt den Schmerz im unteren Rücken und den aufsteigenden Ärger, sie kennt das, das Stechen wird sie bis morgen begleiten.
Mit kleinen Schritten schiebt sich Frau Berger Richtung Bad, der Rollstuhl rollt gegen den Türrahmen. Zozo zieht ihn zurück, schiebt ihn zur Türmitte. Frau Berger will nicht geschoben werden, sie besteht darauf, alles selbst zu tun, wozu sie noch in der Lage ist. Bevor Frau Berger durch die Tür gefahren ist, schaltet Zozo das Licht an.
Sie geht in die Küche, setzt Teewasser auf und schaut aufs Smartphone. Eine Nachricht. Komme später, Bahn fährt nicht, sorry, bis später, LG Karola.
– »Scheiße!« –
Draußen im Licht der Straßenlaternen tobt Eisregen, heftiger Wind fegt durch die kahlen Zweige der alten Kastanien. Zozo wird den Bus verpassen, der nächste fährt erst kurz vor acht. So lange wird er nicht on bleiben und auf sie warten. Heute Morgen sah es nicht nach schlechtem Wetter aus, sie hat nur eine dünne Jacke. Bis sie zuhause ist, wird sie nass sein bis auf die Knochen.

»Stabil, Alter.« Zozo geht an den Türstehern vorbei in den Club, schlängelt sich durch die Leute. Auf dem Mainfloor wird geshuffelt, eine halbe Treppe drunter liegt die BLCKBX. Zozo hält sich fest, der Bass ist brutal, fetzt ihr durch die Waden. Trettmann Zeugs. Schwarzlicht lässt Zähne und Augen blitzen, tunkt Brillen, Armbänder und Schnürsenkel in grelles Neon. Er wird nicht da sein, sagt sie sich und schaut sich um. Kein Oriol, nur einige ihr unbekannte Vamps. Tief unten in ihrer Jacke hat sie eine halbe Benzo gefunden, schmeißt sie ein und spült mit einem Drink vom nächsten Tisch. Wenig später setzt die Wirkung ein. Auf der Backwall labert ein Influencer, hält schwarze Sneaker und bedruckte Goth-Klamotten in die Kamera, der nächste wirbt für Eckzahnimplantate, product placing speziell für Vamps.
Zozo hebt die Arme, auf dem Floor ist es heiß, ein dampfender Strudel aus Leibern, der sie aufnimmt und in der Mitte ausspuckt. Sie dreht sich im Kreis, saugt das Ultraviolett mit den Augen auf und schließt die Wimpern, hinter ihren Lidern flackerts, ihre roten Lackboots kicken im Takt. Sie atmet schneller, ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Endlich fühlt es sich richtig an, für einen kurzen Moment ist sie nicht lost, sondern ganz bei sich, auch ohne Oriol.
Dann nimmt sie jemand in den Arm, sie lässt die Augen geschlossen, will nicht wissen, wer sie berührt, genießt das Streichen von Haut über Haut. Sie atmet den anderen Duft, fährt mit den Fingern durch unbekannte Haare, lässt sich tragen von Händen und tastenden Fingerspitzen, bis diese zu forsch und zu fordernd werden. Mit einem Ruck löst sie sich, hat genug.
Vor dem DJ versammeln sich die Vamps, eine Sekunde später sind sie im vapor steam verschwunden, es riecht nach Eisen, winzige Schwebteilchen glitzern strahlendweiß im Licht der Scheinwerfer, sinken zu Boden wie ein ausgeworfenes Netz. Dann klart es wieder auf, auf vielen Armen und Köpfen verbleibt ein zarter Raureif aus leuchtenden Partikeln. Durch die Bewegung der Tanzenden bleiben sie in Bewegung.
Oriol ist zwischen den Vamps aufgetaucht, großes ballyhoo, er lacht und lässt seine Eckzähne blitzen. Neben ihm steht eine Rothaarige, er beugt sich hinunter zu ihrem Ohr, nimmt sie in den Arm.
Zozo steht starr, kann sich nicht bewegen, atmet nicht.
Oriol küsst den Hals der Rothaarigen, wie er es vor wenigen Stunden bei ihr getan hat. Die Rothaarige dreht sich zu ihm hin und sie fangen an, einander aufzuessen.
Eine Rakete explodiert in Zozos Kopf. Das Britzeln, das sie hinterlässt, zieht wie tausend Wunderkerzen bis in die kleinsten Nervenenden. Dann spürt sie nichts mehr, der Schmerz in ihr ist ausgebrannt, eine große Leere macht sich breit, wischt über ihre Seele wie ein nasser kalter Lappen.
Nach gefühlten Stunden oder so sind sie fertig und Oriols Blick schweift rüber zu ihr, erschrickt, er löst sich aus der Gruppe, kommt auf sie zu.
»Zozo, es ist nicht so … warte.« –
Zozo reißt sich den Helm vom Kopf und pfeffert das Teil durchs Zimmer. »So eine Scheiße!« Ein Heulkrampf schüttelt sie durch. Der Wecker zeigt ein Uhr achtunddreißig.

»Guten Morgen, Sonja, schöner Tag heute, nicht wahr? Um zehn kommt der Friseur ... Alles in Ordnung bei Ihnen?« Frau Berger sitzt in ihrem Bett, die Decke glattgestrichen und unter die Beine geschlagen. Nachtdienst-Karola ist alte Schule, letztes Jahrtausend, alles neat and clean. Sogar vom Frühstück hat Frau Berger gut gegessen, das Tablett steht noch auf dem Wagen.
»Alles okay, Frau Berger«, sagt Zozo, »ich bin nur ein bisschen erkältet und müde.« In Wirklichkeit ist das Licht zu hell und das Radio zu laut.
»Aha, ein bisschen erkältet also …« Frau Berger schaut sie prüfend an.
»Wollen Sie uns einen Tee kochen, Sonja?«
Die Kastanien vor dem Küchenfenster sind mit sauberem Schnee bestäubt. Tausend dunkle Zweige mit weißen Riesen-Augenbrauen glotzen sie an. Zozo ist froh, dass nicht auch noch die Sonne scheint und alles unecht glitzert. Sie hängt den Teebeutel in die Tasse und stellt sie auf das Tablett vor Frau Berger.
»Bin gestern erst spät zuhause gewesen, weil ich lange auf den Bus warten musste. Und bei dem Wetter …«
»Ja, da muss man sich schon richtig anziehen. Sie stecken mich aber nicht an, Liebes?«
»Nee, Frau Berger, ich bin nur ein bisschen angeschlagen, aber nicht richtig krank. Mir fehlt gerade Zeit zum Durchschnaufen, bei den vielen Vertretungsdiensten ...«
»Sie können sich ja gleich was hinlegen, ich komme schon klar, aber dann auch wirklich ausruhen und nicht wieder das Ding auf den Kopf.« Frau Berger tippt an ihre Schläfe.
Zozo spürt den kalten Stich im Bauch, sie denkt an heute Nacht, an schwarze und rote Haare. Und dann kommt die Wut. Ihr liegt es auf der Zunge, Frau Berger zu sagen, dass sie keine Ahnung hat, wie es ihr geht und was ihr fehlt, weil sie es selbst auch nicht weiß, und dass sie in ihrer Wohnung nichts von der Welt mitbekommt und sich trotzdem rausnimmt, über sie zu urteilen.
»Dabei weiß die einen Scheiß!« Das ist Zozo rausgerutscht, leise zwar, aber sie kann es nicht mehr zurücknehmen, nur noch versuchen, es zu entkräften. »Entschuldigen Sie bitte.« Zozo will nach Hause, will sich einbuddeln in einen riesigen schweren Kissenberg, graben bis zur schwarzen Mitte, und dann das ganze Elend aus sich rauskotzen.
»Schon gut, das ist schon okay. Was raus muss, soll raus, immer.«
Frau Berger schaut sie an. »Es kann sein, dass ich einen Scheiß weiß, wie sie meinen. Ich bin ja schließlich von gestern«, sie zwinkert Zozo zu. »Aber in Sachen Liebe, da kenne ich mich ein wenig aus. Und ich kann es riechen, wenn jemand unglücklich ist.«

Zozo startet im Dungeon, seit Ewigkeiten mal wieder. Sie weiß, wo sie alles findet, Stein raus, Schlüssel blau, holt sich hinter der Tür den Beißer, erledigt die beiden Wachen, Treppe hoch und nichts wie raus. Draußen links, links, rechts, mittig, links, rechts über die Wackelsteine, nach der Landung direkt rollen und springen, den Troll im Dunkeln erwischen und seine Rüstung abgreifen. Drüber damit und upleveln, ping, sie beginnt zu schwitzen, lange nicht mehr dagewesen, aber sie hat's noch drauf.
Hetz, hetz, hetz, den shortcut die schmale Brücke hoch, die roten Harpyien im Anflug aus der Luft angeln, sie verliert durch eine Kralle den Trollhelm, Shit! Und weiter! Durch den Torbogen in den Swamp, Überfall der schmierigen Lizards, durchbattlen, der Beißer läuft heiß, Smaragd von der Brust des Anführers reißen, Rüstung ist auf acht Prozent, Herz vierunddreißig, ping: level up!
Sie ist da, der dritte Baum links war es, fahles Leuchten zwischen den Wurzeln. Zozo bückt sich, greift das Flammenschwert. Als sie den Smaragd in den Griff drückt, glüht das Teil sofort auf wie frisch geschmiedet und stellt den Flammenkranz auf wie ein Gockel den Kamm. Jetzt kann er kommen, der dämliche Fucker, und – surprise – lässt der sich nicht lange bitten. Der Boden bebt, kleine Wellen ziehen durch den Swamp, Bäume werden zur Seite gedrückt wie Grashalme, uff. Dann der grässliche Schrei, aber Sie hat das Flammenschwert, tadaa! Ducken, die gammelige Pranke vorbeizischen lassen, vom liegenden Baumstamm abspringen, Zack, Seite aufschlitzen und dann bääm das Schwert in den Rücken. Der Swampboss ist erledigt. –
Zozo blendet die Hilfstastatur ein und tippt gefühlt fünftausend Mal den de luxe Cheatmove, eine Kombi aus alt, strg, entf und Sonderzeichen, bevor das Flammenschwert aus ihrer Hand verschwindet und im Accountinventar auftaucht. Shüsh, sie hat's geschafft!
Back, back, back durchs Menu, Brücke am Vormittag, die Sekunden, die das Setting geladen wird, hofft sie ..., dann steht sie auf der Brücke, natürlich kein Oriol und auch niemand sonst in der Nähe.
Zozo ruft das Inventar auf, aktualisiert und voila, neben ihren roten Boots erscheint das Flammenschwert. Ein Klick drauf, sofort britzelt es in ihrer Hand. Durch den Smaragd aktiviert sie die Flammen, führt einige Streiche durch die Luft. Das Schwert summt und flammt vom Feinsten. Zozo schaut ins Wasser, der gestern tote Fisch ist wieder da, leuchtet in der steilen Sonne silbrig und glubscht. Sie beugt sich über das Geländer, holt aus und schlägt so stark sie kann übers Wasser. Ein Blitzkaskade entlädt sich und bringt das Wasser zum Blubbern. Der Fisch treibt wieder oben. Perfekt! Zozo lächelt.

»Als ich so alt war wie Sie, bin ich einen ganzen Sommer lang durch Griechenland gereist. Traveln haben wir das damals genannt, ich weiß nicht, was ihr heute sagt, vielleicht dasselbe. Ihr seht euch ja auch viel am Handy und im Internet, soziale Medien und so, das gab es damals noch nicht, hat manches direkter gemacht.
Jedenfalls habe ich im Süden Kretas jemand kennengelernt, einen jungen Mann aus Freiburg, ein Schauspieler, der gerade seine erste Theaterrolle gespielt hatte. Das war der Joe, von Johannes. Und der Joe machte lange Urlaub an einem einsamen Strand, wo es nur eine kleine Taverne gab, die auf einem großen Felsen im Meer stand. Kleinigkeiten zu Essen gab's da und frisch gebrühten Mokka. Der Grieche, dem die Taverne gehörte, fuhr regelmäßig mit dem Boot Vorräte einkaufen und hat die Leute am Strand mit dem Nötigsten versorgt.
Ab und zu gingen welche von den Strandmenschen ins nächste Dorf, wobei Dorf schon übertrieben ist bei nur zwei Handvoll Häusern. Eines davon, das direkt am Anleger, das war eine Pension mit drei Zimmern, einem Briefkasten und einem winzigen Restaurant, da hab ich den kennengelernt. Joe hatte da in einer Abstellkammer seinen großen Rucksack deponiert mit der ganzen warmen Wäsche für Deutschland. Am Strand brauchte er ja nichts, da liefen alle rum wie Adam und Eva. Jedenfalls hat er was aus dem Rucksack geholt oder es gab Post für ihn, ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Und ... wie haben Sie den Typen kennengelernt?«
»Ich bin vom Boot runter und saß kaum, da hat der mich angeschnorrt wegen einer Zigarette. Bisschen verwegen sah der aus, der Joe, mit seinen wilden Locken und dem Ohrring und dunkel wie ein Brathähnchen war der von der vielen Sonne. Normal kann ich Leute, die schnorren nicht leiden, aber der Joe, der war nicht so einer, der hatte eine Art, so offen und zugleich geheimnisvoll. Man konnte ihm einfach schlecht böse sein und ich glaube, das wusste der auch.« Frau Berger lächelt, nimmt einen Schluck von ihrem Tee.
»Beim Rauchen hat er mir von dem Strand erzählt und dann bin ich am selben Nachmittag dahin. Er hat mich schon neugierig gemacht mit seinem Strand, Sweet Water Beach hat er ihn genannt – aber der wahre Grund war nicht der Strand …, natürlich nicht.«
»Kann ich mir denken«, sagt Zozo, ein kurzer Oriol-Stich in der Brust.
Frau Berger streicht mit flachen Händen über die Decke. Ihre Augen schauen in die Ferne, wo das vorbeizieht, was sie damals erlebt hat.
»Schön war's mit Joe, für mich war's das erste Mal, so Hals über Kopf. Der Strand jedenfalls, der war ein Traum, feine weiße Kieselsteinchen und das Süßwasser, das sprudelte an einigen Stellen direkt aus dem Boden. Man musste nur eine Kuhle graben und die Hände reinhalten. So etwa …« Frau Berger legt die Hände übereinander, formt eine Schale. »Das hat gereicht.«
Zozo nickt, sie ist noch nie in Griechenland gewesen, nur in Österreich und Belgien. Zu mehr hat das Geld bisher nicht gereicht, und der Mut auch nicht.
»Wo haben die Leute denn gepennt?«
»Einige wenige direkt vorne am Strand, wo es weniger Mücken gab. Aber die meisten unter einem Felsüberhang weiter hinten, da waren Steine aufgeschichtet, gegen den Wind. Jeder hatte seine kleine Mauer, da haben auch wir geschlafen. Ich kann mich erinnern an viele Abende am Lagerfeuer und wir haben zur Gitarre gesungen und so viel miteinander geredet.
Was soll ich sagen, es blieben noch knappe drei Wochen, bevor ich wegen meines Studiums zurück musste.«
»Hm, blöd ... und dann?«, fragt Zozo.
»Ich flog zurück und Joe ist geblieben. Ich hatte seine Nummer in Freiburg und er hatte mich zu sich eingeladen. Aber daraus wurde nichts. Oben an der Abbruchkante stand eine Pumpstation die das Dorf mit Süßwasser versorgte. Betrieben wurde sie von einem Dieselgenerator, der Tag und Nacht vor sich hin wummerte.
Ob sich durch die Vibrationen ein Teil der Felswand gelöst hat oder ob es andere Gründe gab, wurde von offizieller Seite nie untersucht. Jedenfalls hat der Hangsturz fast alle unter sich begraben, die nahe an der Wand schliefen. Joe hatte es nicht geschafft, er war unter den dreizehn Toten.«
»Shit, das war bestimmt hart.«
»Ja, das war es, damals, aber das ist ja schon eine Ewigkeit her.« Frau Berger schaut in ihre Augen und Zozo spürt, dass noch was kommt.
»Manchmal denke ich noch an Joe und auch an einen bestimmten Abend am Lagerfeuer. Jemand meinte damals, dass er nicht sicher sei, ob er Kinder in die Welt setzen will, wegen der schweren Zeiten, der Überbevölkerung und der atomaren Bedrohung.«
»Hab von der Zeit gehört«, sagt Zozo.
»Joe hat geantwortet, selbst wenn wir alle in einer Katastrophe sterben, ob es denn nicht auf jeden einzelnen Tag ankommt, den ein Mensch auf der Welt lebt und auf die Momente des Glücks. Und ob das nicht reichen würde. Das habe ich nie vergessen.«
Frau Berger wischt mit dem Zeigefinger unter dem Auge lang und blinzelt. Sie hält Zozo die Hand hin.
»Ich bin übrigens die Walli.«
»Äh, und ich die Zozo. Sonja sagt eigentlich niemand zu mir, außer Ihn… äh, dir.«
»Okay, Zozo, weißt du, auf die Gefahr hin, dass ich für dich wieder Unsinn erzähle …, aber sobald die Karola da ist, solltest du zu ihm gehen und mit ihm reden.«
»Sicher, das werde ich, ich werde mich um ihn kümmern.«

Zuhause zieht Zozo den Helm auf, versucht es auf dem Gothyard, es wimmelt vor Vamps. Über die Grabsteine flackert rote Laufwerbung, künstliche Fackeln erleuchten die Wege. Kunstvoll mit rotem Samt ausgeschlagene Särge stehen am Wegesrand, am Fußende ein Messingschild mit kleinem QR-Code. Alles zahlbar in Cryptos.
Aus den Speakern tönt ein Spinett, irgendwas Uraltes, die Vamps gehen total ab, stellen sich in Formation und beginnen mit dem Schreittanz. Fräcke und bauschige Röcke wippen im Takt, weiße Blusen und Hemden leuchten hell aus der Dunkelheit. Die meisten Kragen der Fräcke sind hochgestellt, dazwischen blitzen spitze Zähne beim Lachen.
Die Musik wechselt, ein harter Goth Rave wummert los, sofort zerfällt die Formation in ein wild moshendes Durcheinander. Zozo liebt die Musik, an einem anderen Tag wäre sie schon mittendrin, heute hat sie andere Pläne.
An mehreren Ständen wird Bloodeaux vom Fass ausgeschenkt, Pillen und Drobs. Zozo holt sich einen Drink. »Hier, probier mal!« Jemand tanzt sie an, hält ihr einen Drobs hin, Zozo lehnt ab. Der Typ lacht. »Bist wohl zu schlapp für Silverdrobs ... «
»Zisch ab!«
Zozo hat keinen Nerv, geht weg von ihm, schaut sich um, ob sie wen kennt.
Durch schwarze Beine flackert das Campfire. Dort suchen und finden sich Leute, die Matches erhalten haben. Zozo hält darauf zu, drängelt sich durch Grüppchen, eine Vorahnung schleicht sich an, kriecht ihren Nacken hoch, lässt sie trotz Feuer schaudern. Dann sieht sie ihn. Das piece of vampshit tanzt mit der Rothaarigen im Feuerschein auf der anderen Seite, Funken stieben hoch in den Nachthimmel. Er hält sie an der Hand, sie tanzen cringe Discofox, aber nicht mehr lange! Die Rothaarige dreht sich in Oriols Arm ein und lässt sich von ihm abrüsseln, schlingt die Arme um seinen Hals, wühlt in seinem Haar. Alles schön sichtbar für alle im Lichtkreis des Feuers.
Zozo lächelt kalt, holt das Flammenschwert aus dem Inventar, aktiviert es und geht langsam um das Feuer herum. Die Vamps weichen vor dem Schein des Gebritzels zurück. Oriol sieht Zozo kommen, erschrickt, sein Blick wandert nach unten auf das flackernde Schwert in ihrer Hand. Er rührt sich nicht, wirkt wie gelähmt, aus seinem Gesicht weicht jegliche Farbe. Die Rothaarige stolpert und fällt, kriecht rückwärts in Sicherheit.
Zozo hebt das Schwert mit beiden Händen über den Kopf, die Flammen strahlen heller als das Campfire. Mit großen Schritten läuft sie auf ihn zu, die Zeit scheint stillzustehen, sie genießt die Panik in seinen Augen, lächelt und gibt ihm einen SloMo Luftkuss.
Dann geht alles schnell. Die Klinge schwirrt durch die Luft und bleibt Zentimeter vor seiner Nase stehen. Winzige Blitze schlagen über auf Oriols Gesicht, der vor Schmerz aufschreit. Für einen Moment britzelt das Schwert weiter, dann erlischt es. Oriol fällt in sich zusammen, vorne auf der Hose ein Fleck, wimmernd sinkt er auf die Knie. Zozo hebt das Schwert an, drückt den Smaragd aus dem Griff. Zeit zu gehen.

Zozo sitzt im Zug nach Hamburg. Außer ihr sind kaum Leute im Abteil, neben ihr steht ihr neuer Rucksack. Nach dem Verkauf des Helms ist noch genug übrig für die nächsten Wochen. Überstundenausgleich. Sie bewegt die schmerzenden Füße, die roten Lackboots sind steif, müssen noch eingelaufen werden. Eine Nachricht kommt rein.
Gute Reise wünscht die Walli. Smiley.
Vor dem Fenster fliegen Straßenlaternen durch die Dunkelheit. Die Bäume im Lichtschein haben einen zarten grünen Frühlingsflaum. So grün wie der Smaragd, der an einer Kette um ihren Hals hängt. Zozo schreibt zurück.
Danke, bis bald. LG, Zozo.
Sie fingert in die Seitentasche des Rucksacks, holt aus der Colorado-Tüte einen gelben Frosch mit Schaumzuckerbauch, er schmeckt zuverlässig nach Zitrone. Beim Kauen lächelt sie.
Auf ihrem Schoß liegt das Ticket, sie hat es ausgedruckt. Der heutige Tag steht darauf, die Abflugzeit und die Zeit der Ankunft ein paar Stunden später in einem magischen Ort mit passendem Namen.
Chania klingt für Zozo nach Süden, nach salziger Luft und nach Menschen am Strand.

 
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Hallo @linktofink,

ich habe noch darüber nachgedacht, warum ich über den Jugensprech an den entsprechenden Stellen stolpere, und es ist, weil ich es tatsächlich ungewöhnlich finde, dass der außenstehende Erzähler seine Stimme wechselt. Das ist doch schon speziell, oder? Wenn eine Figur erst in eine Bar geht, dann in ein Büro und am Abend zu seinem/ihrem Partner, dann erzählt doch in der Regel nicht der Erzähler erst wie eine Bar Fly, dann wie ein trockener Bürohengst und abends dann wie im Ehebett vor dem Lichtausmachen. Normalerweise erzählt der Erzähler doch in einer einzigen bestimmten Sprache, seiner Sprache bzw. der, die als Anrede für sein Publikum am besten passt. Oder sehe ich das falsch?

No offense, mich hat einfach nur dein Manöver gewundert - aus technischer Sicht.

Freundliche Grüsse

HK

Nachtrag:

Einerseits zu viel Jugendsprech, andererseits zu zahm zu alt, ich frage mich, was genau ist denn die konkrete Kritik an meinem Text?

Es ist keine Kritik, es ist mir nur nicht klar, an wen sich dein Text richtet. Wenn er sich an Erwachsene richtet, dann stößt du sie mit der Jugendsprache vor den Kopf und verlierst sie auch - zumindest ein Stück weit -, weil dein Erzähler auf sie keine Rücksicht nimmt beim Erzählen. Das ist in gewisser Weise ja auch unhöflich von deinem Erzähler; er stellt sich nicht auf seine Zuhörer ein.

Wenn sich der Text aber an Jugendliche wie Zozo oder deine Tochter richtet, warum ist er dann nicht insgesamt in Jugendsprache geschrieben?

Ich finde, nicht ich widerspreche mir hier, sondern der Text, der Erzähler widersprechen sich. Es wird eine seltsame Sprechsituation geschaffen, in der unklar ist, wer zu wem spricht.

Aber vielleicht übersehe ich hier etwas. Was ist deine Intention als Autor? Was willst du wem deutlich machen? Du sprichst ja nicht von "den Alten die Welt der Jugend zeigen", sondern davon, mit Literatur die Jugend abzuholen, sich nicht nur an Bildungsbürger (wie das Forum hier) zu richten. Ist das also ein Text für ein Schulbuch oder so was? Vielleicht kannst du mir dazu ja kurz was sagen.

 

Lieber @linktofink,

oldschool-Plot in modernem Outfit, sage ich mal: Zozo verliebt sich in den verwegenen, jedoch bindungsscheuen Oriol, ist tiefgekränkt, als sie ihn mit einer anderen sieht, erkennt mit Hilfe von Frau Berger, was "wirklich im Leben zählt", haut Oriol ordentlich auf die Mütze und bricht auf zu neuen Ufern.
Das Teile davon in der virtuellen Realität spielen und damit der linktofinktschen Fabulierfreude wunderbar Platz zum Austoben bieten, hat aber eigentlich auf den Plot keine Auswirkung, oder? Sie könnte genausogut nach Feierabend in Clubs gehen und da auf den untreuen Jungen treffen. Ich mochte das Wechseln zwischen den Ebenen und auch die Sprache in der virtuellen Welt fand ich unterhaltsam und spritzig.

»Warum isst du die Weißen nicht?«, fragt Zozo.
»Die Weißen, die sind gemein«, antwortet Oriol. Er pickt ein Weißes aus der Tüte, legt es quer auf den Daumennagel und schnippt es im hohen Bogen weg.
Zu Beginn denke ich an Kinder. War da nicht mal so eine Gummibärchenreklame?
»Ist doch egal, oder?«, sagt Oriol und Zozo fragt sich, ob er die Absicht meint oder den Fisch. Er knistert mit der Tüte, greift sich den nächsten Drobs.
Der Fisch ist ja auch nicht echt, oder? Das ist virtuell, da stirbt kein Lebewesen, so wie ich das verstehe. Aber Oriel ist, wie Zozo ein echter Mensch der irgendwo lebt? Das hätte mich nochmal interessiert.
Schnell spuckte sie es aus und wischt über den Mund.
»Alter, ist das widerlich, wer isst so was?«
Du hast ja von Anfang an eine große Sinnlichkeit in der virtuellen Welt, die ist mindesten so fühlbar wie die reale Welt, mit Gerüchen, Geschmack, Sex, also da unterscheidet sich nichts. Bisher kenne ich von den Brillen nur den visuellen und auditiven Sinn und ein bisschen Vestibuläres auch über visuelle Reize. Soll das also in der Zukunft spielen? Oder habe ich was verpasst? (Wahrscheinlich)
»Ich … und alle, die so sind wie ich.«
Das macht neugierig, wird aber nicht so richtig befriedigt. Wer oder was ist er denn? Bei Zozo ist es ja schon so, dass sie nicht jemand ganz anderes ist, sondern sie selbst bleibt, wenn auch im Kostüm des Avatars. (Kann man das so sagen?)
Vorsichtig greift sie hinter die Achseln, eine Wolke aus altem Schweiß nimmt ihr den Atem. Sie hält die Luft an, zieht Frau Berger in den Stand und dreht sie zum Rollstuhl. Als sie umgreift, lässt Frau Berger sich fallen. Zozo hält sie an den Händen fest, so gut sie kann. Die alte Frau stöhnt.
»Der Jerome …, ach schon gut.«
Den Schwenk in die reale Welt, den Kontrast, finde ich gut gelungen. Auch, wie anstrengend Frau Berger für Sonja ist. Echtes Leben, toll gezeigt. Da wirkt die virtuelle Welt wie eine schrille Droge.
Mit kleinen Schritten schiebt sich Frau Berger Richtung Bad, der Rollstuhl rollt gegen den Türrahmen. Zozo zieht ihn zurück, schiebt ihn zur Türmitte. Frau Berger will nicht geschoben werden, sie besteht darauf, alles selbst zu tun, wozu sie noch in der Lage ist. Bevor Frau Berger durch die Tür gefahren ist, schaltet Zozo das Licht an.
Ja, auch sehr realistisch. Und was hier Mühe macht und anstrengend ist, charakterisiert Frau Berger schon gut.
»Stabil, Alter.« Zozo geht an den Türstehern vorbei in den Club, schlängelt sich durch die Leute. Auf dem Mainfloor wird geshuffelt, eine halbe Treppe drunter liegt die BLCKBX. Zozo hält sich fest, der Bass ist brutal, fetzt ihr durch die Waden. Trettmann Zeugs.
Die Sprache trennt auch die beiden Welten. Hier tobst du dich ja echt aus, das macht Spaß zu lesen.
Tief unten in ihrer Jacke hat sie eine halbe Benzo gefunden, schmeißt sie ein und spült mit einem Drink vom nächsten Tisch. Wenig später setzt die Wirkung ein.
Jetzt rätsel ich wieder, ob die Benzos zu Hause am Schreibtisch hat.
Vor dem DJ versammeln sich die Vamps, eine Sekunde später sind sie im vapor steam verschwunden, es riecht nach Eisen, winzige Schwebteilchen glitzern strahlendweiß im Licht der Scheinwerfer, sinken zu Boden wie ein ausgeworfenes Netz. Dann klart es wieder auf, auf vielen Armen und Köpfen verbleibt ein zarter Raureif aus leuchtenden Partikeln. Durch die Bewegung der Tanzenden bleiben sie in Bewegung.
Tolle Beschreibung!
Nach gefühlten Stunden oder so sind sie fertig und Oriols Blick schweift rüber zu ihr, erschrickt, er löst sich aus der Gruppe, kommt auf sie zu.
»Zozo, es ist nicht so … warte.« –
Das klingt aber wirklich wie aus einem uralten Roman. Hier fällst du sogar ganz aus dem Sprachduktus, erstaunlich. Absicht?
Die Kastanien vor dem Küchenfenster sind mit sauberem Schnee bestäubt. Tausend dunkle Zweige mit weißen Riesen-Augenbrauen glotzen sie an. Zozo ist froh, dass nicht auch noch die Sonne scheint und alles unecht glitzert.
Das finde ich schön, wie das mit dem vorletzten Abschnitt korrespondiert. Interessant, dass sie die Realität hier in Gefahr sieht, unecht zu glitzern.
»Bin gestern erst spät zuhause gewesen, weil ich lange auf den Bus warten musste. Und bei dem Wetter …«
»Ja, da muss man sich schon richtig anziehen. Sie stecken mich aber nicht an, Liebes?«
Schön, wie die Frau Berger nicht so wahnsinnig sympathisch rüberkommt.
Zozo schaut ins Wasser, der gestern tote Fisch ist wieder da, leuchtet in der steilen Sonne silbrig und glubscht. Sie beugt sich über das Geländer, holt aus und schlägt so stark sie kann übers Wasser. Ein Blitzkaskade entlädt sich und bringt das Wasser zum Blubbern. Der Fisch treibt wieder oben. Perfekt! Zozo lächelt.
Hm. Sie hat erkannt, dass der Fisch sowieso nicht echt ist und übt an ihm?
»Schön war's mit Joe, für mich war's das erste Mal, so Hals über Kopf. Der Strand jedenfalls, der war ein Traum, feine weiße Kieselsteinchen und das Süßwasser, das sprudelte an einigen Stellen direkt aus dem Boden. Man musste nur eine Kuhle graben und die Hände reinhalten. So etwa …« Frau Berger legt die Hände übereinander, formt eine Schale. »Das hat gereicht.«
Ja, diese romantische Geschichte von Frau Berger, ich weiß nicht. Sehnsucht nach "echtem" Leben wecken. An den Tod erinnern, der plötzlich kommen kann, hm. Dazu ist mir das jetzt hier zu idealisiert, zu nah an einer virtuellen Welt.
»Manchmal denke ich noch an Joe und auch an einen bestimmten Abend am Lagerfeuer. Jemand meinte damals, dass er nicht sicher sei, ob er Kinder in die Welt setzen will, wegen der schweren Zeiten, der Überbevölkerung und der atomaren Bedrohung.«
»Hab von der Zeit gehört«, sagt Zozo.
Auch etwas, was Neugier weckt, denn dass das so lange her ist, weist ja auch darauf, dass es "heute" ganz anders ist. Aber es scheint doch im Heute zu spielen, so wie z.B. die Pflege abläuft und die Bahnen fahren oder nicht.
»Joe hat geantwortet, selbst wenn wir alle in einer Katastrophe sterben, ob es denn nicht auf jeden einzelnen Tag ankommt, den ein Mensch auf der Welt lebt und auf die Momente des Glücks. Und ob das nicht reichen würde. Das habe ich nie vergessen.«
Das ist mir jetzt ein bisschen zu pathetischer Allgemeinplatz.
»Sicher, das werde ich, ich werde mich um ihn kümmern.«
Kümmern, sehr schön. :baddevil:
Zuhause zieht Zozo den Helm auf, versucht es auf dem Gothyard, es wimmelt vor Vamps. Über die Grabsteine flackert rote Laufwerbung, künstliche Fackeln erleuchten die Wege. Kunstvoll mit rotem Samt ausgeschlagene Särge stehen am Wegesrand, am Fußende ein Messingschild mit kleinem QR-Code. Alles zahlbar in Cryptos.
Aus den Speakern tönt ein Spinett, irgendwas Uraltes, die Vamps gehen total ab, stellen sich in Formation und beginnen mit dem Schreittanz. Fräcke und bauschige Röcke wippen im Takt, weiße Blusen und Hemden leuchten hell aus der Dunkelheit. Die meisten Kragen der Fräcke sind hochgestellt, dazwischen blitzen spitze Zähne beim Lachen.
Die Musik wechselt, ein harter Goth Rave wummert los, sofort zerfällt die Formation in ein wild moshendes Durcheinander. Zozo liebt die Musik, an einem anderen Tag wäre sie schon mittendrin, heute hat sie andere Pläne.
Tolle Szene. Also sie gibt da ja schon was auf später ...
Zozo hebt das Schwert mit beiden Händen über den Kopf, die Flammen strahlen heller als das Campfire. Mit großen Schritten läuft sie auf ihn zu, die Zeit scheint stillzustehen, sie genießt die Panik in seinen Augen, lächelt und gibt ihm einen SloMo Luftkuss.
Dann geht alles schnell. Die Klinge schwirrt durch die Luft und bleibt Zentimeter vor seiner Nase stehen. Winzige Blitze schlagen über auf Oriols Gesicht, der vor Schmerz aufschreit. Für einen Moment britzelt das Schwert weiter, dann erlischt es. Oriol fällt in sich zusammen, vorne auf der Hose ein Fleck, wimmernd sinkt er auf die Knie. Zozo hebt das Schwert an, drückt den Smaragd aus dem Griff. Zeit zu gehen.
Tja, hat er das verdient? Zeigt es ihre Weiterentwicklung? Du gönnst uns auf jeden Fall hier einen Rachemoment, den ich wirklich gut comicmäßig vor meinem Auge ablaufen sehe.
Sie bewegt die schmerzenden Füße, die roten Lackboots sind steif, müssen noch eingelaufen werden.
Schönes Detail.
Sie fingert in die Seitentasche des Rucksacks, holt aus der Colorado-Tüte einen gelben Frosch mit Schaumzuckerbauch, er schmeckt zuverlässig nach Zitrone. Beim Kauen lächelt sie.
Die Realität ist ja auch nicht immer so zuverlässig. Tendenziell würde ich sogar vermuten, dass die virtuelle Realität zuverlässiger ist.
Chania klingt für Zozo nach Süden, nach salziger Luft und nach Menschen am Strand.
Sie befreit sich von der Sucht und den Illusionen und bricht auf.

Irgendwie kann ich das nicht ganz von der Geschichte ableiten, die Frau Berger erzählt, auch wenn der Freund in Griechenland umgekommen ist. Ich hatte zu dem noch so gar keinen Bezug und das war halt nur erzählt. So ein grundsätzliches Aufgerütteltwerden würde ich vielleicht erwarten, wenn Frau Berger z.B. stirbt. Andererseits ist das Zozo in ihrem Beruf vielleicht auch nicht unbekannt und sie war schon auf dem Weg, sich zu lösen. Da fehlte dann nur noch ein Anstubser und eine Perspektive. Als Thema ist das für mich eher: Ich suche mein Abenteuer nicht bei einem unzuverlässigen Oriol, der sowieso nur halb echt ist, sondern ich mache mich selber auf die Reise, trau mich was.
Dazu würde für mich als Antrieb eher eine andere Geschichte von Frau Berger passen. Was sie alles Aufregendes erlebt hat, warum ihr eigentlich zwei Finger fehlen zum Beispiel.

Aber ich habe mich gut unterhalten und werde einige Vokabeln mal im Alltag einstreuen. ("Na, hier zerfällt die Formation aber gerade in ein wild moshendes Durcheinander ... ")

Liebe Grüße von Chutney

 

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