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- 15.03.2008
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Zombies, Zombies
Nur noch eine Runde, hatte er gedacht. Das war gegen vier Uhr morgens gewesen. Als er zwei Stunden später aufwachte, verband ihn ein dünner Speichelfaden mit der Tastatur, die einen fühlbaren Abdruck auf der Wange hinterlassen hatte. Er stand auf, wischte den Mund ab, schleppte sich taumelnd vor Schlaftrunkenheit in das Badezimmer, putzte die Zähne, schlurfte zurück, zog sich aus und wollte endlich ins Bett kriechen. Da stellte er fest, dass die Wand, die sein Zimmer von der Außenwelt trennte, fehlte.
Sein erster Gedanke war, die Nachbarn können jetzt nackt in Lebensgröße sehen, was ich der Öffentlichkeit bisher erfolgreich vorenthalten habe, der zweite, ich hab zuviel zu wenig geschlafen und es mit dystopischen Ballerspielen in letzter Zeit wohl übertrieben.
Er spekulierte, dass irgend etwas ziemlich abgefahrenes nicht mit seiner Wand geschehen war, sondern in seinem Hirn geschehe, das ihm eine fehlende Wand und hereinsausenden Wind vorgaukelte.
Er wartete ab, dass sich die erste Aufregung legen und ihm etwas schlaues und der Situation angemessenes einfallen würde, stellte kurz darauf fest, dass er nicht aufgeregt war und ihm nichts schlaues einfiel. Aber die nackten Füße kühlten aus, er kroch zwischen die Decken und dachte noch, dass man die ganze Angelegenheit bei Licht betrachten müsse, dann würden sich die Halluzinationen sicher gelegt haben. Mit diesem Gedanken schlief er ein.
Am nächsten Morgen, nachdem er aus dem Schlaf erwacht war und die Augen geöffnet hatte, was sich anfühlte, als hätte ihn etwas aus dem Traum vertrieben und ihm die Augen aufgerissen, war es bereits später Nachmittag.
Die Wand fehlte weiterhin. Sein Blick ging vorbei an verbogenen Eisenstreben, die wie unterarmdicke Stahlschlangen in die Luft ragten, an ausgefransten Betonrändern vorbei zu dem Hausgebirge der Innenstadt, das er weniger sah als dass er es durch eine Art Schleier eher erahnen konnte, der wie ein ockerfarbener Sandsturm in der Luft hing und die Sicht zu den Häusern drei Straßen weiter schon stark einschränkte, sodass die dortigen Häuser nur noch schemenhaft sichtbar waren.
Auf dem breiten Flachdach der Großküche gegenüber seines Hauses wanderten ockerfarbene Silhouetten scheinbar orientierungslos umher, sie liefen am Rand des Daches entlang, als suchten sie einen Weg hinunter und wüssten nicht mehr, wie sie heraufgekommen waren.
Da er schon mal wach war, angelte er sich die Pantoffeln unterm Bett hervor, schlüpfte hinein, ging in die Küche der kleinen Wohnung, machte Kaffee und legte Aufbackbrötchen in den Herd. Beim Herumstöbern in den virtuellen Weiten entdeckte er keine Meldung über herausbrechende Wände in deutschen Großstädten, nichts von Sandstürmen, die untypischer Weise die norddeutsche Ebene durchzogen, auch nichts von Typen, die sich auf Dächern rumtrieben.
Er setzte sich an den Tisch, dessen Rückseite jetzt, seitdem die Wand nicht mehr da war, an die Luft grenzte, verspeiste barbarisch dick mit Marmelade bestrichene Brötchen, trank tiefschwarzen Kaffee und beobachtete die ockerfarbenen Schemen bei ihrer planlosen Dachwanderung.
Manchmal, wenn sich ockerfarbene Schemen auf ihren Wegen zufällig trafen, begannen müde, träge Zweikämpfe wie in Zeitlupe. Er beobachtete einen Kampf, der sich mehrere Minuten hinzog, bis die Kontrahenten vom Dach fielen; wahrscheinlich aus Langeweile.
Die Szenerie belebte sich etwas, als eine Silhouette mit einem Brett die Entfernung zum Baugerüst des Nachbarhauses überbrückte. Brav und langsam wie sedierte Schafe, die durch einen Pferch getrieben werden, trotteten die Schemen einer nach dem anderen über das Brett und kletterten die Baugerüstleitern hoch und hinunter.
Die, die nicht heruntergefallen waren, zerschlugen Fensterscheiben und stiegen in Wohnungen ein. Er hörte langanhaltende, spitze Schreie, die von wohligem Grunzen und dumpfen Schmatzgeräuschen geschluckt wurden.
Er ging ins Bad und putzte die Zähne, betrachtete sein Gesicht und überlegte, ob er sich rasieren sollte, aber dann fiel ihm der stationäre Sandsturm ein oder was das war und er verschob die Rasur auf nächste Woche oder die Zeit nach dem Sandsturm, je nachdem welches Ereignis später einträfe.
Zurück im Zimmer wurde die Luft für einige Augenblicke glasklar. Er sah eine junge Frau im geblümten Nachthemd mit einer Geschmeidigkeit durch ein zerschlagenes Fenster fliehen, die er Menschen, die Geblümtes tragen, nicht unbedingt zugetraut hätte. Hinter ihr mehrere vergammelt aussehende Typen.
Taffes Mädel, dachte er und drückte unwillkürlich die Daumen. Als sie barfuß aufs Gerüst sprang, direkt in Scherben hinein, biss sie sich nur kurz auf die Unterlippe und lief humpelnd zu der nächsten Leiter.
Tapfer, tapfer, dachte er. Und sah, dass von der höheren Ebene, wo die Leiter hinführte, einer dieser Dreckstypen gerade dabei war hinunterzuklettern.
„Vorsicht, da kommt einer!“, rief er.
Das Mädchen blickte ihn kurz an, sah zur Leiter, überlegte einen erstaunlich kurzen Moment aber so was von hochkonzentriert, er hätte schwören können die Luft um sie herum vibrierte vor jugendlicher Brillianz: Sie sah seine Position, begriff sofort, dass er sehen kann was sich auf der höheren Ebene abspielt, überlegte ob sie ihm trauen könnte, kam zum Schluss, keine andere Wahl zu haben, nickte ihm dankend zu und humpelte zur anderen Leiter, die nach unten führte.
„Ist die sicher?“, schrie sie und zeigte auf die andere Leiter. Er nickte. Mit neuem Mut sprang sie auf die Sprossen und kletterte los.
„Ich drück dir die Daumen!“, rief er.
Und wendete den Kopf ab, als schmutzige Finger durch ein zerschlagenes Fenster nach ihren weißen Waden griffen, sie in die Wohnung zogen und... das konnte er schon nicht mehr sehen.
„Neeeeeeiiiiiiiiiiin!“, schrie sie.
„So ein Mist!“, fluchte er.
Ihn packte die kalte Wut mit einem akuten Ausbruch von ein Mann muss tun was ein Mann tun muss – er zog sich Laufkleidung an, in der er sich geschmeidig und superheldenhaft fühlte, steckte das Handy in die schmale Seitentasche der Laufhose, rückte den Tisch an die Wand, trat an den Rand des Zimmers, stemmte seine Arme in die Hüften und blickte mit der lächelnden Grausamkeit des Scharfrichters, der seinen Job einfach gern macht, auf die vor ihm liegende, wieder vom Sandsturm verhüllte Urbanität.
In seinem Kopf so vage flackerndes Gedankenzeug wie ich kille ockerfarbene Schemen oder ich rette wahnsinnig hübsches kluges empathisches weibliches Subjekt vor ockerfarbenen Schemen.
Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, überlegte was er mitnehmen sollte, nahm die stets geladene Elefantenbüchse seines Urgroßvaters von der Wand, hängte sich zwei großkalibrige Patronengurte nach mexikanischer Art über die Brust, bepackte einen kleinen Laufrucksack mit Energieriegeln und –getränken.
Vom Nachbarhaus waren panische Hilferufe und jäh abbrechende, unartikulierte Schreie zu hören. Ihm wurde ein bisschen unwohl, er konnte sich nicht erklären warum, etwas verlegen durchstreifte sein Blick das Chaos des Zimmers.
Als er den Kalender sah, fiel ihm auf wie lange er den Frühlingsputz schon hinausgezögert hatte und entschied, dass es jetzt endlich Zeit sei, das Versäumte nachzuholen. Das hübsche junge Ding ist eh schon tot, sagte er sich, da muss ich nun nicht alles stehen und liegen lassen.
Er entstaubte erst das Putzzeug, schwang dann Feutel, Wischlappen und Staubwedel und putzte die ganze Wohnung, zumindest die Zimmer, die noch vier Wände hatten.
Zwei Stunden später hatte er sich durch wahnhaftes Schrubben an mehreren prekären Stellen der tatsächlichen Farbe der Objekte angenähert, ausführlich mit beiden Kakteen gesprochen und fühlte sich dementsprechend erschöpft, aber glücklich, wie man sich nur fühlt, wenn man etwas lang aufgeschobenes endlich erledigt hat.
Er setzte sich zur – wie er fand – wohlverdienten Pause, sah auf die Armbanduhr, glaubte die angezeigte Zeit nicht, tippte mehrmals gegen das Gehäuse, schüttelte den Arm auf Handgelenkhöhe neben seinem Ohr, als würde er im Supermarkt Überraschungseier prüfen, hatte dann die naheliegende Idee, die ihm wie ein unglaublich heller Geistesblitz vorkam, die auf der Armbanduhr angezeigte Zeit mit der von der Küchenuhr zu vergleichen, er verglich und stellte fest, dass beide nur zwei Minuten auseinandergehen, was in seiner Weltsicht normalerweise als Gleichzeitigkeit durchging, aber aus irgendeinem Grund brachte ihn diese Zeit so sehr aus der Fassung, dass er auch gegen das Gehäuse der Küchenuhr tippte wie ein Affe, der einen Trick gelernt hatte, um an Bananen heranzukommen.
Natürlich änderte das nichts an der angezeigten Zeit, selbst dem von der Wand holen und schütteln gegenüber verhielt sich die Uhr störrisch und zeigte weiterhin die von seiner Armbanduhr fast genauso angezeigte Zeit an, woraufhin er die Uhr wieder an die Wand hängte, mit den Achseln zuckte und sich dachte, na gut, dann ist es eben Kaffeezeit.
Er kochte sich einen Kaffee, beschmierte Brote mit pervers dicken Honigschichten, setzte sich wieder an den Tisch in seinem Zimmer, ärgerte sich über die Aussicht, denn seitdem er den Tisch verrückt hatte, stand der zur Wand hin und er sah missmutig auf diese Wand.
Nachdem er fertig gegessen hatte, klickte er wieder durch Nachrichtenportale, las von über die Menschheit hereinbrechenden Zombiehorden, deren Auftreten unerklärlicherweise von stationären Sandstürmen begleitet war, las von seinem Zimmer und dass eine Wand während der letzten Nacht herausgebrochen war, was er mit einem zufriedenen „hab ich’s doch gewusst!“ quittierte.
Er doppelklickte auf das Symbol eines dystopischen Ballerspiels und vergnügte sich damit, Zombies, Faschisten oder Taliban – so genau wusste er es nicht, auf jeden Fall aber erzböse Viecher, so viel war mal sicher – auf vielerlei Art und Weise zu zerlegen.
Nebenbei ließ er den Livestream eines regionalen Radiosenders laufen, dessen Reporter in Hubschraubern über der Stadt kreisten und aufgeregt vom Vordringen der Zombies und den Gegenmaßnahmen von Polizei und Armee berichteten.
Während des Spiels, genauer gesagt während der Ladezeiten, schaute er immer mal wieder über die Dächer. Einmal sah er einen Helikopter am Himmel kreisen, dessen Rotor einen freien Blick auf die Dachlandschaft ermöglichte.
Das Nachbarhaus war verstummt und sah trübe durch zertrümmerte Fenster, auf dem Baugerüst lagen Körperteile, angefressene Leichen, Blutlachen und –spritzer. Hätte in meinem Spiel sein können, dachte er.
Später weckte rotorange flackernder Schein seine Aufmerksamkeit, wieder kam ein Helikopter, der eine Ladung Sand oder Wasser über dem Flackern auskippte. Dem folgten eine halbe Stunde später weitere Hubschrauber und einige dieser niedlichen kleinen Löschflugzeuge. Er hörte eine Weile genauer zu was der Livestream an Informationen verklickerte.
Der Reporter berichtete von einer in Flammen stehenden Innenstadt, berichtete von Massakern, die Zombiehorden an Menschenhorden verübten, berichtete von Säuberungen, mit denen Menschenhorden Zombiehorden eindämmten, berichtete von einer neuerlichen Krise im Liebesleben Brangelinas und rief zum Schluss die Bürger auf, die Ruhe zu bewahren, auf keinen Fall ihre Wohnungen zu verlassen und niemandem die Tür zu öffnen, schon gar nicht wenn diese Niemande behaupteten, verschollene Enkel oder Freunde zu sein und vor allem nicht, wenn durch die Gegensprechanlage ekliges Schmatzen oder dumpfes Grunzen zu hören war.
Mittlerweile begann es zu dunkeln und er hatte auf einmal einen Moment der Erkenntnis, weil er auf die Fassade des gegenüberliegenden Hauses blickte und kein Licht in den Fenstern sah, weil niemand Licht machen konnte, weil vielleicht alle aufgefressen worden waren, begriff er, dass diese ganze Zombiegeschichte eine verflucht ernste Sache war, dass Menschen gebissen und sogar gefressen wurden, während er herumsaß und virtuelle Bösewichte tötete.
Ich muss aufhören mir etwas vorzumachen und den Tatsachen ins Auge sehen, dachte er. Ich befinde mich in einem Zombiefilmszenario. Irgendein ein Superschurke oder vielleicht auch nur ein weichschädliger Idiot hat das falsche Sprüchlein gezischelt und die Toten aller Gottes- und Germeindeäcker mit unheiligem Leben erfüllt. Oder ein furchtbarer Chemieunfall, der das Trinkwasser verseucht und den die Regierung viel zu lang vertuscht hat, sorgte für die Zombiefizierung der Bevölkerung. Woran es auch liegen mag, in solchen Situationen braucht die Menschheit eine besondere Figur, einen, der dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten aus der Masse herausragt, der der aktuellen Gestalt des ewigen Bösen aufs gehörnte Haupt prügelt und dessen strahlende Heldenaura der bedrängten Menschheit Mut macht.
Einen Zombiefilmheld. Mich.
Er zog ein superlanges und –festes Seil unter seinem Bett hervor, stellte sich an die offene Zimmerseite, knotete das Ende des Seils um einen Eisenträger, holte tief Luft und wollte eben mit dem Abstieg beginnen, da klingelte es an der Tür.
Der potentielle Held legte das Seil weg, ging zur Gegensprechanlage und nahm den Hörer ab.
Zuerst hörte er den typischen Straßenlärm einer Großstadt im Ausnahmezustand: Sirenen, Schreie, Schüsse. Er beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, nicht das Zimmer genommen zu haben, das zur Straße hin lag. Dann hörte er einen unsauber artikulierenden Typen, der sagte, dass er sein Enkel sei und fragte, ob er ihn bitte einlassen könne.
Er überlegte einen Moment, bevor er antwortete, dass er keinen Enkel habe.
„Oh“, - ungefähr zehn Sekunden Pause - , „sicher?“, hakte der ungebetene Besuch nach.
„Ja.“
Dann Schweigen. Er hängte den Hörer auf. Sein Mitbewohner durchbrach die Stille.
„Ey Alex, wer warn das?“, fragte der.
„Ein schlampig artikulierendes Subjekt, das sich als mein Enkel vorstellte. Erwartest du wen?“, fragte Alex.
„Pizzaservice.“
„Der wars nicht.“
„Okay.“
Alex ging zurück ins Zimmer, knotete sich das Seil um die Hüfte und kletterte die Fassade hinab. Immer ein Schritt nach dem anderen, hochkonzentriert auf seine Bewegungen achtend und fast genauso viel mentale Kraft dafür aufwendend, den acht Meter entfernten Boden zu ignorieren. Es klingelte wieder an der Tür.
Alex erschrak. Alex hielt inne. Alex rief.
„Karl! Mach auf! Ich bin beschäftigt!“
Keine Antwort. Der hört mich nicht, dachte Alex und wartete ab, ob Karl sich von selbst in Bewegung setzen würde. Es klingelte wieder, mit dem langanhaltenden, enervierenden Quäken ihrer Türklingel. Dreimal. Aber aus der Wohnung kam keine Reaktion. Keine Chance.
Alex schlang sich das Seil um das rechte Handgelenk, fingerte mit der linken das Handy aus der Seitentasche, tippte mit der Nasenspitze die Nummer seines Mitbewohners und ließ den Ruf rausgehen.
„Wasn?“, fragte der.
„Biste taub oder was? Es klingelt Sturm, Mann!“
„Du hast gut reden - dein Zimmer ist nach hinten raus! Du machst dir keine Vorstellung wie laut so eine Zombieinvasion sein kann. Ich hatte die Musik halt n bisschen lauter.“
Alex rechter Arm, mit dem er seinen Körper in der waagerechten hielt, zitterte vor Anstrengung.
„Schon gut, schon gut. Geh einfach und mach die Tür auf, okay, Karl?“
„Würd ich gern machen. Aber ich kann grad nicht.“, sagte Karl.
Es quäkte wieder, laaaaaang, kurz, kurz, kurz, laaaaaaaang, kurz, kurz, kurz. Alex glaubte den Refrain eines Sommerhits erkennen zu können.
„Was soll das heißen, du kannst nicht? Geh einfach und drück auf den Summer.“
„Wir überfallen grad ne gegnerische Corp, da werden alle gebraucht. Ich bin seit gestern Schwadronführer – kannste dir das vorstellen? Schwadronführer! – und das ist sozusagen meine Bewährungsprobe.“
Kurz, kurz, laaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaang.
„Das muss der Pizzaservice sein!“, versuchte es Alex.
„Scheiße, Tyco, du kannst doch den Dreadnought nicht mit Lasern beharken! Nimm die Hellfires, verdammt!“, rief Karl.
„Was?“, rief Alex.
Keine Antwort. In der Etage über seinem Zimmer öffnete sich ein Fenster. Frau Groß streckte den Kopf raus. Von Alex’ Warte sah es aus, als würde ihr Schildkrötenkopf aus der Fassade wachsen.
„Können sie bitte mit dem Krach aufhören?“, quengelte sie.
„Nein“, entgegnete Alex, „es klingelt und Karl weigert sich die Tür zu öffnen.“
„Och, der spielt bestimmt wieder sein Massive-Multiplayer-Online-Game“, sagte Frau Groß, „den kriegen sie jetzt nicht vom PC weg - und wenn sie noch so viel lärmen.“
„Hauptsache ihr seid alle so wunderbar gelassen! Nur zur Info: Unsere Welt geht grade den Bach runter.“
„Weiß ich doch. Das ist aber noch lange keine Entschuldigung für Ruhestörung! Was machen sie da überhaupt mit dem Seil an unserer Hauswand?“, fragte Frau Groß. Sie verfolgte den Weg des Seils. „Und warum ist die Wand herausgebrochen? Das sieht ja schlimm aus bei ihnen!“
Alex schüttelte den Kopf. „Vergessen sies!“, rief er.
Kurz, kurz, kurz, laaaaaaang, laaaaaaang.
„Geh ran!“, ächzte Alex ins Telefon.
„Tut mir leid Alex, wirklich, aber hier sind Dreadnoughts quasi aus dem Nichts aufgetaucht, die müssen Tarnschilde oder so was haben. Ich kann jetzt echt...“
Karls Stimme wurde von dem Tut-Tut-Tut einer unterbrochenen Leitung abgelöst. Alex steckte das Handy wieder in die Tasche und kletterte fluchend ins Zimmer zurück.
Laaaaaaaaaang, laaaaaaaaaaaaaaang.
Als er die Zimmertür öffnete, um zur Gegensprechanlage zu laufen, sah er dass die Wohnungstür bereits offen war. Aus dem Treppenhaus grunzte eine Stimme, die Alex bekannt vorkam „Haaallo, it’s Teatime! Hier kommt dein hungriger Enkel. Schön, dass du mich doch reinlässt.“ Schweren Schritts schleppte er sich die Treppe hinauf. Alex fühlte den Magen flau und die Knie weich werden, ein unangenehmes Gefühl, er wusste gar nicht wofür das gut sein sollte.
„Karl, wir kriegen Besuch!“, rief Alex.
„Ach ne. Wer glaubst du hat ihm die Tür geöffnet?“
„Es nennt mich Opa.“
„Ja, wird dein Enkel sein. Er sagte dass du ihn erwarten würdest.“
Vor sein inneres Auge zogen Bilder von jagenden, fressenden Zombies, die ihn zu überwältigen drohten. Mit zittrigen Fingern griff er nach der Elefantenbüchse, wollte sie entsichern, fand den Hebel nicht auf Anhieb. „Ich bin nicht mal dreißig, du Esel. Wie sollte ich Großvater sein?“ Mehrere Sekunden Stille.
„Gehst halt das nächste Mal selbst ran!“
Er wollte grade was erwidern, da sah er den Zombieschädel im Hausflur auftauchen.
„Da bist du ja!“, rief der Zombie, „und das Essen hast du gleich mitgebracht!“. Er lief erstaunlich schnell die letzten Stufen hoch und auf ihn zu. Seine blutunterlaufenen Augen waren vor Gier geweitet, der Mund stand halb offen, ein dünner Speichelfluss rann aus dem linken Mundwinkel, die bläuliche Zunge leckte über schartige gelbe Zähne.
Alex entsicherte das Gewehr, hob den Lauf, zielte auf den Oberkörper und drückte ab. Der Rückstoß ließ ihn in die Wohnung zurückstolpern, wo er über Schuhe fiel, das Gewehr verlor, mit dem Kopf gegen die Wand prallte und ohnmächtig wurde.
Zuerst spürte er wie etwas seine Haut bespritzte, er fühlte ungeschickte Hände nach seinem Hemd greifen und eine erbärmlich schlecht zu verstehende Stimme, die widerlich schmatzte und leise fluchte. Alex geriet in Panik, schlug die Hände weg und versuchte rückwärts zu kriechen, erfolglos, da hinter ihm die Wand war.
„He, Alex ruhig, schhht. Alles in Ordnung. Du hast das Monster weggeballert.“, versuchte Karl ihn zu beruhigen, legte ihm die linke Hand auf die Schulter, mit der rechten hielt er eine Brezel, von der er nebenbei abbiss.
„... der Rückstoß der Wumme hat mich in die Wohnung zurückgetrieben, dann wurde auf einmal alles schwarz...“
„Du hast ne kleine Beule am Hinterkopf. Nichts ernstes. Dagegen müsstest du Mal den Zombie sehen. Wuuuhuuu, der klebt überall im Treppenhaus, ich sag dir“, schmatzte Karl.
Er half Alex hoch, legte seinen Arm über seine Schultern und brachte ihn zum Bett, wo er ihm vorsichtig beim Hinsetzen half.
„Erhol dich erst mal. Leg dich hin, ich mach dir einen schönen Tee.“
Alex wunderte sich über Karls Fürsorge, folgte der Aufforderung aber, weil er im Moment so durcheinander war, dass die Beine hoch und den Kopf aufs Kissen legen das sinnvollste zu sein schien. Er befühlte die Schwellung am Hinterkopf. „Hier, bevor ich’s vergesse“, sagte Karl, huschte noch mal ins Zimmer und stellte Alex’ Elefantenbüchse neben das Bett.
Aus der Küche pfiff der Teekessel. Karl ging hin und kam kurz darauf mit einer weißen Kanne, einem Becher und einem kleinen Teller mit Gebäck auf einem Tablett zurück. Er stellte das Tablett hin, schob einen Bürostuhl ans Bett, setzte sich, bot Alex einen Keks an und nahm sich selbst einen.
„War da nicht mal ne Wand?“, fragte er, nachdem er sich im Zimmer umgeschaut hatte.
„Klar war da ne Wand. Seit letzter Nacht nicht mehr“, antwortete Alex.
„So so“, sagte Karl im Tonfall desjenigen, der wichtigeres zu tun hat, als mit einem Bettlägerigen Konversation zu führen.
„Ich vermute das hängt mit der Zombieinvasion zusammen“, spekulierte Alex.
„Ja, mit der Zombieinvasion, schon möglich...“
„Immerhin sind es zwei unglaubliche Ereignisse, die parallel auftreten. Auch wenn mir bisher keine Kausalität aufgefallen ist.“
„Einen direkten Zusammenhang sehe ich auch nicht. Aber es ist schon ein ungewöhnliches Zusammentreffen bizarrer Ereignisse, da gebe ich dir recht.“ Karl rutschte unruhig auf dem Stuhl herum.
„Du musst hier nicht sitzen, nur weil ich ne Beule habe“, sagte Alex.
„Ne ne, ist schon okay“, wiegelte Karl ab.
„Musst du nicht grad, äh... Weltraumpiraten oder so was abschießen?“
„Ne, grad nicht.“
„Versteh ich nicht. Du warst doch vorhin nicht mal für die halbe Minute vom Rechner wegzulocken, die du benötigt hättest, um die Tür zu öffnen... die du dann aber anscheinend doch geöffnet hast...“, sinnierte Alex, „stimmt überhaupt! Wars das schlechte Gewissen oder wie kams zum Sinneswandel?“
„Na ja...“, fing Karl den Satz an und wusste anscheinend nicht wie er ihn beenden könnte.
„Los, spucks schon aus!“
„Ich kann nicht ins Netz. Die Stromversorgung ist lahmgelegt.“
„Wurden die Hauptleitungen von Zombies durchgenagt oder wie?“
„Anscheinend haben marodierende Banden des extremen Spektrums die Elektrizitätswerke besetzt und die Stromzufuhr unterbrochen“, berichtete Karl, „das hat zumindest ein Typ vom Haus gegenüber behauptet.“
„Hä? Und was soll das?“
„Das hat er nicht gesagt... Wahrscheinlich haben die einfach die Gunst der Stunde genutzt, um ein bisschen Revolution zu spielen.“
„Während einer Zombieinvasion!“, rief Alex.
„Hast ja recht“, stimmte Karl zu, „so ganz nachvollziehbar ist es nicht. Na ja, so sitzen wir Mal schön zusammen. Wir wollten doch schon immer so einen gemütlichen Kaffeeklatsch machen, darüber sprachen wir doch schon, oder?“
„Karl, das war vor zwei Jahren, als ich eingezogen bin...“
„Hm... zwei Jahre! Schau einer her.“
Karl goss Tee in die Becher, tauchte einen Keks in die heiße Flüssigkeit und krümelte, als er ins weiche Gebäck biss. Es dämmerte. Alex stand auf, zog eine dicke weiße Altarkerze von einem halben Meter Länge unter dem Bett hervor und steckte sie in den Kerzenhalter. Beide schwiegen jetzt, guckten in den Abend hinaus, schlürften Tee und knabberten Gebäck. Ein Hubschrauber, der ein paar Straßen weiter gekreist war, flog in ihre Richtung, schien dann in der Luft stehen zu bleiben und richtete seine Strahler auf das von den Zombies verwüstete Haus, aus dem jemand „Hiiiilffeeeeeee! Hiiiilllfffeeee!“, rief.
„Oh!“, sagte Karl.
„Jetzt geht das schon wieder los“, stöhnte Alex und griff unwillkürlich nach der Elefantenbüchse.
„Wart doch ab.“
Ein abgerissener, gehetzt wirkender Typ floh durch ein Fenster auf das Baugerüst, sah sich kurz um und rannte zum Brett.
„Haltet ihn!“
„Das Zombieschwein haut ab!!“
„Der entkommt uns nicht!“
Mit wenigen Sekunden Abstand folgten mehrere schwarz vermummte Gestalten, sprangen mit einer Geschmeidigkeit, die weder Karl noch Alex überraschte, aufs Fensterbrett und von da aus aufs Gerüst, dann liefen sie hinter dem Zombie her.
„Ne gute Sicht hast du hier“, kommentierte Karl.
„Kann man sagen.“
Der Zombie war erstaunlich schnell für jemanden seiner Art. Geschickt wich er Blutlachen aus, umkurvte Körperteile und sprang über Leichen. Offensichtlich war er jedoch nicht gewitzt genug, den Ausgang vom Dach zu finden. Bald hatten ihn die Vermummten eingekreist. Der Zombie hätte springen sollen.
Seine Verfolger vergaßen in ihrer Begeisterung die mitgebrachten Schlagwerkzeuge und schlugen und traten auf den zombifizierten Körper ein, bis sich der nicht mehr regte.
Dann machten sie sich über den leblosen Körper her, rissen Extremitäten ab, pissten auf den Torso. Einer schwenkte einen abgerissenen Arm, rief „ab heute wird zurückgebissen!“, und schlug seine Zähne in das Fleisch.
Karl und Alex stellten ihre Teetassen ab.