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Zoe
„Kauf dir doch mal so ein Handy, dann erreicht man dich wenigstens“, sagte mein Vater noch, dann legten wir endlich auf.
Ich zog mein grünes Wollkleid an, zu kalt für die Jahreszeit, griff meine Schlüssel und zog eine Jacke aus dem Kleiderhaufen neben der Tür. Ich fror schon bei den Fahrradständern.
Die Galerie war nicht geheizt, natürlich, hier stellten Studenten aus und Leute wie der verrückte Jörg. Die Galeristen konnten sich keine Heizung leisten. Ich stellte mich in die von der Tür am weitesten entfernten Ecke. Wenigstens zog es hier nicht.
Auf den kleinen Zeichnungen um mich herum waren menschliche Figuren zu sehen, nebeneinander sitzend, oder einer saß und der andere stand eben auf. Immer waren sie halb voneinander abgewandt oder starrten gemeinsam einen Punkt außerhalb des Bildes an. Jemand trug einen Pullover, fein gezeichnet, mit Norwegermuster, die übrige Gestalt war aber nur eine Kontur, am Gesicht aufgerissen.
Das Bild, vor dem ich stehen geblieben war, zeigte eine Hand, an der drei Finger fehlten. Vor der Hand lag ein Messer. Vor dem Messer lagen drei Finger.
„Hast du von Julia gehört?“, hatte mein Vater am Telefon gefragt. „Hat sie sich bei dir gemeldet?“
Die Betreuerin hatte ihn angerufen. Es war nicht das erste Mal, dass meine Schwester verschwand. Vermutlich eine Panikattacke. Sie hatte die Tabletten abgesetzt, das machten ja alle ab und an. Dann hielt sie sich für ein paar Tage versteckt, in einer Pension irgendwo im Schwarzwald oder draußen, im Wald, unter einer Brücke, wer weiß, bis sie sich sicher fühlte, bis die Angst oder die Psychose abklang, je nachdem, wie man das sah.
Vielleicht war es aber auch etwas anderes. Vielleicht war es diesmal geschehen. Das, wovor wir uns am meisten fürchteten. Wovon wir nicht sprachen. Vielleicht hatte sie es geschafft. Hatte genug Tabletten und Verzweiflung in sich. Hatte sich in einen Wald gelegt oder vielleicht auch einfach in ihrer winzigen Wohnung ins Bett. Ob es sinnvoll wäre, die Polizei einzuschalten, ihre Tür aufzubrechen? Vielleicht kam sie ja wieder. Da sollte alles in Ordnung sein, wie sie es zurückgelassen hatte, sagte mein Vater.
„Vielleicht hat sie sich ja bei der Mutti gemeldet.“ So hieß meine Mutter noch zwischen meinem Vater und mir, gut zehn Jahre nach der Scheidung.
„Hey!“ Hinter mir stand Marco, neben ihm Monique, die Künstlerin. Hinter den beiden jemand, den ich, schien mir, kannte, an dessen Namen ich mich nicht erinnerte, und dazwischen eine kleine Frau mit unglaublich krausem Haar in einem viel zu weiten Kleid.
„Grit! Ich wollte dir doch Zoe vorstellen“, sagte Marco, „Zoe, das ist Grit.“
Zoe, die Frau, in die er sich im Sommer verliebt hatte. Monique hatte ihn deswegen rausgeworfen. Er schlief bei Freunden oder zog heulend durch die Straßen, ritt im Galopp durch alle Phasen der Liebe. Irgendwann stand er wieder vor Moniques Tür, da war sie schon voll mit der Ausstellung beschäftigt. Marco strich die Wände der Galerie, und wir kamen nach und nach vorbei und hörten uns die ganze Geschichte an. Jetzt stand er grinsend zwischen Monique und Zoe.
Ich spürte in meinem Rücken die Zeichnung mit den drei abgeschnittenen Fingern. Keine eigentliche Zeichnung, Monique hatte vielmehr von beschichteten Blättern das Schwarz weggekratzt, bis diese Zeichnungen erschienen, die in karierte Schulhefte gezeichnet schienen. Family Tree nannte sie das Ganze: eine Familiengeschichte. Dabei war bei ihr, soweit ich wusste, alles in Ordnung.
Jemand reichte mir einen Becher Weißwein.
Vielleicht hatte meine Mutter mich inzwischen angerufen, falls mein Vater sie erreicht hatte. Oder meine Schwester hatte eine Nachricht hinterlassen. Vielleicht konnte ich ihr helfen, wer weiß, in einer Sache, die die Eltern nicht erfahren sollten.
Ich dachte an meinen Anrufbeantworter, trank schnell und begann mich zu verabschieden, indem ich alle, die ich kannte und auch ein paar, bei denen ich mir nicht sicher war, nacheinander in den Arm nahm. Mit Zoe hatte ich noch kein Wort gewechselt. Als ich ihr unsicher zunickte, hob sie leicht die Arme an. Ich ging auf sie zu und drückte sie kurz an mich, wie man das so machte, ein gegenseitiger Druck, man lässt los, kurzes Nicken und weiter.
Aber da kam kein Gegendruck von ihrer Seite, keine Umarmungsbewegung mit Anfang und Ende. Zoe wurde in meinen Armen flüssig: als wären ihr Hals, ihr Haar, ihr kleines, kühles Gesicht, als wäre ihre dünne Gestalt aus Wasser, unaufhörlich abwärts fließend, ihre Arme strömten meinen Rücken hinunter; oder es war ich, die in ihren Armen zerfloss. Sie war ein wenig kleiner, ein bisschen schmaler in den Schultern und sie hörte nicht auf, zwischen meinen Armen hindurchzurinnen. Ich musste mich setzen. Da war ein Stuhl. Hatte den jemand für uns hingestellt? Ich lehnte meinen Mund an ihren, das war ein Anker, denn unsere Beine waren schon ganz durcheinander und in die Röcke unserer Kleider verwickelt. Ich öffnete die Augen. Um uns herum war so viel Platz und dann stand Marco da und grinste uns an, ein paar Leute starrten oder versuchten, nicht zu starren. Zoe und ich standen auf. Sie lächelte, und ich ging.
Im Treppenhaus, zwischen dem zweiten und dritten Stock stand eine Frau und rauchte, dabei trank sie Kaffee aus einer kleinen roten Tasse. Ich nickte ihr zu, sie lächelte. Ich spürte meine Haut noch, wie sie meinen Körper umgab, nicht wie ein fest geschnürter Sack, sondern weich und in ständiger Bewegung.
Aber kaum, dass ich die Wohnungstür aufschloss, stand alles still. Vom Treppenhaus konnte ich durch den winzigen Flur in das Zimmer sehen, in dem der Anrufbeantworter auf dem Fußboden stand. Das rote Licht blinkte nicht. Keine Nachricht. Meine Schwester hatte sich nicht gemeldet, nicht bei meinen Eltern, nicht bei mir. Wäre ich doch in der Galerie geblieben. Ein leichtes Flirren auf der Innenseite der Arme erinnerte mich an Zoes abwesenden Körper. Ich schlief schlecht, wachte auf in der Überzeugung, das Telefon hätte geklingelt. Als ich nachsah, stand der Anrufbeantworter auf seinen achtunddreißig alten Nachrichten. Ich hatte geträumt.
In den nächsten Tagen rief Marco an, ob alles in Ordnung sei, meine Mutter, die auch nichts wusste, und schließlich ein Architekt, der eine größere Übersetzung anfragte.
Mein Endlosfaxgerät spulte zehn Meter Vertragstext auf den Teppich. Ich hatte wieder Arbeit und verbrachte die Tage in der Bibliothek. So spät es eben ging, kehrte ich abends zu meinem nicht blinkenden Anrufbeantworter zurück. Am Ende der Woche dann eine Nachricht, aber nicht von meiner Schwester. Es dauerte einen Moment, bis ich die Stimme zugeordnet hatte: Marco hatte Zoe meine Nummer gegeben. Ich spürte sofort wieder das Fließen in meiner Haut.
Ich traf sie in einem Café, meine Tasche verbeult von dem zerknitterten Vertrag. Sie rauchte unaufhörlich, redete viel mit ihrem rauen Akzent. Ich rauchte mit, redete mit, alles, was mir einfiel. Wir gingen zu der Wohnung, in der sie ihr Zimmer hatte: ein Bett, ein Tisch, ein kleines altes Sofa und zwei Stühle. Als Schrank dienten Regale und eine Kleiderstange neben der Tür. Ihre Zeit in Deutschland war fast vorbei, der Job beendet und kein anderer in Sicht. Wir rauchten noch mehr, sie hatte Whiskey da. Wir saßen auf einem winzigen Sofa, aber da war immer noch Platz zwischen uns, zwischen unseren Schultern und Armen. So leicht wir uns in der Galerie in die Arme gesunken waren, so viel schwieriger schien es hier. Meine Schultern und Ellenbogen waren mir im Weg, die Knie eckig, der Zwischenraum, der zwischen uns auf dem Sofa saß, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, wie ein ungebetener Gast, der unaufhörlich redet. Wir sprachen über alles Mögliche, nur nicht über diesen Raum, der immer lauter wurde. Ich hielt es kaum aus, wollte schon aufstehen und gehen, als Zoe mit der Rückseite ihrer Hand über meinen Oberarm fuhr. Ich wandte mich ihr zu. Ein Dröhnen von Steinen, die einen Hang hinunterrollen, Felsen, die in den Abgrund stürzen, weil der Gebirgsfluss sich ein neues Bett geschaffen hat. Ich neigte mich vor sie zu küssen.
Wir zogen uns gegenseitig aus unseren Kleidern, strampelten uns aus der Unterwäsche, kichernd, dann wieder ernst.
Dann stand sie mir gegenüber, nackt.
Ein Frauenkörper, dem meinen so ähnlich. Anders als die Männer, an die ich mich gewöhnt hatte. Die Haut, sagte Zoe später, die Haut ist der größte Unterschied. Immer wieder strich ich mit den Fingern über ihren Bauch, über ihre Brust und seitlich am Hals herauf zu ihren Wangen.
Die Haut war es, nicht nur weicher, sie schien Licht anders zu reflektieren, in den Kuhlen über dem Schlüsselbein zum Beispiel, oder auf der Landschaft ihrer Hüfte, wenn sie auf der Seite lag: ein weicher Schimmer. Ich staunte über ihre Gelenke, ich nahm ihre Beine in meine Hände und wog sie. Sie ließ mich machen, eine Weile, knurrte dann leise, wie ein kleiner Hund und zog mich zu sich. Ihre Hand fuhr über meinen Rücken. Unsere Beine verwickelten sich. Wir küssten uns, und weil alles an ihr klein war, hatte sie auch eine ganz kleine Zunge, klein und kühl. Das übereinander Gleiten, Streicheln, sich Verwickeln und Entwirren, alles schien kein Ende zu nehmen, kein Ziel zu haben. Ich würde meinen, ich hätte die Nacht ganz ohne Schlaf zugebracht, wenn ich mich nicht an diesen Traum erinnerte: Ich stand in einer Grotte am Meer. Das seichte Wasser leuchtete hellgrün, der Fels schimmerte golden. Da waren auch andere Menschen, saßen und lagen auf den Steinen und ich ging in das Wasser, immer weiter, es wurde tiefer und tiefer, und als ich nicht mehr stehen konnte, ging ich trotzdem weiter. Das Wasser stieg über meinen Kopf, und ich ging auf dem Boden des hellgrünen Meeres spazieren, ohne Angst: Ich hatte verstanden, dass ich unter Wasser atmen konnte.
Als ich aufwachte, brachte Zoe einen Kaffee aus der Küche.
Ich fuhr von ihrer Wohnung direkt zur Bibliothek, schlug dort den ganzen Tag in den Wörterbüchern Fachbegriffe für Bauverträge nach und kam erst abends heim. Der Anrufbeantworter blinkte. Marco fragte, ob ich mit ihm und Monique ins Kino gehen wollte und mein Vater, wo ich denn sei, er müsse dringend mit mir sprechen.
Ich rief ihn sofort an. Julia war nicht aufgetaucht. Sie war auch nicht tot aufgefunden worden. Ich konnte dieses Gefühl nicht deuten. Enttäuschung? Eher eine verpasste Erleichterung. Aber wie könnte es eine Erleichterung sein, zu wissen, dass meine Schwester tot war?
Mein Vater berichtete, was er von der Betreuerin hatte: Drei Tage nach ihrem Verschwinden hatte meine Schwester Geld abgehoben, das hatte die Betreuerin in den Kontoauszügen gesehen. Jetzt war der erste November vorbei, das Geld, das meine Eltern ihr jeden Monat überwiesen, war auf ihrem Konto und sie hatte es nicht angerührt.
Die Polizei brach die Wohnungstür auf. Die Betreuerin ging hinein. Die Wohnung war unordentlich und offensichtlich nicht mehr benutzt. Tabletten in allen Schubladen, schmutzige Wäsche auf dem Bett. Ihre Haarbürste wurde für die DNA-Bestimmung mitgenommen.
Mein Vater hatte auch mit dem Polizisten gesprochen. Der kannte Julias Diagnose.
„Netter Mann“, sagte mein Vater.
Wenn sie sich im Wald mit Schlaftabletten vergiftet hatte, so der Polizist, würde man sie früher oder später finden. In einer Nadelwaldschonung eher später, das konnte Jahre dauern. Hatte sie sich allerdings in einem der Baggerseen in der Nähe ihrer Wohnung ertränkt, so würde man ihre Leiche vielleicht nie finden, denn die Kiesablagerungen konnten einen menschlichen Körper für immer bedecken.
Lange war sie meine große Schwester gewesen, aber mit einem Meter fünfundfünzig hatte sie aufgehört zu wachsen, und ich habe sie dann langsam und ohne es zu wollen überholt. Jetzt sah ich ihren dünnen Körper im Kies versinken, im Dickicht unter Nadelbäumen liegen, ungeschützt, und sehnte mich danach, selbst unter Wasser zu sein und nie mehr auftauchen zu müssen.
Ob wir jemanden wüssten, bei dem sie vielleicht untergekommen sein könnte, hatte der Polizist gefragt. Freunde, aus der Schule vielleicht.
Uns fiel niemand ein.
Als ich Marco und Monique vor dem Kino traf, stand Zoe bei ihnen. Wir berührten uns den ganzen Abend nicht, bis wir wieder in ihrem winzigen Zimmer standen.
„Findest du das nicht eklig?“, fragte sie.
„Was?“
„Na, mit einer Frau!“
Ich stand vor ihr, meine nackten Brüste berührten ihre.
„Nicht ekliger als mit einem Mann.“
Sie lachte. Ich hob sie hoch, setzte sie aufs Bett und ließ mich wieder ins Meer sinken. Die Wasseroberfläche schimmerte in großer Ferne über unseren Köpfen. Mitten in der Nacht wachte ich auf. Etwas hatte mich geweckt, ein Bild oder ein Gedanke. Ich sah meine Schwester auf dem Waldboden liegen, am Rande einer Lichtung, unter einem Baum. Sie trug wie immer eine dunkle Jacke, die dünnen Beine steckten in formlosen Jeans. Ihr Haar stand wie elektrisiert vom Kopf ab, eine Folge des Waschzwangs. Ihre offenen Augen waren starr. Sie war tot. Hatte ich das geträumt? Ich lag steif neben Zoe, die ruhig atmete. Ich wollte mich bewegen, aber ich konnte nicht einmal einen Finger rühren. Vielleicht war in Wirklichkeit ich gestorben, und nicht sie. Ich schloss die Augen und öffnete sie. Ein leichtes Gewicht senkte sich auf meine rechte Schulter. Zoes Hand. Sie fuhr über mein Schlüsselbein und verharrte auf meiner Brust. Ich atmete wieder. Wir drehten uns zueinander, sie strich das Bild des Waldes von meinen Augen.
Als ich am nächsten Morgen zu meiner Wohnung hinaufging, drehte sich die Frau zu mir um, die wieder am halboffenen Fenster rauchte und dabei ihren Kaffee trank.
„Jetzt kommen die heim, die ein Laster haben“, sagte sie und drehte sich zum Fenster zurück. Ich starrte sie an, was meinte sie? Hatte sie „ein Laster“ gesagt oder vielleicht „einen Laster“? Ich nickte ihr zu und ging weiter. Warum überhaupt rauchte sie im Treppenhaus?
Der Anrufbeantworter wie immer unbewegt: 38 alte Nachrichten. Wochen vergingen, der Wind riss die letzten Blätter von den Bäumen. Die Kleider meiner Schwester waren mehrfach vom Regen durchnässt und von der Sonne getrocknet worden, jetzt wurden sie von buntem Laub bedeckt. Auch ihr Gesicht verschwand unter den Blättern, die im nächsten Regen braun und schwarz wurden und zu einer kalten Masse verklebten. Wenn sie denn tot in einem Wald lag, was ich, ohne es mir einzugestehen, bereits mehr hoffte als fürchtete.
Ich traf Zoe fast jeden Abend. Solange wir draußen waren, mit Freunden oder allein, verhielten wir uns wie oberflächliche Bekannte. Sie setzte sich gegenüber von mir an den Tisch; nie saßen wir nebeneinander. Erst verstand ich es nicht, wollte zumindest heimlich ihre Hand fassen können, aber dann gefiel es mir. Jeden Abend sah ich sie aus dieser Entfernung an, als hätte ich sie eben kennengelernt. Jeden Abend wusste ich nicht: würde sie mich in ihr Zimmer einladen? Würden wir uns berühren, verwickeln, die Kleider vom Leib reißen? Oder würde sie mich zu meinem auf der Zahl 38 erstarrten Anrufbeantworter zurückschicken? Ich lehnte mich zurück und betrachtete ihre Ohrringe mit den kleinen blauen Steinen oder das blaugeblümte Tuch in ihren Haaren, den nebelblauen Lidschatten. Ich sah ihr zu: Wie sie sprach, sich Marco zuwandte, ihr Glas hielt oder schwenkte. Erst als wir auf der Straße standen, als Marco und Monique oder Jörg, Heiko und Julie oder wie immer sie hießen sich verabschiedet hatten, bot ich ihr an, sie ein Stück nach Hause zu begleiten, oder sie lud mich auf einen Whiskey ein. Immer war ich erleichtert, wenn sie die Zimmertür hinter uns schloss. Nun war es nur eine Frage der Zeit, bis eine von uns mutwillig den Raum zwischen uns zum Einsturz brachte.
Neben ihrem Schreibtisch standen zwei Umzugskartons, die sie mit ihren Büchern füllte. Zu Weihnachten wollte sie bei ihren Eltern sein und sich im neuen Jahr einen Job und eine Wohnung suchen. Immer häufiger klingelte ihr Handy, und immer häufiger verließ sie das Zimmer, um nebenan fast flüsternd zu telefonieren. Dabei verstand ich kein Wort Griechisch. Ich verstand aber, dass es jemanden gab, dort in Griechenland, der auf sie wartete, vielleicht eine andere Frau, vielleicht ein Mann. Einmal sagte ich: Ich komme dich in Athen besuchen, vielleicht schon im Februar. Da antwortete sie, dass Februar zu früh sei, die Zimmersuche schwierig, man wüsste doch noch gar nichts. Ich nickte. Was ich denn Weihnachten mache, wechselte sie das Thema.
Das hatte mich mein Vater auch gefragt. Meine Schwester war jedes Jahr zu den Eltern gereist, Heiligabend bei der Mutter, der erste Weihnachtstag beim Vater oder umgekehrt. Mir war das Fest zuwider: Streit, Geschrei und Türenknallen, und dann unweigerlich übertriebene Dankbarkeit beim Auspacken der Geschenke. Ich blieb seit Jahren über die Festtage in der ausgestorbenen Stadt. Irgendjemand fand sich immer, oder ein Kino war noch am vierundzwanzigsten geöffnet. Aber ohne meine Schwester, und die Eltern lebten in verschiedenen Städten – wer soll sich da noch streiten, dachte ich.
Ich kaufte mir ein Zugticket für den dreiundzwanzigsten und meldete mich für Heiligabend und den ersten Weihnachtstag bei meiner Mutter, für den zweiten Feiertag bei meinem Vater an.
Am zweiundzwanzigsten druckte ich den französischen Vertragstext aus und schob ihn durch mein Faxgerät. Im Elektrohandel ließ ich mir mein erstes Handy aufschwatzen. Zu Hause packte ich den Anrufbeantworter und warf ihn in den Müll. Dann ging ich mit Zoe zum Abschied essen. Wie immer nach dem Abend in der Galerie berührten wir uns nicht in der Öffentlichkeit. Sie saß mir gegenüber, ihr blauer Pulli rutschte über die Schulter. Noch einmal gemeinsam über den Meeresgrund spazieren, noch einmal die nackten Füße im Sand, dachte ich, während ich in einem hippen Thaigericht herumstocherte. Noch einmal die kalte Stadt vergessen, die ausfallenden Züge, Weihnachten, Telefon und Faxgerät. Die Außenwelt war ein heller Fleck hoch über uns und kräuselte sich im Wind.
Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich sie vermissen würde, dass ich sie hierbehalten wollte, also verabschiedete ich mich vor ihrem Haus, indem ich meine Arme um sie legte, sie kurz und fest an mich drückte und wieder losließ: eine Geschichte, die einen Anfang hat und ein Ende.
Am nächsten Tag ließ sie sich von Heiko, der ein Auto hatte, zum Flughafen fahren. Ich packte meine Tasche. Kalte Wolken hatten sich über der Stadt zusammengeballt. Im leeren Treppenhaus roch es nach Zigaretten, und als ich auf die Straße trat, fing es an zu schneien. Bald würden die ersten Züge abgesagt werden.
Das Laub bedeckte ihre Kleider, ihre Hände, ihr Gesicht. Durch das leere Geäst fielen die ersten Flocken. Eine feine Schneeschicht legte sich auf den Waldboden und die sauber gefegten Wege, wurde dichter und füllte die Unebenheiten des Bodens aus. Von einem toten Körper zwischen den Bäumen keine Spur.
Ich gab mir einen Ruck, stieß mich mit beiden Füßen ab und schwamm hinauf, auf das Licht zu, das sich von mir zu entfernen schien. Ich trat mit den Füßen nach unten, musste doch die Oberfläche erreichen. Der Druck auf die Brust nahm zu, mein Oberkörper zuckte. Ich schnappte laut nach Luft. Als ich die Augen öffnete, sahen mich der Mann und die Frau über die neueste Ausgabe des Bahnmagazins hinweg besorgt an. Ein ungewohntes Geräusch hatte mich geweckt. Da war es wieder: Mein Telefon klingelte.