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Zirkusfrühling

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08.01.2002
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Zirkusfrühling

Der Fremde bleibt mir ein Rätsel. Lange, bevor er an den Gitterstäben entlang streift, kriecht mir sein Geruch ätzend in die Nase.
Ich rieche weder Trockenwald noch Savanne, keine sengende Sonne, auch kein Wasserloch, hier gibt es nichts, dem ich vertraue.
Nur die an meinem Käfig vorbeiziehenden Pferde schlagen mit ihren Hufen einen schwachen Duftfaden herauf. Saftige Halme tief verborgen unter unerklärlichem Gestank.
Dem Fremden begegnete ich vor vielen Sommern. Er muss mächtiger sein als ich. Es gab keinen Kampf zwischen uns und doch bin ich seitdem in diesem kalten Land, dessen Gerüche ich nicht kenne und dessen Töne in meinen Ohren vibrieren, aber kein Wissen verschaffen.
Ich spüre den trüben fragenden Blick der anderen, die so ratlos sind wie ich.

Irgendwann am Tag kann ich durch einen Tunnel in einen großen Käfig schlüpfen. Aus dem Sandboden steigt der Geruch von tausend Hufen, Zehen und Pranken empor. Die Gitter sind so weit entfernt, wie ein alter breiter Baum in meiner Heimat Schatten werfen kann.
Der Fremde treibt uns mit Lauten wie Papageiengekeife auseinander. Keiner versteht ihn. Und doch ahnen wir, dass wir kein Rudel bilden sollen.
Ich wüsste gern mehr über die beiden anderen. Aber besonders über die Löwin und zu wem sie gehört.
Eine magere Schlange schnalzt sirrend an mein Ohr. Der Fremde brüllt.
Löwen brüllen nur, wenn ein Kampf vermieden werden soll.
Der Fremde verweigert sich, will sich nicht mit mir messen. Bin ich seiner nicht würdig? Was für eine Bedeutung habe ich, wenn ich nicht kämpfe, fauche ich. Meine Augen halten ihn fest.
Die Schlange trifft mich blitzartig an meiner Flanke. Es schmerzt. Er will, dass ich den Sandboden verlasse und auf einen kalten glatten Baumstumpf steige. Die anderen haben bereits ihre kleinen Anhöhen erklommen.
Meine Pranke schlägt nach der Peinigerin. Sie schnellt gehorsam zum Fremden zurück, ehe ich sie fangen kann und trifft meine Schulter, bevor ich merke, dass sie zurückgekehrt ist.
Der Fremde keift und stampft und ergreift einen langen Stock. Die Spitze sticht gegen meine Brust. Ich weiche nicht.
Die Augen der Löwen ruhen auf meinem Rücken. Ich spüre die Löwin. Mein Blick verengt sich, vor mir nur noch die Grimasse des Fremden.
Der Stock kippt zu Boden, weil ich mich rückwärts bewege. Der Fremde glaubt ich steige auf den befohlenen Platz. Wie unzählige Male zuvor. Hinter mir kein Schnaufen, kein Atemzug. Nur das leise Knirschen unter meinen Pranken als ich mich blitzartig zum Absprung drehe und in gestrecktem Bogen in das Gesicht des Fremden fliege. Ich werfe ihn mit meiner Körperlast zu Boden. Schlage meine Krallen in ihn. Er röchelt heißen Atem.
Mit kraftvollem Sprung verlassen die beiden Löwen ihre Plätze und landen an meinen Flanken. Ein dicker Wasserstrahl fährt auf uns nieder, soll uns vertreiben.
Wasser war nie unser Feind. Sie wissen nicht viel von uns.
Rufe und Schreie gellen herüber. Vor dem Gitter tobt eine Horde Fremder, wie lärmende Affen. Für uns waren Affen schon immer unwichtige Kreaturen.
Der Fremde zappelt so vergeblich wie eine sterbende Antilope. Nasser Sand spritzt in mein Gesicht, der Wasserstrahl bohrt sich in mein Fell, brennt eisig.
Es gibt keinen Kampf ohne Schmerz. Ich kenne den Preis, hier, wie überall.
Ich bohre meine Zähne in das Fleisch.
Als ich mit blutigem Maul hochblicke, treffen mich die Augen der Löwin. Sie thront immer noch hoch oben. Rasch blickt sie zur Seite. Aber ich habe bereits ihre Zustimmung gewittert.

 

Moin lakita,
ich habe nie ein Haustier gehabt (meine Mutter hatte Angst vor Hunden und wahrscheinlich mit uns fünf Kindern, meinem Vater und seiner Schwester, sowie ihren Lebensmittelladen, genug zu tun) und von daher auch keinerlei Beziehung zu Tieren. Zirkus finde ich abartig und in den Zoo gehen zumindest grenzwertig (obwohl da inzwischen wohl einiges an Sinneswandel passiert ist und durchaus auch positives für Tiere bei rum kommt).
Lange Vorrede und jetzt zum Text. Ganz ehrlich, der Löwe wirkt wie ein Mensch und ein Löwe ist kein Mensch. Das als Ich-Erzählung zu gestalten, ist zumindest grenzwertig. Letztlich kam es bei mir (und ich vermute mal, dass du das keineswegs beabsichtigt hast) sehr pädagogisch an.
Ich würde nicht so weit gehen und wie Quinn die Geschichte in Grund und Boden zu kritisieren und schon gar nicht, ihr die Empfehlung absprechen zu wollen (das ist nun mal eine Lesermeinung und wenn jemanden das zu „gefährlich“ ist, muss es andere Regelungen geben, die z.B. eine Geschichte nur mit eine Dreier- oder Vierempfehlung in den KG-Olymp hieven zu können), die angesprochene Grundproblematik sehe ich allerdings schon.
Wie gesagt, ich habe keine Erfahrung mit Tieren und auch kein Bedürfnis danach, aber ist es nicht so, dass Tieren häufig menschliche Eigenschaften „untergeschoben“ werden, weil es für uns einfacher ist, das zu kapieren und die Befindlichkeiten der Tiere nachvollziehen zu können? Keine Ahnung.
Ansonsten: Stilistisch fand ich nicht die großen Mängel, die Quinn anführt. War für mich so ganz angenehm zu lesen.

Herzlichst Heiner

 

Hallo Quinn,

ich kenne dich aus Kommentaren als sehr kompetenten Kritiker, ich hatte mir in den zwei Monaten die ich hier bin, schon manchesmal gewünscht, dass du mal bei einer meiner Geschichten vorbeischaust, weil man wegen der Exaktheit deiner Beobchtungen und vielem anderen mehr sehr viel von dir lernen kann. Das Quäntchen Quinnsche Entrüstung, das würde ich liebend gerne i Kauf nehmen.
Und natürlich bin ich irgendwo beeindruckt, wenn jemand wie du sagt, mit der Empfehlung habe man einen Fehler gemacht.
Ich habe deshalb auch noch mal ganz genau geschaut, wie meine Begründung lautete, denn deine Anmerkungen konnte ich z. T. nicht nachvollziehen. Deshalb würde ich auch ganz gerne dazu was schreiben, obwohl es nicht direkt an lakita geht.

1. Wenn man verhindern will, dass jemand, der weder mit dem Schreiben noch mit dem Kommentieren sehr viel Erfahrung hat, wohl aber beides sehr sehr ernst nimmt, dann sollte man das Empfehlungsprocedere abändern. Ich gestehe gerne zu, dass man auch beim Gut-Finden oder beim Empfehlen einer Geschichte sich täuschen kann. Ich habe manche empfohlene Geschichte gelesen, die ich bescheuert fand. Ich fände es daher absolut in Ordnung, wenn man zukünftig, wie Heiner schrieb, zwei Empfehlungen für eine Geschichte aussprechen müsste oder sich schon eine Zeitlang hier hat seine Sporen verdienen müssen, bevor man eine Geschichte empfehlen darf.
Ich wollte mit meiner Empfehlung absolut keinen Wirrwarr anrichten oder Unfrieden stiften, ich hab es mir auch nicht leicht gemacht, so nach dem Motto, empfehlen wir doch einfach mal nen Text oder so. Im Gegenteil.
Was ich leider nicht gut gemacht habe, das ist die inhaltliche Begründung.

2. In meiner Begründung habe ich zwei Punkte angesprochen:
Die Sichtweise aus der des Löwen und 2. wie das scheinbar kontrollierte Naturwesen am Schluss den Kontrolleur tötet. Was ich so gut fand in der Geschichte, das ist vor allem der zweite Punkt. Aus der Sichtweise des Löwen zu schreiben, das habe ich immer nur als Vehikel gesehen, um Punkt zwei an den Mann zu bringen. Die Tierliebe oder die Belehrung, beides steckt wohl auch in der Geschichte drin - sie stehen aber für mich gar nicht im Vordergrund. Ein anderer Kommanetator hat es anders und wohl besser ausgedrückt als ich:

Es ist für mich der Zusammenbruch einer Idee von zivilisatorisch abgesicherter Kontrolle, wenn das Raubtier den Dompteur erlegt. Die dienstbar und kommerziell nutzbar gemachte Naturgewalt wendet sich zerstörerisch gegen ihren vermeintlichen Beherrscher - man vergleiche den berühmten Zauberlehrling oder einfach einen über die Ufer tretenden begradigten Fluss. Dass die Menschen zuletzt, mittels Affen-Vergleich, in einen inferioren oder zumindest gleichgültigen Bereich geschoben werden, rundet das Bild ab.

Ich befürchte zwar, lieber Quinn, dass du auch diese Begründung für nicht nachvollziehbar hältst, weil du ganz grundsätzlich diese Sichtweise ablehnst. Was ich bei deinen Hinweisen richtig finde, das ist, dass es schwer sei, aus der Sicht des Löwen zu schreiben. Dass man das nicht könne. Damit hast du völlig Recht. Es wird und kann niemals gelingen, man wird immer nur eine menschliche Vorstellung davon beschreiben können. Wenn man sich dessen aber ganz genau bewusst ist, warum soll man diese Sichtweise nicht nutzen können, als ein Transportmittel, um diese eigentliche Idee (derSieg der Naturgewalt) an den Mann zu bringen?


Es würde mich sehr interessieren, was du dazu sagst. Du klingst sehr entschieden und so, als ob so ein Ansatz immer scheitern müsse. Du gehst sogar so weit, dass man eigentlich keinen Ich-Erzähler benutzen könnte, der nicht im selben Alter sei wie der Autor, das gleiche Geschlecht habe usw. Das klingt so, als könne man als Ich-Erzähler immer nur sich selbst wählen? Ist dann nicht jede personale Erzählweise unmöglich? Jeder Innere Monolog?
Was ich völlig korrekt finde, das ist, dass man immer von dem schreiben sollte, was man weiß und kennt und recherchiert hat.
Du schreibst sogar, es sei Arroganz, aus dieser Sichtweise zu schreiben. Wenn alle Autoren demütig wären und nichts wagen würden - na du liebe Zeit. Ich glaube ohnehin nicht, dass Arroganz/Hochmut usw. die passenden Begriffe sind, um Vorzüge oder Mängel eines Textes zu diskutieren. Jedenfalls ist es keine Kategorie, die mich auch nur ansatzweise verstehen lässt, warum dieser Ansatz niemals gehen kann und zum Scheitern verurteilt ist.
Das würde ich aber sehr gerne wissen. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn du da noch was dazu sagen könntest.
Liebe Grüße Novak

 
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Hallo Quinn,

wusst ichs doch, dass du dich zu dieser Geschichte, nachdem sie in die Empfehlungen gelangte, noch äussern wirst. :D

Was soll ich dir auf deine vernichtende Kritik erwidern?
Danke dafür, dass du deiner Wut freien Lauf gelassen hast. Dein gutes Recht, diese Geschichte in Grund und Boden zu rammen und ich bin beruhigt, dass hier auf kg so etwas möglich ist.
Ich bin aber auch froh, dass nicht DU unser Webmaster bist, denn nach dieser Kritik wäre ich entweder gesteinigt worden oder gnädig am Leben gelassen von dieser Internetseite verbannt worden, nicht wahr? :D

Du brauchst dir keine Sorgen machen. Noch keine einzige Empfehlung meiner Geschichten hat bei mir das Gefühl ausgelöst, nun sei ich eine vollendete und gute Schriftstellerin. Dazu bedurfte es deiner Totalab(an)sage gar nicht.


Für mich stellt sich nicht die Frage, ob man aus der Sicht eines Tieres schreiben darf. Ich glaube, da vergaloppierst du dich etwas oder sollte ich besser sagen: da gingen die Pferde mit dir durch? Wut ist kein guter Ratgeber.
Ich betrachte es als Herausforderung, aus der Sicht von Tieren zu schreiben. Ebenso aus der Sicht anderer Menschen. Immer, denn wie könnte ich je ein anderer Mensch sein oder gar ein Tier, ist es meine ureigene Übersetzung dessen, was ich wahrnehme, erkenne und in meine Worte übertrage. Immer ist es mein subjektives Erleben und Darstellen.

Das kommt dann bei dem einen als gelungene Darstellung an, beim anderen als dilettantische Lächerlichkeit. Und beide haben sie Recht.

Es geht mir um die Frage, wie tief man in das Tier oder den Menschen hineinschlüpfen kann, also wie gut es einem gelingt, die Eigenheiten des Wesens hervorzubringen und in Worte zu kleiden.
Dass sich da bei meiner Geschichte die Kritikergeister scheiden, finde ich spannend und informativ zugleich.
Interessant finde ich, dass es in der Literatur jede Menge Romane gibt, die komplett aus der Sicht des Tieres geschrieben wurden. Ich denke z.B. an Stefanie Zweig: "Katze fürs Leben", Hanna Johansen und Hildegard Müller "Ich bin hier nur die Katze" und Peter Mayle "Das Leben ist nicht fair", Mayle schreibt aus Hundesicht.

Alles angenehmst zu lesende Bücher, die sich ernsthaft bemühen, die Tiersicht einzunehmen, aber und das ist der große Unterschied zu meiner kleinen Geschichte, es sind Romane, die mit einem schelmischen Auge auf das Wesen des Tieres und sein Zusammensein mit dem Menschen blicken. Vielleicht ist gerade der Ansatz, eine bitterernste Geschichte aus der Sicht eines Tieres zu schreiben, der große Unterschied, der den Leser kritischer hinschauen lässt.

Insoweit bin ich dankbar, dass du mich so heftigst wegen meiner Geschichte angreifst.

Hallo Heiner,

auch dir danke ich sehr dafür, dass du deine Meinung zu meiner Geschichte mitgeteilt hast.
Wie ich schon oben schrieb, scheinen sich die Kritiker in zwei (sich hoffentlich nicht duellierende )Lager aufzuteilen. So extrem hab ich es noch nie erlebt.
Danke, dass du trotzdem die Geschichte lesbar gefunden hast.

Liebe Grüße an euch beide

lakita


P.S. Mir ist noch der aus Katzensicht geschriebene Krimi von Akif Pirinci "Felidae" eingefallen.

 

dazu sagst. Du klingst sehr entschieden und so, als ob so ein Ansatz immer scheitern müsse. Du gehst sogar so weit, dass man eigentlich keinen Ich-Erzähler benutzen könnte, der nicht im selben Alter sei wie der Autor, das gleiche Geschlecht habe usw. Das klingt so, als könne man als Ich-Erzähler immer nur sich selbst wählen? Ist dann nicht jede personale Erzählweise unmöglich? Jeder Innere Monolog?
Nein, Rollenprosa ist natürlich möglich. Aber das ist etwas, das schwer ist.
Ich hab gesagt, Autoren tun sich schwer damit, da hat man Respekt vor. Es gibt - ich hab ja mal ein Beispiel genannt - durchaus Beispiele, in denen es funktioniert, fremde Wesen und Sichtweisen darzustellen. Das ist aber ein anstrengender, langsamer Prozeß. Bei Perditio Street Station z.B. gibt es Wesen, die eine Mischung aus Mensch und Insekt sind. Und die Figur, die aus dieser Perspektive erzählt, sagt selbst über sich, sie ist schon sehr menschenähnlich und modern und wird von dem Traditionellen (dem Schwarm) ausgestoßen; und auch dann ist ihr ganzes Denkschema zum Teil sehr seltsam und man kommt ständig an Momente, in denen man merkt, wie fremdartig dieses Wesen auf uns wirkt. Das ist aber in einem Roman über unzählige Kapitel ganz fein gearbeitet. Das ist nicht Bäng, ich bin ein Löwe.
Das ist ein Merkmal von guter Literatur auch. In schlechten Historienschinken benehmen sich die Leute wie Zeitreisende aus dem 21. Jahrhundert. In guten wird man immer wieder an Punkte kommen, in denen man merkt: Das sind zwar Menschen, aber die ticken nicht wie wir. Die denken anders. Die haben andere Werte. Es reicht schon wenn wir 50 Jahre zurückgehen, in die westliche Welt. Ganz andere Werte. Die wirken wie Aliens.
Oder wenn wir heute in bestimmte Regionen gehen. Fernöstliche Kulturen - die verstehen wir nicht mit einem Handumdrehen. Wer von uns würde es sich denn zutrauen aus Sicht eines chinesischen Landarbeiters zu schreiben? Wie ist der aufgewachsen, was gab's in der Schule, wie denkt der? Ich krieg's ja kaum gebacken, mir vorzustellen, wie FDP-Wähler denken.

Der Wechsel in der Perspektive in andere Figuren rein, die anders aufgewachsen sind, die die Welt anders sehen, das ist etwas, vor dem jeder Autor einen großen Respekt haben sollte. Das ist das, was das Schreiben heutzutage auszeichnet, was es von anderen Medien abhebt, diese andere Perspektive. Das kann tatsächlich Toleranz fördern und den Horizont erweitern. Dass es Welten außerhalb des eigenen Ichs gibt und der eigenen Ideen- und Verstandeswelt. Nur wenn man dann die eigene Verstandes- und Ideenwelt einfach auf ein völlig fremdartiges Objekt projeziert, dann verlässt man die Ebene der Literatur und produziert Kitsch.
Ich sage nicht, es ist unmöglich, so was zu machen, ich sage, man sollte wissen, wie verdammt schwer das ist. Das ist das Robinson Crusoe-Problem mit Freitag. Das ist der Kolonialismus. Wenn wir unsere Werte auf die Heiden und Barbaren projezieren und denen das bringen, dann passt das schon.

 

Interessantes Thema. Ich stimme Quinn schon in vielem zu: So ein Perspektivwechsel ist - wenn er sich "echt" anfühlen soll - eine der schwersten Aufgaben für den Autor. Und der Wechsel in eine Tierperspektive ist noch einmal besonders schwer. Oder ganz unmöglich? Immerhin ist das Ausdrucksmittel des Autors die Sprache und das einzige uns bekannte sprachbegabte Tier ist nun einmal der Mensch. Ist das Schreiben aus der Sicht eines Tieres damit so etwas wie das Sprechen mit der Stimme eines Stummen? Möglich.

Ich denke aber auch, inwieweit dieses große Problem für den "Zirkusfrühling" eine Rolle spielt, hängt davon ab, wie man die Geschichte liest. Für viele scheint der "Sinn" der Geschichte in etwa so auszusehen: Ich zeige euch, wie sich ein Tier im Zirkus fühlt, damit ihr mal seht, wie das ist. Hätte ich die Geschichte vorrangig so gelesen, hätte sie mir auch nicht gefallen. Denn dann hätte sie, um zu funktionieren, eine "echte" Beschreibung des Löwen-Innenlebens liefern müssen. Mit allen Problemen, die da dran hängen. (Mal abgesehen davon, dass ich Lehrstücke allgemein nicht mag.)

Es gibt aber auch andere Perspektiven auf die Geschichte, meine habe ich oben ausgeführt. Und für die ist es eventuell weniger relevant, wie "echt" die Erzählperspektive ist - es mag für manchen Blickwinkel sogar hilfreich sein, wenn der Leser auf die doch viel zu menschliche Sicht des Löwen gestoßen wird. Weiter ausgeholt: Eine solche "falsche" Perspektive, die die Geschichte spätestens auf den zweiten Blick als Gedankenspiel erkennbar macht, kann auch ihre Berechtigung haben. Auf den Punkt: Nicht jede Perspektive muss authentisch sein. Es geht darum, welche Rolle sie für die Geschichte spielt.

Grüße,
Meridian

(Hinzugefügt sei noch, dass mir die von Quinn erwähnten "Zeitreisenden" in (amerikanischen) Historienfilmen auch ganz gehörig auf den Geist gehen.)

 

Hallo Lakita,

das Beste und Interessanteste an deiner Geschichte ist nach meiner Ansicht die Diskussion, die sie ausgelöst hat, vor allen Dingen die Frage, in wie weit es überhaupt möglich ist, einen guten (und glaubwürdigen?) Text aus der Tierperspektive zu meistern.

Ich glaube - ohne es allerdings wirklich beweisen zu können - dass es immer dann nicht funktioniert, wenn man das Thema ernst und "glaubwürdig" anzugehen versucht, wenn man sich bemüht, authentisch und nachvollziehbar (!) als Tier zu schreiben, weil die unvermeidlich menschliche Perspektive - allein durch das Verwenden der menschlichen Sprache - immer im Weg steht. Das führt meines Erachtens stets zu unfreiwillig komischen Geschichten, egal wie viel Mühe man sich auch geben mag, wie ein Tier zu denken und zu schreiben. Ob ich eine Stange nun "Stange" oder "Schlange" nenne, ein Löwe dürfte keinen der beiden Begriffe kennen, insofern ist es Wurst, in welche "primitiven" Bereiche ich meine Sprache herunterschraube, sie bleibt menschlich und liest sich unlöwisch.

Und genau das ist das Problem, auf das man bei dieser gewählten Tierperspektive immer wieder stoßen wird: ich will so authentisch wie möglich eine Tierperspektive einnehmen, auf der anderen Seite aber sprachlich etwas besonderes schreiben und menschlich verständlich. Wie soll das dann bitte schön funktionieren?

Natürlich hat es auch bei deiner Geschichte nicht funktioniert, was nicht ausschließt, dass es viele gibt, denen das trotzdem gefällt. Dennoch ist Quinns harte Kritik für mich in vielen Punkten nachvollziehbar, wobei ich nicht zwingend der Meinung bin, dass deine Geschichte nicht hätte empfohlen werden dürfen. Wenn es einen Leser gibt, dem das eine Empfehlung wert war, dann ist es halt so.

Allerdings hätte ich die Geschichte auch nicht empfohlen, weil sie aus meiner Sicht (unvermeidlich) fast durchweg unfreiwillig komisch wirkt. Und das kann ja kein lobenswerter schriftstellerischer Ansatz sein.

Ich lese die Geschichte so, dass sie von einer Autorin handelt, die sich vorstellt, wie es wohl ist, ein Zirkuslöwe zu sein, und das möglichst kritisch und leider auch ein bisschen platt (die lieben Tiere, die bösen Menschen). Du wählst eine ungewöhnliche Perspektive um eine gewöhnliche und wenig überraschende Geschichte zu erzählen, wobei die Worte unecht und verstellt wirken, weil du dein Denken (und Schreiben) in ein viel zu enges Löwenkostüm zwängst. Gähn!

Ich glaube, die Story hätte eher funktioniert, wenn du aus dem vermeintlichen Gegensatz zwischen menschlicher Sprache und tierischem Denken ein viel konsequenteres und meinetwegen auch satirisches (oder soll ich schreiben satierisch ;-) ) Werk geschaffen hättest. Mit dem Ziel, dass du das lustige und komische an der KG bewusst erzeugst, und nicht unfreiwillig.

Ein cooler Löwe. Ein feiger Löwe. Ein arroganter Löwe. Ein gebildeter Löwe. Mit Überspitzung und Übertreibung könntest du einer (berechtigten) Kritik wie der von Quinn auf dem Vorweg begegnen, weil du dann die Vermenschlichung deines tierischen Charakters gezielt als Stilmittel gewählt hättest. So könnte das funktionieren. Das könnte vor ernstem Hintergrund mit viel Witz ein sehr interessanter Ansatz sein.

Dein Ansatz aber funktioniert nicht. Wir werden uns nie in die Gedanken eines Tieres versetzen könnten, und könnten wir es, wäre es nicht beschreibbar. Insofern halte ich deine Geschichte - wie die meisten anderen Versuche, die mir in dieser Richtung bekannt sind - für gescheitert. Sympathisch gescheitert - aber gescheitert.

Ich stelle mir gerade die Überlegung eines Löwens zum Ende der Story vor:

"Komisch, dachte ich. Dompteure schmecken irgendwie anders als Antilopen. Ich hätte jetzt noch Lust auf ein Dessert, aber das ist gerade schreiend aus dem Käfig geflüchtet!"

So fände ich es sehr lustig :-)

Lass dich aber nicht von weiteren tierischen Geschichten abhalten!

Rick

 

Lieber Meridian,

nochmals lieben Dank, dass du deine Sichtweise in den Vordergrund stellst, um darzulegen, wie unterschiedlich man auf diesen Text reagieren kann.

Das ist und bleibt hier auf kurzgeschichten.de für mich das Faszinierende: die vielfältige Sichtweise und Reaktion auf Geschichten. Es gibt ihn eben nicht, den einen einzigen Leser.


Lieber Rick,

schön, sehr schön, dass du wieder dabei bist. So hoff ich doch, dass wir dich hier öfter sehen werden? :)

Eigentlich könnte man zu deiner Kritik einfach nur sagen: AMEN! :D


Aber dann wären wir nicht auf kg.de, sondern Einwortkritiken.de. :D

Im Grunde genommen hast du die Gedanken der Kritiker genial zusammen gefasst und komprimiert.
Ich finde auch, dass die Diskussion über meinen Text, der für die einen gelungen, die anderen völlig misslungen ist, sehr viel Bedeutung hat und mich hat das alles um eine ganze Ecke klüger gemacht.

Mir ist klar geworden, dass das Schlüpfen in andere Häute Grenzen hat. Und ich denke, mit der obigen Geschichte ist die Grenze überschritten.
Immer dann, wenn man als Mensch über Tiere, Pflanzen, Sachen schreibt und dabei die Sichtweise der Objekte einnimmt oder besser gesagt, mit den "Augen" des Tieres oder Objekts schreibt, funktioniert es nur, wenn das Ganze wenigstens ironisch angelegt ist. Daher ist dein Hinweis, eine Satire zu schreiben, keineswegs übel. Vielleicht werde ich das irgendwann mal tun.
Ich habe auch schon überlegt, ob nicht bereits die negative Kritik (mal ausgenommen Quinns, der ja gar nichts an der Geschichte gut fand) anders ausgefallen wäre, wenn ich nicht die Ichform gewählt hätte.

Ich möchte diese Geschichte jetzt aber so stehen lassen und nicht grundlegend verändern, weil sie sonst der nachfolgenden Diskussion nichts mehr nützt und genau die finde ich sehr wichtig.

Ich danke dir für deine konstruktive Kritik, die trotz ihrer Härte und Deutlichkeit stets im höflichen Bereich geblieben ist, was ich sehr zu schätzen weiß.


Lieben Gruß an euch beide

lakita

 

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