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Zirkusfrühling
Der Fremde bleibt mir ein Rätsel. Lange, bevor er an den Gitterstäben entlang streift, kriecht mir sein Geruch ätzend in die Nase.
Ich rieche weder Trockenwald noch Savanne, keine sengende Sonne, auch kein Wasserloch, hier gibt es nichts, dem ich vertraue.
Nur die an meinem Käfig vorbeiziehenden Pferde schlagen mit ihren Hufen einen schwachen Duftfaden herauf. Saftige Halme tief verborgen unter unerklärlichem Gestank.
Dem Fremden begegnete ich vor vielen Sommern. Er muss mächtiger sein als ich. Es gab keinen Kampf zwischen uns und doch bin ich seitdem in diesem kalten Land, dessen Gerüche ich nicht kenne und dessen Töne in meinen Ohren vibrieren, aber kein Wissen verschaffen.
Ich spüre den trüben fragenden Blick der anderen, die so ratlos sind wie ich.
Irgendwann am Tag kann ich durch einen Tunnel in einen großen Käfig schlüpfen. Aus dem Sandboden steigt der Geruch von tausend Hufen, Zehen und Pranken empor. Die Gitter sind so weit entfernt, wie ein alter breiter Baum in meiner Heimat Schatten werfen kann.
Der Fremde treibt uns mit Lauten wie Papageiengekeife auseinander. Keiner versteht ihn. Und doch ahnen wir, dass wir kein Rudel bilden sollen.
Ich wüsste gern mehr über die beiden anderen. Aber besonders über die Löwin und zu wem sie gehört.
Eine magere Schlange schnalzt sirrend an mein Ohr. Der Fremde brüllt.
Löwen brüllen nur, wenn ein Kampf vermieden werden soll.
Der Fremde verweigert sich, will sich nicht mit mir messen. Bin ich seiner nicht würdig? Was für eine Bedeutung habe ich, wenn ich nicht kämpfe, fauche ich. Meine Augen halten ihn fest.
Die Schlange trifft mich blitzartig an meiner Flanke. Es schmerzt. Er will, dass ich den Sandboden verlasse und auf einen kalten glatten Baumstumpf steige. Die anderen haben bereits ihre kleinen Anhöhen erklommen.
Meine Pranke schlägt nach der Peinigerin. Sie schnellt gehorsam zum Fremden zurück, ehe ich sie fangen kann und trifft meine Schulter, bevor ich merke, dass sie zurückgekehrt ist.
Der Fremde keift und stampft und ergreift einen langen Stock. Die Spitze sticht gegen meine Brust. Ich weiche nicht.
Die Augen der Löwen ruhen auf meinem Rücken. Ich spüre die Löwin. Mein Blick verengt sich, vor mir nur noch die Grimasse des Fremden.
Der Stock kippt zu Boden, weil ich mich rückwärts bewege. Der Fremde glaubt ich steige auf den befohlenen Platz. Wie unzählige Male zuvor. Hinter mir kein Schnaufen, kein Atemzug. Nur das leise Knirschen unter meinen Pranken als ich mich blitzartig zum Absprung drehe und in gestrecktem Bogen in das Gesicht des Fremden fliege. Ich werfe ihn mit meiner Körperlast zu Boden. Schlage meine Krallen in ihn. Er röchelt heißen Atem.
Mit kraftvollem Sprung verlassen die beiden Löwen ihre Plätze und landen an meinen Flanken. Ein dicker Wasserstrahl fährt auf uns nieder, soll uns vertreiben.
Wasser war nie unser Feind. Sie wissen nicht viel von uns.
Rufe und Schreie gellen herüber. Vor dem Gitter tobt eine Horde Fremder, wie lärmende Affen. Für uns waren Affen schon immer unwichtige Kreaturen.
Der Fremde zappelt so vergeblich wie eine sterbende Antilope. Nasser Sand spritzt in mein Gesicht, der Wasserstrahl bohrt sich in mein Fell, brennt eisig.
Es gibt keinen Kampf ohne Schmerz. Ich kenne den Preis, hier, wie überall.
Ich bohre meine Zähne in das Fleisch.
Als ich mit blutigem Maul hochblicke, treffen mich die Augen der Löwin. Sie thront immer noch hoch oben. Rasch blickt sie zur Seite. Aber ich habe bereits ihre Zustimmung gewittert.