Zeus - oder: wecke nicht der Götter Zorn!
Lustlos bastelte Zeus kraft seiner göttlichen Gedanken einen Wolkenberg über dem Golf von Korinth zusammen. Besser gesagt: über jenem Teil seines fast verlorenen Reiches, den die Menschen als „Golf von Korinth“ bezeichnen. Vier kurz aufeinander folgende Donnerschläge ließen ihn aus seiner Trägheit auffahren. Verärgert blickte Zeus auf seinen Sohn Hephaistos, der unweit im Olymp kauerte. „Ich war’s nicht!“, drückte dessen resigniertes Schulterzucken aus; ihm zu Füßen lag sein von Rost überzogener Schmiedehammer. Zeus sah wieder auf das soeben geschaffene Wolkengebilde und erblickte eine Formation von vier Düsenmaschinen eines Jagdgeschwaders der griechischen Luftwaffe. Nach dem Start von ihrer Basis in Kato Axaia lenkten die Piloten ihre Fluggeräte Richtung Andirion mit dem Auftrag, eine fiktive Partisanenstellung anzugreifen. Inmitten der Wolken über dem Golf durchbrachen sie die Schallmauer.
„Fiktive Partisanenstellung...!“, schnaubte Zeus, der Allwissende, verächtlich, und gedachte der herrlichen, realen Land- und Wasserschlachten, wie sie vor langer, langer Zeit geführt wurden, viele davon ihm zu Ehren. Mann gegen Mann – das waren Kämpfe nach seinem Geschmack! Der Klang von Eisen auf Eisen, von Eisen auf Knochen und das Schreien der tödlich verwundeten Krieger waren Musik in seinen Ohren gewesen; die modernen, ferngesteuerten Massenvernichtungsschlachten in ihrer langweiligen Anonymität waren ihm ein Graus.
Gerade war ich eingeschlafen, in der Liege, am Strand. Ein erster Traum begann, sich zu inszenieren: irgendetwas mit einer dreihundertjährigen Eiche in Nachbars Garten, die gefällt werden musste. Dabei hat mein Nachbar gar keine Eiche in seinem Garten.
Wie gesagt, gerade war ich eingeschlafen, dort am Strand, am frühen Nachmittag jenes Tages; waren die Nächte in dem Hotel dort auf dem Peloponnes doch alles andere als erholsam. Entweder klapperte die Klimaanlage, oder ein Kind brüllte in dem als „familienfreundlich“ ausgewiesenen Hotel und weckte den halben Flur, oder stockbetrunkene Skandinavier waren laut singend auf dem Weg von der Hotelbar in ihre Zimmer. Oder alles zusammen.
Ich war also eingeschlafen und sah meinem Nachbarn dabei zu wie er sich anschickte, die riesige Eiche in seinem Garten zu fällen. Da riss mich Lärm: ein vierfacher Knall, gefolgt von infernalischem Brausen, aus dem Schlaf und beinahe von der Strandliege herunter. Vier Düsenjäger flogen in Richtung des nur wenige Kilometer entfernten Festlandes. Und das in einer Höhe von ein paar hundert Metern über den Strand hinweg, auf dem ich gerade versuchte, mich zu erholen. Nach dem dadurch ausgelösten Adrenalinschub war an Schlaf vorerst nicht mehr zu denken.
Zeus langweilte sich entsetzlich. Seit hunderten von Jahren hockte er nun schon tatenlos mit seiner Mischpoke im Olymp herum. Kein Mensch glaubte mehr an ihn und die Anderen. Seine Frau wurde immer eifersüchtiger, und Ganymed, sein Lieblingsknabe, ebenso. Nicht völlig unberechtigt: träumte Zeus doch schon lange davon, wieder mal etwas Frisches, Junges in den immer noch recht starken Armen zu halten, zu herzen und zu liebkosen. Zum Beispiel so etwas wie den süßen, weichen Knaben, der dort unten am Wasser seines Reiches spielte, und dessen Geschrei bis in den Olymp drang und so die Aufmerksamkeit des obersten Gottes weckte.
Nicht genug damit, dass sich die griechische Luftwaffe auf den dritten Weltkrieg vorbereitete, musste sich auch noch eine Familie in unmittelbarer Nähe meiner Strandliege niederlassen: Mami, Papi und ihr dicklicher Sohn, „Tobi“ genannt. Ein verwöhntes Kind, erkannte ich schnell. „Tobi-will-dies-Tobi-will-das!“, erklärte er seinen Eltern in einer Tour und in einer Lautstärke, dass es eine Art hatte. Und sie gaben ihm dies und gaben ihm das, was der Bursche, sechs Jahre alt mochte er sein, mit ständig neuen Wünschen und Absichtserklärungen quittierte.
„Tobi geht mit Flipper schwimmen!“, erklärte der Sohn den Eltern, und schleifte einen lebensgroßen, aufgeblasenen Kunststoffdelphin an dessen Plastikschnauze hinter sich her.
„Nein, Tobi – das geht nicht! Du hast gerade gegessen und dein Bauch ist zu voll! Du musst noch warten!“, erklärte die Mutter, überraschend resolut. Nicht überraschend war Tobis Reaktion. Ein Gebrüll, das dem Lärm der Jagdbomber in nichts nachstand. „Vielleicht sollte ich mich besser an die Bar setzen, und mich mit ein paar netten Skandinaviern anfreunden...“, dachte ich.
„Triton soll kommen!“, tönte die Stimme des Chefs durchs Hauptquartier. Lieber hätte Zeus seinen Bruder Poseidon mit dieser delikaten Angelegenheit betraut, aber dem wäre eben diese Aufgabe als nicht standesgemäß erschienen. Der spielte lieber „Schiffe versenken“. Aber dessen Sohn Triton, das verkommene Subjekt – der solle ruhig mal etwas für seinen Onkel tun, entschied Zeus. Kurz darauf kam der Neffe auf seinem langen Fischschwanz angerobbt, stützte sich dabei mit seinen gewaltigen, von Muscheln, Schnecken und anderem Getier besetzten Armen ab. Seine langen Haare hingen ihm ins hässliche Gesicht und über den breiten Rücken, sein üppiger Bart bedeckte die geschuppte Brust. Bart und Haare, von Tang und Algen durchwachsen, schimmerten grün; kleine, silbrig glänzende Fische hatten sich darin verfangen und zappelten im Todeskampf. Und der Kerl stank wie eine verendete Walschule, deren Kadaver schon tagelang am Strand lagen. Zeus unterdrückte die aufkommende Übelkeit.
„Hör zu, Triton, mein Neffe!“, flüsterte er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass weder Hera noch Ganymed ihm lauschten, dem Meeresgott zu, „den Jungen da unten...“
Tobi bekam seinen Willen, natürlich. Vermutlich nur, weil seine Eltern einen kleinen Mittagsschlaf auf ihren Liegen halten wollten, so wie ich. “Aber schön am Rand bleiben, nicht so weit rausschwimmen mit Flipper, hörst Du?“, gab Mami dem mit Schwimmreifen versehenen, auf dem Delphin reitenden Jungen mit, um kurz darauf einzuschlummern, wie zuvor schon ihr Gatte.
„Ganz schön leichtsinnig...“, dachte ich, dem Kinder normalerweise herzlich gleichgültig sind. Angenehm ruhig war es am Strand. Viele der kleinen Kinder hielten Mittagsschlaf auf den Zimmern, und deren Eltern mit ihnen. Wer sich jetzt am Strand aufhielt, döste in der spätsommerlichen Mittagshitze. Leise und gleichmäßig rauschten kleine Wellen an den Strand. Selbst der Wind hielt Mittagsruhe. Tobis Vater schnarchte leise, Tobis Mutter schlief lautlos. Auch ich war kurz davor, wieder einzuschlummern. Immer wieder klappten meine Lider zu. Strand, Wasser, Flipper, Tobi und das grüne Etwas begannen, ineinander zu verschwimmen...
Was für ein grünes Etwas?
Und wo war Tobi?
Reiterlos dümpelte der Delphin in Strandnähe herum.
„Ihr Sohn! Ihr Sohn!“, schrie ich, sprang aus der Liege hoch, spurtete die wenigen Meter bis zum Wasser und hechtete hinein. Ein paar kräftige Kraulzüge durch das kristallklare Meer und ich sah Tobi, knapp unter der Wasseroberfläche – mit vor Todesangst weit aufgerissenen Augen blickte er mich an. Er hatte sich in einer Art Wasserpflanze, die sich ins Meer hinausbewegte, verfangen. Ein pestilenzialischer Geruch, den ich nie zuvor bemerkt hatte, lag über dem Wasser. Trotzdem holte ich tief Luft, tauchte und bekam den Jungen sofort an einem Arm zu fassen. Das grüne Etwas schien Widerstand zu leisten, doch ich bekam Grund unter den Füßen und konnte das Kind mit einem Ruck aus den Schlingarmen befreien.
„Dieser stinkende Schleimhaufen! Dieses wabbelige Ungeheuer! Dieser lebende Muschelfriedhof! Zu nichts zu gebrauchen ist dieser dämliche Halbfisch! Und sowas ist meines Bruders Sohn!“ Der oberste Gott war außer sich vor Zorn und brüllte so laut, dass man es bis in die entlegensten Winkel des Olymp hören konnte. „Und dieser Mensch, dieser Erdling – was mischt der sich in göttliche Handlungen ein!“ Zeus war nicht zu bremsen. „Das große Speien soll er kriegen! Und die Därme sollen ihm explodieren, diesem Möchtegerngott! Noch sind wir die Herren über Tod und Leben!“ Bei den letzten Worten hatte der Tobende sich den Hammer des Hephaistos gegriffen, schwang ihn drohend über dem hochroten Kopf und schleuderte ihn schließlich mit aller Kraft quer durch den Göttersitz. Dann warf er dem Hammer einige kräftige Blitze hinterher - etwas, das die Bewohner des Olymp schon lange nicht mehr gesehen hatten.
Das habe ich nun von meiner Lebensrettungsaktion. Warum hatte ich es nicht dem Vater überlassen, seinen Sohn zu retten? Betäubt von dem grässlichen Gestank der Wasserpflanze konnte ich den laut brüllenden Tobi noch gerade eben an den Strand bringen und seinem Vater in die Arme werfen, bevor ich in eine kleine Ohnmacht fiel und zusammensackte. Nicht lange währte die Bewusstlosigkeit – ein gewaltiger Donnerschlag riss mich zurück ins Leben. Diesmal waren nicht Düsenjäger die Ursache, sondern ein beginnendes Gewitter, das kräftige Regengüsse und gewaltige Böen mit sich brachte. Und ein Gewitter setzte kurz darauf auch in meinem Bauch ein – offensichtlich hatte ich von dem verschmutzten Wasser geschluckt.
Und nun sitze ich fast ununterbrochen auf der Toilette meines Hotelzimmers, einen Eimer vor mir und genieße so die letzten Tage meiner Ferien. Bei Zeus und allen Göttern Griechenlands – so hatte ich mir den Urlaub in eurem Land nicht vorgestellt!