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Zerbrochenes Spiegelbild
Der Fluss plätscherte in der Nacht und sein Rauschen verdrängte die Stille. Weit unter mir schmiegte er sich an die kalten Steine der Brücke. Nichts konnte ihn aufhalten, nicht einmal die Nacht. Die dunkle, kalte Nacht. Ich lehnte mich gegen die Mauer der Brücke und starte hinauf in den sternenklaren Himmel. Sie leuchteten so hell und aufmunternd, noch nie hatte ich mich ihnen so nahe gefühlt. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, aber ich spürte es nicht, spürte nur die Last der Erinnerungen in mir. Mein Herz schmerzte unter den Erinnerungen an die Worte meines Vater und seine kalten Augen schienen am Himmel zu erscheinen. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich einen Fuß auf die Mauer setzte, der andere folgte. Mit den Armen balancierte ich das Gewicht aus, sog die kühle Luft in meine Lunge ein.
Mein Kopf quälte mich immer und immer wieder mit dieser einen Erinnerung.
Ich streckte mich um die verspannten Glieder wieder zum Leben zu erwecken. Der Wind strich sanft durch meine Haare und ich hielt lächelnd mein Gesicht der Sonne entgegen.
Wieder war ein Schultag vorbei und auf der Terrasse zu Hause genoß ich den sonnigen Nachmittag. Ich beobachtete unseren Nachbarn dabei wie er sorgfältig den Rasenmäher Zentimeter um Zentimeter verschob, um auch jeden überflüssigen Grashalm zu erwischen. Sein Hund hüpfte um seine Beine und zerstörte die präzise Arbeit ohnehin.
Ich kraulte meinen Kater, der in meinem Schoß lag und er schnurrte leise.
„ Hallo, mein Schatz“, begrüßte mich meine Mutter und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich blinzelte gegen die Sonne von meiner Liege aus zu ihr hoch und erschrack, als ich die Tränen in ihren Augen blitzen sah.
„ Mama, was ist passiert?“, fragte ich schockiert und erhob mich. Mein Kater fauchte überrascht und sprang zurück ins Haus. Nun brach meine Mutter in Tränen aus. Sie drückte mir einen Brief in die Hand und wandte sich schnell von mir ab, wobei sie die Hände vor ihre zitternde Lippe presste. Schnell faltete ich den Brief auseinander.
Sehr geehrte Frau Müller und Herr Müller,
da die Leistungen ihrer Tocher Anna, abweichend von dem letzten Zeugnis, im Fach Chemie und Mathe nicht ausreichend sind, setze ich sie darüber in Kenntnis, dass sie sitzen bleibend gefährdet ist. Wir empfehlen den Abgang ihrer Tochter vom Gymnasium auf eine angemessenere Schulform.
Der Rest der Worte verschwamm vor meinem Auge. Alles drehte sich.
„ Ich hatte ja keine Ahnung“, flüsterte ich. In dem Moment bemerkte ich meinen Vater, der im Türrahmen zur Terrasse stand und mich kalt ansah. Sein Blick drang mir durch Mark und Bein und mein Herz klopfte wild. Es kam mir plötzlich Totenstill vor, selbst die Vögel waren verstummt. Nur das Schluchzen meiner Mutter durchdrang die Stille.
„ Ich hatte keine Ahung“, wiederholte ich nun etwas lauter und wandte mich an meinen Vater. Er stand immer noch reglos da.
„Sag doch was! Irgendwas!“, schrie ich innerlich, aber äußerlich starrte ich ihn nur an und als er nichts sagte, füllten sich meine Augen mit Tränen. Irgendwann, es kam mir vor wie Stunden, schluchzte meine Mutter noch einmal laut auf und rannte dann ins Haus.
„ Papa!“, schrie ich nun verzweifelt. Er setzte sich in Bewegung, erpicht darauf bedacht, dass seine Schritte Respekt einflößten. Und das taten sie. Mit seiner hohen Statur, den leicht ins gräuliche gehenden Haare und den klugen, aber auch kalten, Augen, war er ein Mann, dem Respekt entgegen strömte.
„ Du hast versagt, Anna“, sagte er ruhig. Keine Emotion lag in seiner Stimme oder in seinen Augen. Mir liefen die Tränen über die Wangen.
„ Aber ich dachte, es wäre nicht so schlimm“, flüsterte ich verzweifelt und fühlte mich unter dem starken Blick meines Vaters wie ein kleines Kind.
„ Du bist für dich verantwortlich für dich, Anna. Und du hast uns enttäuscht. Du warst das Einzige für deine Mutter, nun bist du nichts.“, sagte er kalt. Alles in mir zog sich zusammen, schmerzhaft, als hätte er mir einen Stoß in die Rippen versetzt.
„ Wir haben alle Hoffungen in unsere einzige Tochter gesetzt. Aus dir sollte etwas Großes werden, nun ist das vorbei. Du hast versagt.“ Mein Vater drehte sich um und ging.
Das alles ging mir durch den Kopf, während der Fluss sechs Meter unter mir unaufhörlich vorbeischoss. Kurz verlor ich die Balance und keuchend versuchte ich mit den Armen sie wieder zu erlangen. Ich hatte versagt, ich hatte versagt. Dieser eine Satz ging immer wieder in meinem Kopf umher.
Ich war der Sonnenschein gewesen in meiner Familie. Der einzige Grund, warum meine Mutter jeden Morgen den Tag begrüßte. Meine Mutter war bereits 40 gewesen, als ich auf die Welt kam. Der Sinn ihres Lebens. Sie hatte meinen Vater geheiratet, einen reichen und angesehenen Mann und er hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Wir bewohnten eine Traumvilla, direkt am See. Mit traumhaften Zimmern.
Ich sollte immer so werden wie meine Mutter immer sein wollte, das sah ich jetzt ganz deutlich vor Augen. Wieder füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich würde keine Staranwältin werden, mit Respekt und Ansehen.
Ich hatte versagt. Meine Mutter redete kein Wort mehr mit mir, die Augen gefüllt mit Traurigkeit, mein Vater strafte mich mit eisigen Blicken. Ich war ausgeschlossen aus dieser Welt, von der ich bisher nur Geborgenheit gekannt hatte.
Ich war ihr „kleines Mädchen“ gewesen, so lange ich ihnen Vorstellungen entsprochen hatte.
Jetzt war alles anders, aussichtslos.
Die Wolken verdeckten den strahlenden Mond und machten die Nacht noch dunkler.
Unter mir rauschte immer noch der Fluss. Er sah so schwarz aus, so beruhigend schwarz.