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Zerbrechlicher Frühling
Schicksale der Ampel
„Ja i woas a net, warum die nimma kimmt,“ meinte die Frau Grainer vom Metzger. Ihre kräftige Stimme wirkte fast schon beleidigt. "Irgendwas mit am Mann."
„Na, tot ist die net. - Ja, i bin sicher!“ äffte sie den Herren in senfgrün nach und klatschte die Leberwurst kurz darauf mit Nachdruck auf die Theke. Sie war sicher.
„Hamas jetzat?“
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Frühling. Die Stadt blüht auf. Die Luft beherbergt noch einen letzten Rest winterlicher Frische. Die ersten Jogger suchen die Straßen und Parkanlagen auf während einige mürrische Mienen sich auf den Weg zur Arbeit machen. Sie binden ihre Mäntel um sich wie einen Druckverband und starren auf ihren gepflasterten Weg. Jeder in seiner Welt. Immer mehr Menschen in den Betonschluchten. Viele eilen hinab in die Gefilde von Neonröhren und Klimaanlagen.
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Sie nicht. Sie fährt keine U-Bahn mehr.
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Er lächelt sanft wie er es so oft tut. Das regelmäßige Mimen eben dieses gleichen, sanften Gesichtsausdruckes mindert seine Ernsthaftigkeit nicht. Er kauft die Blumen ohne auf den Preis zu achten, denn darum geht es ja nicht. Wenn es nach ihm ginge müssten Blumen gar nichts kosten. Symbolik for free.
Sein Arbeitsweg ist heute wieder ein anderer. Anderer Bodenbelag, anderes Licht, ein ganz anderes Stück Matrix. Er genießt die alten Häuser, respekteinflößend blicken sie mit ihren fensternen Augen auf ihn herab. Aber er hat sich vor nichts zu schämen. Liebe dich selbst, sein erstes Gebot. Er geht eine weitere Straße hinunter, ein weiterer Abschnitt. Schönheit überall.
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„Kruzefix!“ Herrn Kreuzner ist so etwas schon lang nicht mehr passiert. In 31 Jahren ist er erst zweimal zu spät zur Arbeit gekommen. Herr Kreuzner trinkt selten. Heute brummt sein Kopf und sein Magen fühlt sich viel zu leicht an. Stolpernd hastet Herr Kreuzner von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach den fehlenden Teilen seines Anzugs. Im Arbeitszimmer muss er kurz innehalten und seine schwachen Finger in das massive Eichenholz seines Schreibtisches krallen um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Dann eilt er zum alten Opel, das Wetter lautstark verfluchend. Der junge Chef, der neue Lackaffe, der wird wieder sauer auf ihn sein. Der hat es ja sowieso auf ihn abgesehen. Hoffentlich springt er heute an.
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Die Männer schauen ihr auch nicht mehr nach. Die Männer, die ihr einst in der Bank oder im Supermarkt die Tür aufhielten, die nervös wurden wenn sie „Danke“ sagte. Und sie kann es auch nicht nur der steigenden Anzahl an elektronischen Schiebetüren zuschreiben. Sie wird nicht beachtet, ist einfach grau. Wie alles hier. Ein Chamäleon im Dschungel der Normalität.
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Das Lächeln verschwindet nicht, trotzdem rumort es in seinem Inneren auf einmal. Die emotionale Flut die jeden das eine oder andere mal erfasst trifft ihn mit Wucht. Er bleibt abrupt stehen. Vor ihm steht die Armseeligkeit seiner Existenz, bewaffnet mit einem Blumenstrauß und einem schmalen schwarzen Anzug. Der dreckige Jungendliche der versucht den Engel zu spielen.
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Herr Kreuzner ist tief in Gedanken versunken in seinem Opel. Der Sitz ist schaumig weich und die Post noch weit. Der plötzlich veränderte Ablauf der Dinge beunruhigt ihn. Seine Zähne fühlen sich flaumig an. Er biegt rechts ab und fährt mit mutigen 53 km/h die Weisenhausstraße runter. Die Ampel Ecke Dom-Pedro-Straße schaltet, Herr Kreuzners nahender Ankunft wohl bewusst, schnellstmöglich auf Rot. „Wieso ich?“ schießt es dem Paketsortierer durch den Kopf. Aber schon im nächsten Augenblick erfüllt ihn wieder ein anderer Gedanke. Die Reue die er empfindet wenn er Zeuge seiner eigenen Abstumpfung wird. Nostalgie. Früher hat er sich noch andere Fragen gestellt. Fragen des Lebens. Wollte glücklich sein. Seiner Frau alles geben, für sie alles geben, beim Postamt. Der Michaela, die war ja auch immer so fürsorglich. Aber irgendwann war ihm Heirat dann zu endgültig vorgekommen. Schade, Michaela hätte ihn aufgeweckt. Aber eigentlich war es Helgas Schuld warum es nicht gehalten hatte. Die alte Sekretärin vom jungen Chef. Sie musste dann gefeuert werden. Verführung eines Untergebenen oder so. Herr Kreuzner musste als Zeuge aussagen.
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Er kann kein Engel sein. Der Teer verklebt seine Flügel. Der Strudel aus Gedanken zieht ihn in seine Vergangenheit, breitet sich aus wie ein Tropfen schwarzer Tinte, seinen Kopf infizierend. Tage an denen er den halben Tag ohnmächtig war. Die Zeit in der er alles verlor, bis er irgendwann das Gefühl hatte nicht einmal sein Blut sei noch sein eigenes. Der Drang, die Sucht. Alles zurück, alles wieder da. Er zuckt.
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Sie denkt nicht mehr und macht die Daunenjacke bis oben zu. Diese Reißverschlüsse funktionieren ja inzwischen echt gut. Sie schlendert an einem weiteren Supermarkt vorbei, beäugt die Super-Sonderangebote und ärgert sich ein wenig, weil sie die Orangen bei der Konkurrenz für teureres Geld gekauft hat. Dann steht sie an der Ampel vor dem Rotkreuzkrankenhaus. Ein siebzehnstöckiger Block massiver Hässlichkeit. Der verblichene Anstrich und die schwarzen Abgasschlieren lassen das Haus selbst eher ungesund, fast kränklich erscheinen. Ein großer Geländewagen, so ein arrogantes Teil, fährt rechts abbiegend direkt vor ihrem Gesicht vorbei. In den getönten Scheiben sieht sie Pauls Tod. Wie immer. Zu Hause hat sie keine Spiegel mehr.
Sie hatte Lachsfilet und Mangold gekauft, damals, um ihn zu überraschen. Der Deal in Berlin war besser gelaufen als erwartet und sie war zwei Tage früher heimgekommen. Von eben dem Supermarkt der die billigen Organen verkauft war sie dann runter auf den Bahnsteig um sich die Ampel zu sparen. Dort traf sie Paul, ihren Freund, zufällig. Er sah aufgeregt aus, hatte sie noch nicht entdeckt und trat trotzdem schon vom einen Bein auf das andere. Sie dachte an diesem Tag, den sie feiern wollte, schon an Kinder und ein Haus im Grünen. Sie wollte keine moderne Zukunft, sie wollte klassisch. In guter Hoffnung und mit guter Kunde schlenderte sie Paul entgegen, nachdem sie rennen als unangemessen eingestuft hatte. Der Windzug kam, ein Scheinwerfer am Ende des Tunnels. Sie beschleunigte ihre Schritte, die Mangoldblätter wippten mit. Der Zug fuhr ein, sie schrie, etwas quietschte und ihr Licht ging aus.
Die Ampel sprang auf grün.
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Er zuckt, öffnet seine vor Anstrengung zusammengepressten Augenlieder und erblickt zuerst den Strauß violetten Gewächses in seiner Hand. Er weiß nicht wie sie hießen, denn darum geht es ja nicht. Der zarte Duft wirkt beruhigend. Der Sog wird schwächer. Farbe und Ton kehren zurück in die urbane Szenerie und mit ihnen auch sein sanftes Lächeln. Nachdem er die Tintenwellen überwunden hat, fühlt er sich immer stark. Glücklich über seinen erneuten Sieg fängt er wieder an zu gehen.
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Nun ja, vielleicht war es auch zum Teil sein Fehler. Herr Kreuzer hätte einfach stärker sein sollen. Hätte sein damals noch feuriges Temperament für seinen romantischen Lebensabend mit seiner Michaela sparen sollen. Jetzt ist er leer und die nächste ist schon wieder rot. Eine heimtückischen Entzündung am oberen Augenlied der Ampel. Herr Kreuzer wird sie nicht los. Er hasst sich in seinem Opel, an roten Ampeln wartend, zur Post fahrend um doch nie ankommend. Viele Pakete kommen nicht an, werden nie zugestellt. Manchmal sortiert Herr Kreuzer einfach eins ins falsche Fach. Der Gedanke an die Macht die er so über das Schicksal hat gefällt ihm. Manchmal.
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Sie steht immer noch. Der Van ist zum Glück längst vorüber, aber das Meer aus Kummer lässt sie erst langsam wieder frei. Sie hasst dunkles Wasser.
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Er weiß, dass die Blumen für sie gedacht sind. Jeder weiß es. Sie stehen sich gegenüber und starren sich an. Die anderen Wartenden, gelangweilt weil wartend, schütteln grinsend den Kopf. Belustigt von dem Maß an Interesse der zwei Menschen aneinander und deren Trennung durch diesen Fluss aus Asphalt. Ihr Gesicht ist verquollen, die Augen gerötet und sie blickt unsicher drein. Grüner Mensch leuchtet, die Brücke ist errichtet. Die Menschenmassen traben an und in deren Mitte stehen die zwei sich gegenüber. Sie nimmt die Blumen und er lächelt sanft. Er tut das häufig, aber sie weiß es nicht. Dann ist die Herde davon, das Publikum entflohen, das Stück vorbei und Herr Kreuzner ist immer noch zu spät. Der Opel brummt. Alle Lichter sind rot. Kein Seitenairbags und eine verlorene Blume auf der Windschutzscheibe. Frühling.