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Zeitz
It’s the place to be. Hier gibt es Egon, Rashid, Laura und mich. Zusammen sind wir die Künstlergruppe Zwei. Aber das nur am Rande. Wer sucht, findet hier schnell alte Autoreifen, die günstigsten Kaltmieten Deutschlands, verlassene Kirchen und Fabriken. Wir haben uns in einem Kloster eingenistet, Rashid hat drei Heizkörper aufgetrieben. Wir bauen einen Ofen, obwohl es schon Mai ist, der zwanzigste, mein Geburtstag. Da habe ich mir gedacht, ich schenke mir ein Fotoalbum, weil das mit dem Fotoalbum vor ein paar Jahren, das hat ja nicht geklappt. Die anderen arbeiten, aber das ist okay, nicht alle müssen immer arbeiten, und ich habe ja, wie gesagt, Geburtstag und auch schon einen Geburtstagskuchen bekommen.
Von einem ‚Fotoalbum‘ zu sprechen, ist natürlich so eine Art schlechter Witz. Immerhin habe ich aus dieser Zeit keine Fotos mehr und von manchen Dingen auch nie ein Foto gemacht. In diesem Fotoalbum geht es um Malte, meine Eltern und mich. Vier Personen, da kommt was zusammen. Jetzt sitze ich hier im Karzer und denke über mein Leben nach. Aber nicht zur Strafe, das ist für diesen Raum doch sonderbar. Im Tisch sind Namen eingeritzt von Leuten, die hier Strafstunden verbüßten. Ich schreibe meinen dazu. Vielleicht werde ich diesen Tisch noch abschleifen, so wie ich die Zeit vor vielleicht drei Jahren abgeschliffen habe. Und dann sitze ich da und will plötzlich doch ein Fotoalbum aus dieser Zeit vor Zeitz.
Ich beginne in Leipzig. Das war mein siebzehnter Geburtstag. Ich trug ein Sternenhütchen, das meine neue Mitbewohnerin mir gebastelt hatte, und im Küchenradio lief Can you feel it mit Michael Jackson. Es war einer der ersten und schlimmsten Tage meines Daseins als quasi Erwachsene. Zwei Klassen übersprungen, jetzt von zu Hause weg, eine erste WG, eine erste Mitbewohnerin, ein erster Geburtstag als quasi Erwachsene mit Michael Jackson. Wir stießen an mit Rotkäppchen-Sekt und bissen jeweils in einen Schokomuffin.
Allein in meinem Zimmer heulte ich halbwegs grundlos. Ich wollte nicht erwachsen sein, wollte keinen Schokomuffin, lieber einen der lieblosen, aber zumindest standardmäßigen Kuchen meiner Mutter oder wenigstens einen selbstfrittierten Krapfen mit einer Kerze darin. Am Morgen hatten sie und mein Vater mir je eine Nachricht zu je etwa siebenhundertfünfzig Zeichen geschrieben, mich aber nicht gemeinsam angerufen. Das war okay, fühlte sich aber nicht gerade wie eine Liebeserklärung an. Aus einer nostalgischen Anwandlung heraus begann ich Fotos an die Wände zu kleben. Von meiner Einschulung, dem ersten Erdbeereis, einem Tag mit Papa auf dem Deutsch-Amerikanischen Volksfest in Berlin und mit meiner Mutter beim Kuscheln auf unserem alten Ledersofa, das ich im Übrigen auch vermisste.
Am Nachmittag klopfte es und da stand Amanda in Siegerpose in der Tür und ich war noch verheult und sie sagte: Party!
Und ich: Was?
Und sie: In der anderen WG.
Wir schminkten uns also und ich benutzte Amandas Parfum und steckte ein Kondom ein und die Olympus XA von meinem Vater, um eventuell neue Erinnerungen für die Fotowände in meinem neuen Zimmer zu produzieren. Wir nahmen auch Konfetti mit, wofür auch immer.
Die Essenz des Abends war ein Typ namens Malte. Er trug keinen Sidecut, kein Piercing oder selbstgestochenes Tattoo, keine Plateauschuhe, nur diesen halbwegs sonderbaren Namen, von dem er selbst nicht wusste, ob es sich dabei um einen Jux seiner Eltern gehandelt hatte. Ich knipste mein erstes Foto und lud nach. Malte erklärte, er versuche Experte in etwas zu werden. Er war jetzt zwanzig und für Hebraistik und Französisch eingeschrieben, weil das von den Leistungen grundsätzlich so gepasst hatte, beziehungsweise weil dafür keine Note nötig gewesen war. Ich erzählte ihm von einer suizidalen Phase meiner späten Kindheit. Nicht aus Taktlosigkeit, sondern weil ich das Gefühl hatte, es wäre das richtige Gespräch. Es war mein zwölfter Geburtstag und ich tat, wovon ich wusste, dass man es nicht tut, sich eine Badewanne einlassen, den Fön anschalten, aber das wollte ich und ich sprang ins Wasser, aber zum Glück sprang die Sicherung raus und meine Mutter fand mich und dann musste ich fast ein Jahr lang jeden Mittwoch zur Kinderpsychologin Frau Darrendorf und durfte kaum noch was alleine machen. Malte nickte und das Gespräch war so ziemlich tot.
Wir organisierten Dosenbier und versteckten uns in einem Zimmer, in dem jemand schnarchte, obwohl die Wand vom Bass vibrierte. Wie alt bist du? Siebzehn. Und trotzdem hast du keine Zeit für Smalltalk. Ich zuckte die Achseln, doch das dürfte Malte im Dunkeln nicht gesehen haben. Anstatt uns zu befummeln, redeten wir weiter über unsere Leben. Malte meinte, mindestens zwei Jahre ginge das noch mit dem Studium. Eigentlich würde er sich gern engagieren, irgendwo, vielleicht Iran. Sein Vater starb an einer Lungenembolie als Malte sechs war. Off-topic, aber du hast damit angefangen. Und was heißt das jetzt, fragte ich. Das heißt, ich habe mir geschworen, ab fünfunddreißig keine Kinder mehr zu zeugen. Darf ich ein Foto von dir machen? Der automatische Blitz gab uns für einen Augenblick lang Orientierung.
Wir gingen dann mit Amanda nach Hause und Malte schlief bei mir im Bett, aber nicht mit mir, was sicher gut so war. Wir aßen Frühstück; Malte holte Brötchen, O-Saft und Croissants. Amanda hatte sich verkrümelt, so waren wir zu zweit und ich erzählte Malte, was ich über offene Beziehungen gelesen hatte. Ob er da generell drauf Lust hätte. Wüsste er nicht. Ja, dann überleg halt. Mache er dann.
Wir gestalteten unsere offene Beziehung so, wie ich es gelesen hatte. Nach Bauplan quasi. Ich war Maltes erste Freundin und die ersten Male war es verkrampft und Malte stotterte Entschuldigungen und hielt sich die Hände vors Gesicht und die Decke über seinen schlaffen Schwanz. Doch nach einigen Malen klappte es besser und dann richtig gut. Er mochte es, wenn wir Nachrichten dabei hörten, das lenkte ihn ab, führte aber auch zu seltsamen Konstellationen. Fürstengrab in Dieskau entdeckt. Fick mich! Stau auf der A9. Härter, bitte. Ich komme. Ich auch. Bundesdatenschutzgesetz tritt in Kraft.
Malte begann, dieselben Bücher zu lesen wie ich. Weil er aber ein bisschen zu beeindruckt war von meiner scheinbaren Expertise, verriet ich ihm ein schmerzliches Geheimnis, nämlich dass ich den eigentümlichen Gedanken Knausgårds, Hustvedts und Bolaños nur deshalb lauschte, weil ich hoffte, es würde mich ebenso gewitzt und klug machen, dabei fühlte sich jeder Satz zugleich auch wie der Beweis für meine eigene geistige Unzulänglichkeit an. Im Ergebnis beeindruckte das Malte noch mehr, weshalb ich es aufgab, Malte nicht beeindrucken zu wollen und es einfach zu genießen versuchte, mal nichts für die Anerkennung eines anderen Menschen tun zu müssen. Ich beschloss, diese Strategie auch anderen zu empfehlen, denn es tat wirklich gut.
Was das offene Element unserer Beziehung anbetraf, blieben wir, das glaube ich, beide recht verhalten. Es ergab sich nichts und trotzdem behielten wir das Prinzip bei. Wir gaben uns Mühe, es mit anderen zu versuchen. Malte vielleicht mehr aus Pflichtbewusstsein, weil klar war, dass mir die Sache was bedeutete. Ich brauchte ihm nicht mal dankbar sein. Die Fotos in meinem Zimmer zeigten nun immer öfter uns beide. Gerade weil es so schön kitschig war, malte ich um unsere Köpfe Herzen mit Lippenstift. Kurz dachte ich darüber nach, ob wir dann auch bald heiraten würden, wenn es so märchenhaft weiterginge mit uns, und dieser Gedanke war ein Wendepunkt.
Das Gute an Malte zu sehen war leicht, vielleicht aber reichte das nicht aus, und ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich es nicht besser wie in der Schule handhaben sollte, wo ein ‚gut‘ einen Heulkrampf bedeutet hatte. Klar, theoretisch war das passé und theoretisch widersprach die Bewertung von Beziehungen auf einer Notenskala jedem Menschenverstand. Aber war ich zehn Jahre sehr gut gewesen, um mich nun mit Malte gegenseitig zu befriedigen? Vielleicht. Dann war das wohl auch der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit; sagen zu dürfen: Ich will das! Ich will befriedigt sein. Aber irgendwie fiel es mir schwer, daran zu glauben.
Neuerdings meinte Malte, sich von der Literatur verstanden zu fühlen und sie dadurch seinerseits besser zu verstehen. Manchmal kam er mir wie ein Erleuchteter vor, hielt mir Vorträge zur Liebe zur persischen Dichtung, die er in sich entdeckt hatte und nun kultivieren wollte. Er bezeichnete mich auch im Scherz als Plünderin der Stadtbibliothek. Das klang nach Völkerschlacht und also fragte ich nach. Nun ja, ich hätte Nietzsche nur deshalb gelesen, weil ich aus Röcken käme, wie er. Das stimmte vielleicht, aber warum sagte er mir das? Ich hätte Nietzsche nicht mit Weitblick, sondern nur aus der Perspektive eines geografischen Nesthäkchens zwischen Brocken, Vogtland und Erzgebirge gelesen. Nur weil Malte aus Berlin kam. Es war der Schlusspunkt unserer Beziehung.
Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag riefen meine Eltern mich an, um mir mitzuteilen, dass sie sich trennen wollten. Wie wohl viele Töchter vor mir versuchte ich, es ihnen auszureden. Es funktioniert doch im Wesentlichen alles ganz gut. Ja, Isabell, sagte meine Mutter, aber gut reicht manchmal eben nicht aus. Schachmatt, hätte sie noch hinzufügen können, aber ich war schneller und legte auf. Fünf Minuten später rief ich wieder an und verkündete bitterlich, dass ich den Zug um sieben nähme und Kassler mit Sauerkraut zum Abendbrot. Ich packte Nietzsche ein, doch die XA ließ ich nach einigem Hin und Her auf dem Bett liegen.
In Weißenfels holten sie mich ab und bis nach Röcken lauschten wir dem Scheibenwischer und Blinkerknacken. Statt Kassler gab es gemischtes Gemüse. Es war ein Konzert von Schneid- und Spießgeräuschen auf Porzellantellern. Ich suchte nach dem richtigen Moment, ein paar Worten vielleicht, aber fand nichts Passendes. Dafür räusperte mein Vater sich und sagte: Das Bett ist schon gemacht. Noch ein, zwei Zucchinischeiben aß ich und auch etwas von der Aubergine und dann erklärte ich, dass ich, wenn es ihnen nichts ausmache, nach dem Essen gerne wieder nach Hause wolle, und natürlich betonte ich das ‚nach Hause‘ und natürlich hatten sie nichts dagegen. Kurz nach zwölf in Leipzig setzte ich mir das Sternenhütchen auf und durchsuchte Youtube nach Michael Jackson. Eine Supernova und Hand voll Sternenstaub später war ich achtzehn.
Es stellte sich heraus, dass meine Mutter ihn verlassen hatte. Seit er nun vom Arzt zum Heilpraktiker geworden war, ernährte er sich hauptsächlich von Smoothies: Staudensellerie, Winterrettich und Rote Beete. Er glaubte an die Intelligenz würzigen Gemüses, die auf einen selbst überginge, wenn man solches verzehre. Das war ein regelrechtes Aufblühen. Nur an seinem Problem, Fehler nicht eingestehen zu können, änderte sich nichts. Meine Mutter war nach Weißenfels gezogen. Dass sie vor meiner Schwangerschaft ein Kind abgetrieben hatte, erfuhr ich in einem Nebensatz meines Vaters. Machte das mein Leben wertvoller? Wahrscheinlich. Statistisch gesehen. Neben der Rechthaberei hatte es meiner Mutter missfallen, dass ihr Mann sich zunehmend zu einer Figur aus einem Bastei Arztroman entwickelt hatte. Ein Dorf, seine Menschen und ihr Doktor. Es war besser allein, nein, es war die einzige Möglichkeit in dieser Welt, sein privates Glück zu finden.
Bis zu meinem nächsten und vorletzten Geburtstag verging eine Zeit der Inkubation. Ein erstes Symptom war der Wunsch, die Fotos von den Wänden meines Zimmers zu nehmen. Mit der Olympus zusammen verstaute ich sie in einer Schachtel aus grauem Karton. Die Bücher: alles, was ich bis dahin gelesen hatte, ob Gedichtband, Biografie oder Bastei Arztroman kam in die Verschenkekiste und auf den Bürgersteig. Manches gelangte von dort wieder nach Hause, weil Amanda es haben wollte. Ich aber hatte es von mir gewiesen und jetzt war mein Zimmer schon etwas leerer und ich legte mich zwischen die Sachen, die noch übrig waren, und atmete und spürte, wie alles wie ein Gletscher zu schmelzen begann.
Als Nächstes war Malte fällig; seine Fotos verschwanden in derselben grauen Schachtel. Die Wände waren wieder blank und das Bücherregal und die Schreibtischschubladen und der Chatverlauf und der Desktop sowieso und der Papierkorb auch. Dieses Geräusch von zusammengeknülltem Papier. Das Bettzeug weiß und das Laken mit kaffeebraunen Menstruationsflecken und die Decke über dem Kopf und die Haare, die auf dem Kissen bleiben, und der Geruch von Schlaf und Achselschweiß und Tränen und dem Essen, das man nicht mehr wegräumt, und plötzlich ist da, wo mal Wände voller Erinnerungen waren, nichts als Dreck und Gestank übrig. Mein letztes Geld floss in eine Spedition. Die Schachtel samt Fotos und XA schickte ich ohne Absender über den Ozean an eine mir unbekannte Adresse in Chile.
Jetzt bin ich angekommen. Bei Laura, Egon und Rashid. Zeitz, zwischen Erzgebirge, Vogtland und Brocken. Die Heizung klumpt, aber es ist ja schon Mai und nein, ein Fotoalbum ist das nicht wirklich, aber so etwas ähnliches vielleicht. Du bist jetzt zwanzig. Herzlichen Glückwunsch! Ein paar Leute, die vielleicht noch keine Freunde sind, haben dir einen Kuchen gebacken, ein Anfang. Kein Grund, wehmütig zu werden. Ich will nicht so tun, als würde ich nicht wollen, dass meine Eltern mich anrufen. Meine Mutter hat kaum noch was mit mir zu tun. Sie kann oder möchte sich nicht mehr so sehr um andere kümmern. Selten spreche ich mit meinem Vater. Es geht um Gemüse, Patientinnen und um Marie, die er vor mir schon lange nicht mehr Mama nennt. Vielleicht werden sie mir später noch je eine Nachricht schreiben. Dann flicke ich vielleicht gerade ein Loch im Boden oder einen Riss in der Wand. Jetzt gehe ich erst mal eine rauchen.