Was ist neu

zehn schritte bis zum kindheitshaus

Mitglied
Beitritt
06.11.2003
Beiträge
4

zehn schritte bis zum kindheitshaus

Eine Pferdekoppel hoch oben auf einem Berg. Ein rostfarbenes Tor und ein Zaun. Es gibt Brombeergewächse hoch oben auf dem Berg und auch Gräser, wie an der See. Im Sommer stehen zwei Pferde auf der Pferdekoppel und das Kind das Kind isst die Brombeeren vom Brombeerstrauch.
Das Kind steht am rostfarbenen Tor und kann sich nicht entscheiden, ob es das schwarze Pferd lieber mag als das braune. Ihr Vater sagt, der eine ist ein Wallach. Das Kind isst Brombeeren vom Brombeerstrauch und sagt Wallach. Wallach. Das Kind trägt am Wochenende Rumstrommerjeans und die Hände sind brombeerblau. Der Vater zündet am Abend ein Feuer an und dann kommt die Mutter von der Arbeit aus der Stadt. Das Kind hat brombeerblaue Hände und einen brombeerblauen Mund und die Mutter lächelt. Das Kind rennt in Rumstrommerjeans durch die Gräser.
Im Sommer die Pferdekoppel hoch oben auf dem Berg und ein kleines Haus hoch oben auf dem Berg, ein Gartenhaus und Bäume und Gräser und nirgends ein Zaun. Es gab einen Weg, der führte von dem Gartenhaus an der Pferdekoppel vorbei in den Wald zum Fluß und dann durch die Felder in die Stadt. Der Weg war wie für sie gemacht. Im Sommer sind sie ihn öfter gegangen - wegen dem Gartenhaus, dem kleinen. Im Winter war der Weg verschneit und kaum zusehen zwischen den Feldern. Das war gut für das Kind, da hat das Kind nicht so oft an den Wallach gedacht. Die Mutter wußte genau, wo der Weg liegt. Im Sommer die Pferdekoppel hoch oben auf dem Berg und im Winter Stadtkälte und keine Brombeeren, die das Kind so mag. Enge Häuser und enge Strassen und enge Gärten und überhaupt. Im Winter das Warten an der Haltestelle, der Bus, der einem in die Stadt bringt. Lernen ist wichtig, sagt der Vater. Der Winter ist ein Warten auf den Sommer und die Mutter schreit manchmal und der Vater schweigt manchmal und er hat Tränen auf den Wangen und im Bart hängen und die Mutter redet von Freiheit und das Kind weiß nicht, wo dieser Ort liegt.

Die Mutter ist gestorben an einem Februartag, es war arschkalt. Der Vater hat Tränen. Das Kind will zum Wallach. Es liegt Schnee. Die Füsse sinken ein, bei jedem Schritt. Wallach. Wallach, sagt das Kind und der Vater sagt, ja. Der Vater nimmt das Kind an die Hand und der Weg ist weiter, als im Sommer, aber vielleicht erscheint er ihr auch nur so. Das Kind ruft: Wallach. Wallach. Der Vater weint. Wo ist der Wallach, fragt das Kind. Im Stall, sagt der Vater und denkt, jetzt ist das Kind bestimmt enttäuscht. Das Kind lächelt, weiß es doch, der Wallach würde frieren im Schnee. Vaters Tränen schwimmen. Wenn die Mama kommt, machen wir dann Feuer, fragt das Kind, weil heute irgendwie alles anders ist und da könnte man ja auch ein Feuer machen, denkt das Kind. Die Mama kommt nicht, sagt der Vater. Das Kind weint nicht.
Wenn man die Hand tief in den Schnee taucht wird sie erst rot und kalt und später fängt sie an zu glühen. Wenn man reitet schwitzt man am Rücken und die Beine sind warm. Die Gräser schmeckten nach Glück und manchmal spielten sie Maumau zu dritt. Wenn sie nicht schlafen gehen wollte, versteckte sie sich unter dem Rhododendrenstrauch. Und wenn sie nicht mehr weiter laufen wollte, legte sie sich auf die Erde. Manchmal war es schon dunkel, bis die Mutter kam und wenn man vom Berg hoch oben ins Tal schaute, sah man die Lichter in den Häusern ausgehen.

An einem Ofen sitzen und erwachsen werden. Im Schwimmbad schwimmen gehen. In einem Zimmer sitzen und denken. Im Schwimmbad schwimmen gehen. In einem Café sitzen und Tee trinken. Im Schwimmbad schwimmen gehen. Durch Strassen laufen und Lampen zählen. In einem Geschäft stehen und Obst kaufen. In einem Schwimmbad tauchen gehen. Kurz unter der Oberfläche.
Die Frau wollte nicht verstehen.
Herbst und sie zieht weg. Zehn Minuten bis zum Kindheitshaus. Eine Kreuzung, geradeaus, die dritte links, die Backsteinmauer zur rechten, hinten der alte Rhododendronstrauch. Gegenüber die Haltestelle. Dort die Felder, dann kommt der Wald, der Fluß. Der Fluß fließt durch den Wald, hoch oben liegt die Pferdekoppel auf dem Berg, das rostfarbene Tor, das Gartenhaus. Ein letztes Mal Sommer und dann nur noch Stadtkälte.
Niemand hat mich gerettet.
Ich bin leer. Ich bin voll. Ich kann nicht mehr tief tauchen, seit.
Ich esse Obst, aber nie Brombeeren. Ich sitze in Cafés und starre auf die Tischblatten, ich gehe schwimmen. Ich denke an Pferdekoppeln, an den Wallach, das rostfarbene Tor. Februar und der Wallach war im Stall. Ein Rhododendrenstrauch trägt im Februar keine Blüten. Ich bin leer. Ich bin voll. Ich mag keine Blumen. Ich mag keine Brombeeren. Ich bin nie wieder geritten. Der Rhododendrenstrauch trug nie mehr Blüten. Und nichts anderes ist in meinem Kopf.

Das Kind hat nicht geweint. In der Stadt ist der Schnee nicht so weiß, wie auf der Pferdekoppel. Sich festhalten an Schwimmbeckenrändern, an Tischkanten und immer denkend. Keine Blumen in keinem Zimmer. Im Schlaf der Weg durch den Wald. Sah sie doch den Fluß, so groß und so breit und so weit und träge. Aufwachen und Wasser trinken ist nicht möglich und schwimmen gehen ist nicht möglich und der Atem schnell und keuchend. Sie fängt an Kreuzungen zu zählen, will sie doch ankommen. Die Frau hat nicht geweint.
Ich weine nie, sagt sie vor sich hin, an einen Türrahmen gelehnt.

Der Vater wird krank. Das Schwerste ist der erste Schritt, der erste Blick ist auf den Boden gerichtet. Rhododendrenstrauch ohne Blüten, wie gehabt. Der Vater sitzt im Stuhl, Augen durchdringen Wände. Gegenüber ist die Haltestelle. Dort die Felder, dann kommt der Wald, hoch oben auf dem Berg die Pferdekoppel, das Gartenhaus, ein Weg vorbei am Fluß. Der Vater streckt die Hand aus, sag etwas, Mädchen. Des Vaters Hand zittert. Der Fluß, der Fluß, der Fluß. Schnee taut und Vaters Hände zittern bei jeder Bewegung. Sie läuft, rennt, stolpert die Schritte, den Weg zur Pferdekoppel hinauf, kein Pferd, kein Wallach, nirgendwo, die Pferdekoppel liegt verlassen, das Gartenhaus seit Jahren unbenutzt. Überall Brombeeren. Die Gräser bis zu den Knien. Den Wallach haben sie eingeschläfert. Sie weint. Wollte doch die Mutter ertrinken im Fluß.

 

nun, nun. ersteinmal eine detailkritik:

"Im Sommer stehen zwei Pferde auf der Pferdekoppel und das Kind das Kind isst die Brombeeren vom Brombeerstrauch."
Hab ich hab ich da was da was nicht verstanden?

Rumstrommerjeans? ist das richtig? würde ich würde sagen, man 'stromt' in denen.

"Wenn man die Hand tief in den Schnee taucht(komma) wird sie erst rot und kalt"
"Wenn man reitet(komma) schwitzt man am Rücken und die Beine sind warm. "

"Aufwachen und Wasser trinken ist nicht möglich und schwimmen gehen ist nicht möglich und der Atem schnell und keuchend."
diese konstruktion gefällt mir.

nun zum eigentlich wichtigen.

dein stil ist natürlich sehr kunstvoll gefertigt; auch mich wirkt es wie intuitiv geschrieben und dann mehrmals bearbeitet, richtig gerrückt. am auffälligsten sind dabei die gleichmäßig bis eintönigen öinearen satzstrukturen. des weiteren die beschränkung auf eine handvoll satzelemente (vor allem im ersten teil), die immer wieder variiert (vielleicht hast du ja an ein musikstück gedacht, mith themen, themenentfaltung etc) und neu kombiniert werden.
schlussendlich die vollständige innerlichkeit des textes (im kopf der prot.).

all dies lässt den text zusammen sehr distanziert wirken; durch diegleichmäßige, ich weiß jetzt nicht, ob dass das wort ist, 'rythmik' wirkt der text aber auch eindrücklich, ein wenig wie eine beschwörung, ein mantra.

der dabei transportierte inhalt ist mir möglicherweise nicht ganz klar geworden.
chronologisch aufgezählt, was ich so verstandenhabe: ein mädchen spielt hat ein lieblingspferd, die eltern sztreiten sich, das mädchen geht baden, die mutter ertränkt sich, das mädchen erleidet ein trauma, die frau kehrt zurück an den ort ihrer kindheit, wo das lieblingspferd ganz und der vater fast tot sind.
schon traurig, das ganze.

berührt hat es mich weniger; wenn, dann nur dein sehr 'wirksamer', aktiver stil, der irgendwie schon in die geschichte hineinzieht.
die charaktere dagegen bleiben fern, fremd, undurchschaubar und irgendwie auch banal.
irgendwie sehe ich nicht die tragik, den witz, die inspiration in der geschichte. höchst leblos, das ganze: auch teils ja ein zwangsläufiger nebeneffekt des gewählten stils.
dieser allerdings ist und bleibt sehr kunstvoll.

ich verbleibe gespaltener meinung und hoffe, du bist nicht gekränkt wegen der kritik an diesem sicher sehr arbeitsintensiven werk...

nachtrag: "arschkalt" empfand ich als doofen stilbruch.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom