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Zahnschmerzen

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02.01.2002
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Zahnschmerzen

"Mach ganz schnell", hatte Ma ihm am Nachmittag geraten, "es tut kaum weh, wenn man einen Milchzahn verliert. Du bist dann alle Schmerzen los."

Timmy seufzte. Warum war er nur so ein Hasenfuß.

Zaghaft befühlte er mit der Zunge den losen Zahn. Es kostete ihn gar keine Mühe, ihn hin und her zu schieben.

Timmy nahm seinen Mut zusammen und fasste mit einem Finger in den Mund. Im ersten Berührungsmoment zuckte er unwillkürlich, doch dann merkte er, dass es nur ein wenig zwickte den Zahn anzufassen und leicht zu bewegen. "Nur ein kurzer Ruck", hatte seine Mutter gemeint, dann sei alles vorbei.

Sein Banknachbar Georg in der Schule hatte das gleiche gesagt.
"Hat kaum wehgetan!", hatte er vor drei Tagen geprahlt und dabei die Pennies herumgezeigt, die er am nächsten Morgen gefunden hatte.

Von ihm wusste Timmy allerdings auch, dass es nicht die Zahnfee war, die das Geld dort hinterließ. Georgs große Schwester hatte ihrem kleinen Bruder verraten, dass in Wahrheit seine Mutter nachts ins Zimmer schlich, den Zahn mitnahm und etwas Kleingeld aus dem Portmonee unter das Kissen steckte.

Georg hatte auf diese Offenbarung mit Tränen reagiert, aber Timmy machte das nichts aus. Er ahnte schon lange, dass seine Eltern auch beim Weihnachtsmann irgendwie die Finger mit im Spiel hatten.

Seine Backe begann wieder zu pochen. Er verzog das Gesicht und griff nach dem Waschlappen, den er sich am Abend vorsorglich zurechtgelegt hatte. Als er ihn gegen die heiße Wange drückte, stellte er fest, dass die Feuchtigkeit bereits getrocknet war.
Timmys Blick fiel auf die Leuchtziffern seines Weckers: Mitternacht vorbei.

Er seufzte. Dies würde eine lange Nacht werden.

Behutsam schob er sich Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und befühlte sein Ziel. Timmy atmete tief durch die Nase ein, schloss unwillkürlich die Augen und riss seine Hand mit einer schnellen Bewegung zurück. Eine Sekunde lang jagte ein stechender Schmerz durch seinen Mund, doch er ebbte sogleich wieder ab.
Erleichtert öffnete der Junge die Augen und legte das nasse kleine Ding unter sein Kopfkissen.

Der Eisengeschmack in seinem Mund ekelte ihn zwar ein wenig an, aber er war zu müde um aufzustehen und ihn auszuspülen.
Stattdessen kuschelte er sich ein und genoss das kribbelnde Gefühl in seinem Zahnfleisch, das gewiss die Heilung ankündete.

Tapp.

Ein Geräusch riss Timmy aus seinem Dämmerzustand.

Tapp.

Er zwinkerte verwirrt. Was war das? Schritte?
Hastig sah er auf seinen Wecker - es waren kaum ein paar Minuten vergangen. Vielleicht musste sein Vater oder seine Mutter zur Toilette?

Tapp.

Eindeutig ein Schritt. Aber nicht in Richtung Badezimmer.

Tapp.

Die Schritte kamen in seine Richtung.

Timmy musste grinsen. Er hätte wissen müssen, dass seine Mutter nichts dem Zufall überließ.
Obwohl er heute Nachmittag unter lautem Protest abgelehnt hatte, sich den Zahn selber rauszuziehen, hatte sie wohl geahnt, dass er es dennoch wagen würde. Und nun wollte sie Zahnfee spielen, um ihm eine Enttäuschung am nächsten Morgen zu ersparen.

Timmy zog sich die Decke bis über die Ohren und bemühte sich möglichst ruhig zu atmen.
Ma durfte auf keinen Fall etwas merken.

Tapp.

Jetzt stand sie offenbar genau vor seinem Zimmer. Statt eines erneuten Schrittes hörte er, wie die Klinke langsam hinuntergedrückt und die Tür geöffnet wurde.

Tapp.

Es waren nur drei Schritte bis zu seinem Bett. Sie musste ganz nah bei ihm stehen. Sein Atmen erschien ihm viel zu laut. Hoffentlich fiel es ihr nicht auf!

Tapp.

Klick.

Um ein Haar hätte er geblinzelt. Was war das für ein zweites Geräusch? Es klang seltsam scheppernd. Hatte seine Mutter irgendetwas umgestoßen? Seinen Beutel mit Murmeln vielleicht? Aber dafür war es wiederum zu gedämpft gewesen.

Tapp.

Tapp.

Sein angespannter kleiner Körper wartete auf die Hand der Mutter und den beruhigenden Kamilllenduft ihrer Creme.
Bleib noch einen Moment ruhig; gleich greift sie unter dein Kissen und nimmt den Zahn mit und legt ein paar Pennies dazu. Tu einfach nur so, als ob du schläfst.

Er hörte ein Atmen, das nicht von ihm selber stammte. Es klang laut und schleifend, wie bei einem Asthmatiker. Ein Schauer überzog Timmys Haut.

Ma? wollte er fragen, aber seine Kehle war wie ausgetrocknet, kein Ton wollte ihr entrinnen.

Mama ... Mama ...?

Erneutes Schnauben. Nicht Mama. Irgendetwas, aber nicht Mama.
Oh mein Gott, irgendetwas.

Tapp.

Es stand direkt neben ihm. Timmy spürte, wie sein Herz den Brustkorb ausfüllte; spürte, wie es immer schneller und schneller schlug, wie es größer und größer wurde und sich ausdehnte, bis es in seinem Hals klopfte.

Tapp.

Murmeln ... Irgendjemand spielt mit meinen Murmeln, dachte er in konfuser Panik, obwohl er wusste, wie absurd es sich anhörte.

Ein Klirren.
Ein Scheppern.
Schwere Atemzüge.

Etwas streifte Timmys kleines Gesicht. Nicht Mamas Hand.

Tausend Gedanken schossen dem Jungen durch den Kopf und eine innere Stimme beschwor ihn unablässig, sich nicht zu bewegen. Eine heiße Träne tropfte von seiner Wange. Nur mit Mühe hielt er einen erstickten Schluchzer zurück.

Tiefes Röcheln erfüllte den Raum.
Oh mein Gott.

Nässe, Kälte, Modergeruch.
Tote Fische.

Direkt an seinem Gesicht vorbei. Unter das Kissen.
Gott.

Knistern.
Klirren.

Tapp.

Ein Schritt zur Tür.

Die Stimme schrie und schrie ohne Unterlass; sie war in seinem Kopf, sie war überall und alles rauschte und er verstand kaum noch was sie sagte - und dann tat er es einfach und öffnete die Augen, nur einen Schlitz, um zu sehen, was sein Verstand nicht sehen wollte und was sein Herz zum Rasen brachte.

Gnädige Dunkelheit, die nur einen Schatten dessen preisgab, was sich mit schweren Schritten aus seinem Zimmer entfernte und die ihn nur einen flüchtigen Blick auf den riesigen Sack auf dem Rücken werfen ließ.

Klick.

Keine Murmeln.

Zähne.

Milchzähne.

 

Hi
Also ich fand die Geschichte spannend, ich hätte eigentlich gedacht das die Person wirklich die Mutter ist und er sich das andere alles nur einbildet!

Es wurde zwar schon öfters gesagt aber auch ich fand das "knack" und "klirr" nicht so passend gewählt!

Aber ansonsten hat mir die Geschichte gut gefallen, ein guter "Snack" für zwischendurch!

 

Hally Ginny,

ich fand die Geschichte auch spannend und hatte am Ende sogar eine klitzekleine Gänsehaut...

Also ich finde das schon irgendwie gruselig. Scheint ja nicht grad ne nette, hübsche Fee mit spitzem Hut und Zauberstab zu sein... Hat mich eher an die Gestalten erinnert, die früher Nachts in meinem Kinderzimmer rumgeschlichen sind... :sconf:

@relysium
Deine Beschreibung von der scheinbar endlosen Wendeltreppe hat mich spontan an eine Geschichte von Stephen King (? Schlag mich nicht, wenns doch Koonz war) erinnert. Da findet ein Pärchen in seinem neuen Haus eine Kellertür mit einer Treppe, deren Ende sie nicht sehen können... Und die ist verdammt gruslig!

Übrigens: Woher weißt Du eigentlich, wie sich ein Sack voller Zähne anhört?? :naughty:

 

Hallöchen K-Revenger und raven,

Danke fürs Lesen. :-)

@Revenger: Aus dem "Knack" hab ich mittlerweile ein "Tapp" gemacht; was mit dem "Klirr" geschieht muss ich mir noch mal genauer überlegen ...

ein guter "Snack" für zwischendurch!
Hehe. Mir wäre dabei ja eher der Appetit vergangen ... ;-)

@raven: Richtig schockierende Horrogeschichten wollen mir einfach noch nicht gelingen (wenn ich auch dran arbeite), aber eine "klitzekleine Gänsehaut" zu erreichen ist auch schon was. *g*

Das mit der Wendeltreppe ... klingt verdammt nach "Unten in der Dunkelheit" von Dean Koontz (*schlag* :D). Ich halte sonst nicht so viel von Koontz, aber diese Story finde ich klasse. :-)

Ginny

 

Geschrieben von raven
@relysium
Deine Beschreibung von der scheinbar endlosen Wendeltreppe hat mich spontan an eine Geschichte von Stephen King (? Schlag mich nicht, wenns doch Koonz war) erinnert!

Bei Interesse an dieser Treppe Mail an mich.

Übrigens: Woher weißt Du eigentlich, wie sich ein Sack voller Zähne anhört?? :naughty:

Ich sammle die Gebisse meiner toten Feinde, harhar.

Aber nun mal im Ernst: Zähne sind Mineralien. Steine. Nimm einen Sack und fülle ihn mit kleinen Kieseln. Dann hast du das Geräusch, das Zähne im Sack machen. Und es unterscheidet sich tatsächlich nicht vom Geräusch, den dieser Sack machen würde, wenn du ihn mit Legosteinen füllst.

r

 

Hallo, Ginny.

Du hast es fertiggebracht, auf ein paar Seiten mehr Horror zu erzeugen, als der Film <<Darkness Falls>> in 78 Minuten.
Ausserdem hast du es geschafft, ein dichte Geschichte auf gerademal 2 Quadratmetern spielen zu lassen.
Schreib Drehbücher!


bis bald,


Jack.

 

@ relysium/ off-topic, (hätte ich dir lieber als PM geschickt, aber du hast keine PM-Adresse)

Die geheimnisvolle lange Treppe wird in verschiedenen Geschichten zitiert, in sofern musst du dich schon ziemlich anstrengen, der Sache etwas Neues abzugewinnen. Selbst hier auf kg.de gibt es eine Version (ich glaube, sie war von menedemos, bin mir aber nicht sicher).

Das Treppensujet ist natürlich nach wie vor reizvoll, in der Tat gruselig. Man sollte sich nur darüber im Klaren sein, dass man sich auf abgegrastem Gebiet bewegt, aber dass kann natürlich auch eine Herausforderung sein, einen neuen Aspekt ins alte Thema zu bringen.

lg Pe

 
Zuletzt bearbeitet:

Geschrieben von petdays
@ relysium/ off-topic, (hätte ich dir lieber als PM geschickt, aber du hast keine PM-Adresse)

Guck mal im Benutzerprofil, "E-Mail an relysium senden".
Bei dir funktioniert das leider nicht (Dieser Benutzer möchte keine E-Mails über die Webseite erhalten, blablabla.), sonst würd ich das alles wegen off-topic gar nicht mehr hierher schreiben.

Die geheimnisvolle lange Treppe wird in verschiedenen Geschichten zitiert, in sofern musst du dich schon ziemlich anstrengen, der Sache etwas Neues abzugewinnen. Selbst hier auf kg.de gibt es eine Version (ich glaube, sie war von menedemos, bin mir aber nicht sicher).

Es handelt sich um einen 5-bändigen Fantasyhorror-Zyklus; die Treppe kommt zwar vor, spielt aber nicht die zentrale Rolle in der Geschichte. Etwa wie eine Pistole in einem Krimi wichtig ist, aber nicht originell sein muß.

Hab jetzt auch einen Fantasy-Beitrag geschrieben. Der ist im Universum dieses Zyklus angesiedelt.

So, genug off-topic. Sorry an alle, die das vielleicht nicht interessiert hat.

@Ginny: schön, daß du die Geschichte editiert hat. Ist so wesentlich dichter geworden. Zwei Hinweise auf die Zahnfee hast du allerdings noch drin, am Anfang und in der Mitte.
Meine Empfehlung wäre es, auch diese zu entfernen, und stattdessen ans Ende eine Andeutung einzufügen; z.B. daß statt des Zahnes eine Münze daliegt oder sowas.

r

 

Hi Jack,

Schreib Drehbücher!
*g* Nun, viele meiner älteren Geschichten sind so dialoggespickt, dass sie glatt als ein solches durchgehen würden. ;-)
Den Film "Darkness Falls" kenne ich zwar immer noch nicht, aber wenn Du meine Story gruseliger fandest gefällt mir das auf jeden Fall.
Danke für's Lesen!

@relysium: Das "Klirr" wurde in ein sanftes "Klick" umgewandelt - was Besseres fiel mir da bislang nicht ein, aber es kommt auch nur ein- oder zweimal vor.
Ob ich die Zahnfee ganz streiche und dafür das Ende ummodeliere, weiß ich noch nicht - aber ich lasse mir Deinen Vorschlag durch den Kopf gehen. Derzeit hänge ich noch zu sehr an der alten Version; vielleicht seh ich klarer, wenn ich mich davon etwas gelöst habe ...
Die Idee ist aber auf jeden Fall gut!
Ich teste erstmal eine solche Version für mich; wenn sie mir gefällt ändere ich's auch hier ...

Danke!

Ginny

 

Hallo Ginny-Rose,

wollte mal lesen was Du so schreibst, da es allerdings so viele Geschichten sind, Neid :), hab ich per Zufall entschieden.

Ich hatte wirklich Mitleid mit dem Jungen. Super gelungen. Der Gänsehaut faktor kam auch ziemlich gut bei mir an.

Nur der Fischgeruch ist mir nicht ganz klar. Woher kommt der? Von Ihrem Mundgeruch her oder ist die Zahnfee am Ende ein Fischwesen?

Gruß Christine

 

Hi Shimba!

Nett, dass Du eine meiner Stories rausgekramt hast.
Und bitte keinen Neid, etwa die Hälfte meiner Geschichten kann man in die Tonne kloppen, so dolle sind die nicht. :D
Da hast Du hier wohl noch eine meiner besten erwischt ...
Der Fischgeruch: Ich stelle mir die Zahnfee als ziemlich ekliges, behaartes, in dreckige, feuchte, vermoderte Lumpen gekleidetes Ding vor, im Sack die blutigen Zähne die salzig riechen (bwäh) und der Junge assoziiert als erstes tote Fische.

Ich freu mich, wenn Dich meine kleine Geschichte unterhalten hat. :-)

Ginny

 

Cool gemacht, danke für diesen Thrill; schön, wie Du das Erleben bis zuletzt ins Phantastische hebst, ins horreur de raison. :thumbsup:
eco

 

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