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Wut

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02.01.2011
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Wut

Er rief mich an, da war es mitten in der Nacht. Ich brauchte zehn, zwanzig Sekunden, bis ich bei klarem Verstand war, aber als ich seinen Namen auf dem Display erkannte, wusste ich sofort Bescheid. Ich setzte mich auf die Bettkante, fuhr mir durch die Haare und blickte einen Augenblick aus dem Fenster. Draußen war es tiefschwarz, sternenlos, bloß das weiße Licht der Straßenlaterne fiel auf den Gehweg und das Wohnhaus gegenüber. Hinter mir hörte ich meine Freundin atmen, langsam und gleichmäßig. Ich strich ihr über die Wange, dann nahm ich ab.
An seiner Stimme erkannte ich sofort, dass wieder etwas nicht stimmte. Er fragte mich, ob ich schon geschlafen hätte, er fragte mich, ob ich morgen arbeiten müsse. »Nein«, sagte ich, dann: »Was gibt’s?« Ich schloss die Augen und gähnte, ich konnte es nicht zurückhalten.
»Irgendwas stimmt nicht mit mir«, sagte er, »ich hatte gerade so ’nen komischen Traum, und jetzt bin ich aufgewacht, und irgendwas stimmt nicht mit mir.«
Ich öffnete meine Augen wieder. Dann erzählte mir mein Bruder von seinem Traum; und je weiter er voranschritt, desto dünner und brüchiger wurde seine Stimme – und je dünner und brüchiger sie wurde, desto mehr sah ich ihn vor mir: meinen Bruder, in seinem schwarz-rot-karierten Hemd, auf dem Ledersessel im Wohnzimmer; seit ein paar Wochen konnte er nirgendwo mehr schlafen, nur noch auf diesem Ledersessel. Er konnte weder stehen noch liegen noch auf einem Möbelstück sitzen, außer eben auf diesem Sessel. Er saß jeden Morgen und jeden Nachmittag auf diesem Ledersessel, und wenn er nachts aufwachte und mich anrief, saß er immer noch dort. Meine Eltern trugen ihn auf die Toilette und sie trugen ihn in die Dusche, und überall litt er furchtbare Schmerzen, und er litt so lange, bis er wieder auf seinem Sessel sitzen und durchatmen konnte.
Er erzählte mir also von seinem Traum, und als er fertig war, sagte er: »Ich weiß nicht, wieso mich das so tangiert. Aber seit ich aufgewacht bin, kann ich an nichts anderes mehr denken, und jetzt denke ich, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, weißt du, im Kopf, dass ich durchdrehe.«
Ich stand auf und sah wieder hinaus, in die Dunkelheit, zu der Laterne, die dünn und hoch ihr Licht über den Gehweg ergoss. Im Glas des Fensters erkannte ich die Umrisse meines Spiegelbildes. Ich sah das leuchtende Display an meinem Ohr; und ich sah ihn vor mir, wie er auf seinem Sessel saß und auf meine Antwort wartete.
Ich sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen solle, ich sagte ihm, dass dieses Gefühl von den Schmerzmitteln käme, »von den starken«, sagte ich, »die bringen deinen Kopf durcheinander«, sagte ich.
Ich hörte ihn atmen, dann sagte er plötzlich: »Ich weiß nicht, wie du das all die Jahre ausgehalten hast.«
»Was?«, sagte ich.
»Ich weiß echt nicht, wie du das all die Jahre mit ihm ausgehalten hast. Ich hasse ihn. Ich kann echt nicht über viele Menschen sagen, dass ich sie hasse, aber ihn hasse ich, echt.«
Bei den letzten Worten brach seine Stimme wieder. Ich sah auf meine Freundin, und sie lag dort, in der Dunkelheit, und ich hörte sie atmen, ganz gleichmäßig, ein und aus, und dann ging ich in die Küche, mit dem Handy am Ohr.

Vor zwei Jahren hatten sie die erste Geschwulst entdeckt, an seiner Bauchdecke – seitdem hatte er alles verloren: Freundin, Wohnung, Firma. Er hatte sich nie beklagt. Ich hatte ihn nie weinen sehen, ich hatte ihn nie trösten müssen. Er war sich immer sicher gewesen, dass er die Sache durchstehen würde. Aber seitdem er in dem Sessel saß, rief er mich jede Nacht an. Er wohnte bei meinen Eltern, und als ich achtzehn Jahre alt war, zog ich so weit weg von meinen Eltern, wie ich nur konnte. Mit dem alten, blauen Ford meiner Freundin besuchten wir meinen Bruder so oft wie möglich, aber immer blieb dieses Gefühl, zu wenig zu tun, nicht da zu sein. Ich dachte an meine Eltern, wie sie ihn vom Sessel auf die Toilette trugen, wie er sein Geschäft erledigte, wie sie ihm die Hose hochzogen und wieder zurückschleppten. Ich dachte an meinen Vater, wie er dabei schnauft und schwitzt, und wie diese Ader an seiner Schläfe anschwillt; wie sein Gesicht rot anläuft, sich anspannt, und wie seine Augen glasig werden – ja, so musste es aussehen.

Ich setzte Kaffee auf. Ich hielt das Handy noch am Ohr, und wir schwiegen. Ich schaute zur Wanduhr: vier Uhr sechsundzwanzig. Der Linoleumboden unter meinen Füßen war kühl und voller Krümel. Ich ließ das Licht aus, schaltete bloß die kleine Lampe über dem Herd ein.
»Er ist ein Affe«, sagte er.
»Ja«, sagte ich, »aber er tut alles für dich.«
Ich hörte ihn schnaufen, dann sagte er: »Ich weiß ja. Ich weiß das ja alles, und ich bin ihm ja auch dankbar dafür. Aber immer, wenn ich ihn sehe, kommt diese Wut in mir hoch. Ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe sein Gesicht, und wie er frisst und pfeift und läuft, und alles in mir verkrampft sich, und ich hab einfach diese Wut in mir, weißt du.«
Ins Krankenhaus wollte er noch weniger als zu meinen Eltern. Es war nicht absehbar, wann sich sein Zustand verbessern würde, und meine Eltern hatten ein großes Haus mit Klimaanlage und verschiedenen Badezimmern, und der letzte Ort, zu dem er wollte, war das Krankenhaus.
»Erzähl mir von früher«, sagte er, und ich hörte, dass er sich in seinem Sessel zurücklehnte, um sich zu entspannten. »Erzähl mir von früher, so wie du’s immer machst.«
Ich setzte mich auf den Küchstuhl und hielt die Kaffeemaschine im Blick. Der rote Power-Knopf leuchtete in der Dunkelheit, und die Maschine gurgelte und Kaffee lief in die Kanne.
»Also gut«, sagte ich, und starrte weiter auf den Power-Knopf. »Also, wir wohnten alle in diesem kleinen Reihenhaus, in der Ebelshöhe. Uns ging es allen gut und wir hatten einen großen Garten, und wir hatten auch ein Baumhaus, und im Sommer spielten wir da drin immer bis spät in der Nacht. Und der Vater war nie sauer, er hatte nie seine Anfälle, weil sein Geschäft durchgehend gut lief, und er jeden Morgen zehn Kilometer joggte. Wir hatten nie diese andere Seite von ihm kennengelernt, er war der ausgeglichenste Mensch, den wir kannten. Jeden Nachmittag machte er sein Schläfchen auf der Couch, und wir beide lachten uns jedes Mal tierisch kaputt, wenn er dalag und so extrem laut schnarchte. Und wenn wir zu laut lachten, wachte er auf, und dann lachte er immer mit uns mit, weil er schon wusste, dass es um seine Schnarcherei ging.
Und in einem Sommer – ich weiß nicht mehr, welcher – baute er uns eine Seifenkiste, eine richtig gute, weißt du, eine silberne, mit echten Reifen und Lenkrad. Und wir rasten den ganzen August über bis zur Dämmerung damit die Wiese bei der Ebelshöhe runter. Und wenn es dunkel wurde, kam unsere Mutter rübergelaufen, und dann mussten wir nach Hause, zum Abendbrot. Und am Tisch haben wir mit glühenden Ohren von unseren Seifenkisten-Abenteuern erzählt, und unsere Mutter erzählte von den Nachbarinnen und welche Kuchen sie bald backen wollte, und der Vater erzählte von seinem Zehn-Kilometer-Lauf und von seinem Geschäft, und wie gut es dort lief und wie fleißig ihm die Leute seine Wasserfilter und Bodenheizungen abkauften.
Und im darauffolgenden Herbst, ich glaube, da wurde ich gerade eingeschult, da wollte der Vater in seinem Geschäft umbauen; und er ließ seinen einen Läufer-Kollegen kommen, und dann schlugen sie mit dem Vorschlaghammer unten im Keller eine Wand ein, weißt du, eine total belanglose: die Wand, die dort vor dem Waschbecken steht; und, du wirst es nicht glauben, aber als sie dabei waren, diese Wand einzuschlagen, merkten sie, dass da etwas ganz Komisches in ihr drin war. Und sie schlugen weiter und weiter, und plötzlich konnten sie diese Unmenge an Goldbarren da herausziehen, aus der Wand. Und, so ehrlich wie unser Vater nun mal war, ging er zur Polizei und wollte den Besitzer des Goldes finden; aber niemand meldete sich, und nach einem Jahr bekamen wir plötzlich einen Brief, vom Richter, und darin stand, dass das Gold laut einem Gesetz jetzt uns gehörte.«
»Ja«, sagte mein Bruder, »das ist gut, das mit dem Gold. Das gefällt mir. Erzähl weiter.«
»Okay. Also, nachdem uns dieser Brief erreicht hatte, waren unser Vater und unsere Mutter natürlich total aus dem Häuschen, und von da an flogen sie viermal im Jahr in die Karibik, und niemand der beiden musste mehr arbeiten, und der Vater verkaufte seinen Laden, aber wir lebten weiter in dem kleinen Reihenhaus in der Ebelshöhe, weil es uns dort so gut gefiel und weil es uns dort allen so gutging. Und mit deinem Erbe bist du in das Erlebnispark-Geschäft eingestiegen, weißt du, du hattest das mit der Seifenkiste nie vergessen, und weil du nicht wusstest, was du sonst mit deinem Geld machen solltest, hast du dir Anteile an einem Erlebnispark gekauft, so richtig mit Achterbahnen und Delfinen-Shows und alles.«
»Erlebnisparks mag ich wirklich«, sagte mein Bruder.
»Ich weiß«, sagte ich. »Und seitdem leitest du diesen Park, und du bist ständig dabei, neue Achterbahnen und Attraktionen zu entwickeln. Und ich bin ein berühmter Maler geworden, ich habe mir von meinem Erbe die besten Zeichenlehrer der Welt einfliegen lassen, und die haben mir alles gezeigt, was sie wissen, und ich male auf überdimensional großen Leinwänden das abgefahrenste Zeug: Landschaften, Menschen, alles.«
»Das würde zu dir passen«, sagte er, und lachte leise.
»Und wir beide leben noch in dem Reihenhaus, und unsere Eltern sind fast nur noch in der Karibik, und einmal im Jahr besuchen wir sie dort.«
»Das klingt gut«, sagte er.
Wir schwiegen einen Augenblick, und ich sah, dass der Kaffee durchgelaufen war.
»So wär’s wirklich schön«, sagte er. »Ich würde abgefahrene Achterbahnen bauen lassen, mit Tunneln und Loopings. Die Delfinen-Show würde ich wahrscheinlich schließen lassen, wegen den Tieren.«
»Ja«, sagte ich, »stimmt.«
Wir schwiegen wieder, und ich hörte seinen Atem.
»Ich glaube, ich sollte noch ein bisschen schlafen«, sagte er.

Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich eine Tasse aus dem Schrank und schenkte mir Kaffee ein. Dann ging ich zum Küchenfenster und blickte hinaus. Der Mond schwebte sichelförmig über der Stadt, ein paar Lichter brannten im Hochhaus gegenüber. Ansonsten nichts als Dunkelheit. Ich trank vom Kaffee und dachte an meine Freundin, die drüben lag, in der Dunkelheit. Ich dachte auch an meinen Bruder, wie er in seinem Ledersessel saß und sich zurücklehnte und die Augen schloss.
Dann dachte ich über diese Wut nach, von der er gesprochen hatte; und ich erinnerte mich an früher, als kein Tag verging, an dem wir uns nicht vor den Launen unseres Vaters fürchteten – kein Abend, an dem ich keine Bauchschmerzen bekam, wenn ich meine Eltern draußen vor dem Milchglas der Haustüre stehen sah.
Meine Mutter arbeitete in seinem Büro, und er war der große Mann für alles: Verkäufer, Fachmann, Einzelhändler. Wenn er Großkunden gewann oder Heizsysteme an ganze Gebäudekomplexe verkaufte, schritt er abends pfeifend durch die Haustür, kochte groß auf und wollte, dass wir alle an einem Tisch saßen und aßen, so wie es die Familien im Fernsehen taten.
Aber das Geschäft lief nie gut. Er schaffte es nie, genug zu verkaufen, die Banken saßen ihm immer im Nacken. Er war keiner dieser prügelnden Väter, er schlug uns nie. Aber hatte er miese Laune, erwartete er von uns, seiner Familie, dass wir dafür herhielten: Er ging jeden Tag arbeiten, bis zur Erschöpfung, und daran waren wir schuld. Er tat es für uns. Das sagte er uns: Schaut her, ich bin euer Vater, und ich arbeite mich tot für euch.
Am Esstisch redete er ausschließlich vom Geschäft, von neuen Kunden und alten, die ihm abgesprungen waren, vom Einkauf und neuen Trends, was meine Mutter falsch gemacht hatte und was sie noch tun müsse. Und wenn einer von uns Kindern während seines Monologs lachte oder stöhnte, drehte er durch, schrie uns so lange an, bis wir heulten. Später kam er dann zu uns aufs Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und sprach davon, dass er so beschäftigt, so erschöpft sei, dass er das alles nur für uns tue. Schließlich sagte er, dass es ihm leid tue; und ob wir es verstehen würden, ob wir ihm verziehen würden; und wir sagten: Ja, wir verzeihen dir.
Mein Bruder traf das schwerer als mich. Vielleicht, weil er älter war, weil er bis zu meiner Geburt mit ihm und meiner Mutter alleine gewesen war. Ich hatte ihn oft beobachtet, meinen Bruder: Im Kindergarten und in der Grundschule – jedes Mal versteinerte er, wenn ein anderes Kind kam und ihn schubste oder beschimpfte. Er blieb einfach stehen, und starrte auf den Boden. Wäre ich nicht irgendwann gekommen und hätte die anderen Kinder weggeboxt, sie hätten alles mit ihm gemacht. Auch danach bei den Lehrern sagte er nichts. Er blickte einfach auf seine Schuhe, stumm, und wartete darauf, sich wieder hinsetzen zu dürfen – erst später, nachdem wir zuhause waren, kam das dann alles in ihm hoch; dann schlug er stundenlang mit rotem Kopf auf Wände ein, oder hämmerte sich mit den Handflächen gegen den Schädel. Er sagte, er könne das nicht rauslassen, er sagte, da sei diese Wut in ihm, und er fürchte, er bringe jemanden um, wenn er sie rauslasse. Er sagte, er hasse unseren Vater; er sagte, er hasse ihn, wenn er ihn nur sehe, wie er abends gut gelaunt zur Tür reinkomme, wenn er pfiff, wenn er Schweinebouletten anbriet und wir uns alle an den Tisch setzen mussten, um ihm zuzuhören. Er sagte, er hasse ihn noch mehr, wenn er gute Laune hätte, denn dann sähe er, was uns unser Vater alles vorenthalten hätte: das unbeschwerte Gefühl von Zuhause, von Familie.
Mit sechzehn verlor ich schließlich die Angst vor meinem Vater. Ich wollte sehen, wie weit er gehen würde – ich musste es einfach wissen. Abends erkannte ich schon an seinen Schritten unten im Erdgeschoss, dass irgendetwas in ihm los war, dass er Druck ablassen musste. Ich hörte, wie er Töpfe und Geschirr durch die Küche warf: Es war ihm nicht sauber genug, würde er später sagen; er arbeite sich tot für uns, und wir würden nicht mal richtig abspülen können, würde er sagen – ich kannte das ganze Spiel. Als ich runter ging und in die Küche lief, begann ich einfach zu lachen. Ich sah ihn an und lachte – ich wusste nicht, woher das kam, aber das Lachen war echt, nicht gespielt. Er drehte sich zu mir, und brüllte, was das soll, wer mir das Recht gäbe, ihn auszulachen. Sein Kopf war blutrot, die Ader an seiner Schläfe pumpte, und ich tat nichts, als zu lachen. Mein Vater schrie wieder – und als er merkte, dass ich einfach weiterlachte, packte er mich, an den Schultern; ich spürte, wie diese Wut in ihm nach mir griff; und ich spürte auch, wie er mit sich haderte, mich anzufassen, wie da eine unsichtbare Grenze existierte, die ein Teil von ihm nicht überschreiten konnte. Dann begann er, mich zu schütteln: Er schüttelte mich und schrie, und ich lachte: ein, zwei Minuten lang – bis er meine Schultern losließ und mich am Hals packte: Und ich fühlte seine Hände, wie sie mich umklammerten, aber nicht zugreifen konnten, völlig schlaff waren; da wusste ich, wie weit er gehen konnte, wo seine Grenze lag.
Als er losließ, lagen wir beide auf dem Boden: Er über mir, mit den aufgerissenen Augen, dem weißen Hemd und dem Jackett; mit dem roten Gesicht und der angeschwollenen Ader; und ich auf den Fliesen, lachend. Mein Vater stand auf und blickte mich ein letztes Mal an – dann lief er rüber ins Wohnzimmer, schmiss die Kommode um, knallte die Haustüre zu, und wir sahen ihn bis zum nächsten Abend nicht wieder.
An diesem Tag verlor ich die Angst vor meinem Vater, und ich wusste, dass ich so weit weg ziehen würde, wie ich nur konnte.
Mein Bruder hatte nie dieses Erlebnis; er hatte es nie geschafft, abzuspringen, sich loszureißen. Mein Vater bezahlte ihm das Studium und die Wohnung, und als Gegenleistung fuhr mein Bruder an den Wochenenden nach Hause, setzte sich an den Tisch, hörte sich seine Reden an und ließ sich anschließend beleidigen, und irgendwann im Laufe des Wochenendes verzieh er meinem Vater, und Sonntagabend fuhr er zurück, mit hundertneunzig Stundenkilometern, und schlug zuhause auf Wände ein oder ging so lange joggen, bis er zusammenbrach.
Erst, als mein Bruder seine Firma gründete, sein Mädchen kennenlernte und endgültig auszog, verlor sich diese Wut in ihm, und es gab nur noch einzelne Momente, in denen ihn die Leute nicht verstanden: Wenn er nach der Arbeit stumm in den Garten lief, und dort mit einem Stock auf einen Baum eindrosch; wenn er nachts stundenlang die Landstraße auf und ab joggte, nachdem ein Bekannter im Restaurant beiläufig einen Witz über ihn gerissen hatte.
So lebte mein Bruder drei, vier Jahre lang, immer mit dieser verschütteten Wut in sich; und als die ersten Geschwulste auftauchten, fragte ich mich, ob es da nicht einen Zusammenhang geben könnte, zwischen all dem angestauten Hass und diesen Beulen, die ihm wuchsen.

Es war schwer, über all das nachzudenken. Die Sonne ging auf, und ich stand noch immer mit der Kaffeetasse am Küchenfenster; und als ich mich zu meiner Freundin legte, überkam mich ein solches Beben, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann; und je heftiger mich dieses Zittern schüttelte, desto mehr verschwammen auch all die Bilder in meinem Kopf: Der Ledersessel; die Goldbarren; die endlosen Monologe am Esstisch; – bis sie mir vorkamen, als hätten sie so nie existiert; als wären sie Teil eines großen Mosaiks, Bruchstücke unzähliger dieser kleinen Geschichten, die ich mir ständig ausdachte: Und als wäre auch ich bloß ein Teil einer solchen Geschichte, als wäre ich schon lange tot, und bloß die Idee eines anderen.

 

Servus Isegrims,

vielen Dank dir schon mal fürs Lesen und Kommentieren! Und sorry für die Wartezeit, ich schaffe es gerade fast nur mit dem Handy hier her, ihr kriegt alle nen Kommentar zurück, sobald ich frei habe.

In irgendeinem Kommentar schreibst du, dass dich die Geschichte seit ein paar Wochen umtreibt. Das merkt man ihr an. Ich meine, die Kürze der Zeit von der Idee zur Veröffentlichung. Mir kommt’s unausgereift vor.
Ja, da bin ich bei dir

Einige wirklich gute Sprachbilder, Charaktere, die ich greifen kann, ein Konflikt. All das ist super, aber worauf es hinausläuft, was mich berühren soll, das bleibt merkwürdigerweise ein Rätsel. Da ist die Wut, da ist das Bruder-Bruder-Ding, der Konflikt mit dem Vater, der gar nicht richtig ausbricht und am Ende eine Wendung, die das Ganze möglicherweise zu einem Traum erklärt.
Hm ja, ich muss da noch mal drüber auf jeden Fall ... dich stört das Ende ja. Ich muss sagen, ich lese das glaube ich etwas anders als du, und deswegen finde ich es nicht ... wie soll ich sagen? "Reingeschoben" oder "eine zusätzliche, unorganische Idee". Also für mich ist das Ende einfach ein Ausdruck von Verwirrtheit, von, ja, Ansätzen eines Nervenzusammenbruchs oder Überforderung - dieses Gefühl habe ich versucht zu vermitteln, aber ist natürlich auch nur meine eigene Leseart und es darf natürlich nicht sein, dass ich das als Autor erklären müsste, das muss selbst herauslesbar sein. Ich mach mir mal Gedanken drüber - ist natürlich ein Darling von mir, aber wie heißts so schön: Kill your darlings! :D

tilistisch wäre glaube ich weniger mehr. Du überziehst den Text, so wie ich ihn lese, mit irgendwo fixierten Blicken: Die Freundin (die ist ja eh mehr ein Objekt, bleibt nutzlos im Bett liegen), die Lichter draußen, die Laterne, den roten Knopf der Kaffeemaschine. Der Traum ist superschön, führt aber ins Nichts, ebenso wie die Ledersesselsymbolik (an der Stelle wieder so ein paar kafkaeske Bilder, wie man sie hier mittlerweile öfters liest.)
Aber he, zigga, trotzdem eine klasse Geschichte, an der du aber echt arbeiten solltest, dann kommt das mit der Wut auch besser rüber, das wirkt auf mich etwas zahm.
Ja, danke fürs Kompliment, aber ist eine Rohfassung, hast schon recht. Ich denke, ich bekomme das aber alles unter einem Hut, wenn ich noch ein wenig dran rumschraube. Das Fixieren fahre ich evtl auch so zu 15% runter, ich mag das im Prinzip, wenn es nicht zu viel ist, weil man durch Beobachtungen schon Atmosphäre aufbauen kann ... spielt ja viel Unterbewusstes mit rein, was man ansieht und wie man es ansieht, und so spürt/lernt man als Leser im besten Fall viel darüber, was im Prot vorgeht, wie es ihm geht. Nicht bewusst natürlich, aber man würde beim Lesen dann sagen: Was für eine stimmige Atmosphäre zur Geschichte!

wer baut denn heute noch Seifenkisten? 50er/60-er Jahre?
Nee! :D Das gibts noch, Isegrims, mein Cousin hatte früher auch eine, und ich war mega neidisch und hätte den ganzen Tag in dem Ding rumbrettern können!

heißt das nicht: Delfin-Show?
Das verbuche ich jetzt mal unter Dialog-Freiheit, auffangen, wie die Menschen sprechen! :D

Also, Isegrims, danke dir nochmals, dir wirkt es zu zusammengewürfelt, die Wut, welche für dich das Elementare darstellt, geht dadurch unter, ist auch aus Erzähltechnischen Gründen nicht nachvollziehbar, ich schreibe mir das auf und beachte das beim Überarbeiten. Gute Ostern!


Hallo Chutney,

das war ein echt guter Kommentar! Danke dir auch dafür und ich hab was draus mitgenommen, und es freut mich natürlich, dass dir die Geschichte nicht aus dem Kopf gegangen ist - das ist es doch, wo wir als Autoren hin wollen. :)

Ich finde es gut, dass der Vater keine körperlichen Mißhandlungen verübt. Darüber gibt es schon viel Literatur und ich finde es gerade spannend was für verheerende seelische Verletzungen es in einer sogenannten "normalen Familie" geben kann. Dieser Vater bringt seine Kinder in einen schweren inneren Konflikt, in dem die Wut eben gerade nicht sein darf, weil da Schuldgefühle sind und weil der Vater schwach erscheint und weil Kinder dazu neigen ihre Eltern zu schützen. Ich überlege sogar, ob es dem Text vielleicht gut tun würde, wenn von Wut gar nicht die Rede wäre. Die Annahme, dass die Wut es ist, die den Älteren krank macht, wäre für mich überzeugender, wenn die Wut noch erheblich verschleierter wäre. Wenn z.B. aggressive Aspekte dem Vater gegenüber in dem anfänglichen Traum angedeutet werden und der Kranke darüber erschrocken ist. Ich glaube, schon das wäre für den Leser klar genug und viele weitere Erklärungen würden sich erübrigen.
Das mit dem Traum-Andeuten ist ein guter Punkt, eine gute Idee, die ich vllt echt umsetzen werde. Ja, ich finde auch, über körperliche Gewalt von Vätern gibt es echt shcon jede Menge, vllt auch, weil das so ein Thema der Generation ist, die jetzt 50/60/aufwärts ist, da war das ja noch gang und gäbe, als sie Kinder waren ... ich bin in den 90ern aufgewachsen, und in deutschen Familien gab es da schon den Konsens, dass Kinder prinzipiell ohne Gewalt erzogen werden sollen. Hab ich so kennengelernt, ich kann natürlich nicht von allen Familien sprechen, aber so ein Grundkonsens, den es vllt in anderen Generationen oder Ethnien nicht gibt. Das hab ich versucht mit einzubauen, weil, ich sage mal die "Aggressivität" von deutschen Vätern ja auch nicht vollkommen verschwinden kann, wenn sie nicht mehr schlagen, dann kanalysiert es sich eben auf anderen Wegen, meine Beobachtung zumindest.

Das ist so ein Beispiel, wo ich auch denke, du traust dem Leser zu wenig zu. Schon im ersten Satz ist klar, dass der Vater doch Anfälle hatte, dass es eine andere Seite gab. Das Fettgedruckte erscheint mir sehr doppelt gemoppelt.
Inhaltlich finde ich es wieder sehr gelungen, dass dieser Vater möglicherweise nicht so sehr in seine zerstörerischen Verhaltensweisen verfallen wäre, wenn das Geschäft besser gelaufen wäre. Was zwar nicht sein Verhalten gegenüber seiner Familie entschuldigt, aber ihn dennoch als einen Verzweifelten, Getriebenen zeigt. Ich finde es wichtig, dass du diesen Vater so differenziert darstellst, nicht nur als Arschloch. Dass seine Söhne ihn hassen und lieben. Der Ältere scheint völlig verstrickt in seinem Verhältnis zum Vater und das geht nur wenn es da viele, sich widersprechende Gefühle gibt.
Außerdem ist das der Teil wo dein Text dem Tag "Gesellschaft" gerecht wird. Wie die Bedingungen unter denen in dieser Gesellschaft Geld verdient oder nicht verdient wird, das Klima in den Familien bestimmt.
Ja stimmt, eigentlich müsste ich noch Gesellschaft drantaggen, hast recht. Ich finde es auch wichtig, den Vater odera llgemein Antagonisten nicht als Monster zu zeichnen, das wird schnell flach. Ich will in Prosa wirklich Figuren kennenlernen lassen, und ein Mensch ist nie nur Monster, sondern immer ambivalent - klingt jetzt wie aus einem Schreibratgeber, aber es ist so wahr, finde ich. Ja, hast klar recht, die Wut, das muss ich irgendwie fühlbarer machen, mehr verstrickende, überlagernde Gefühle sichtbar machen, ich werde auf jeden Fall noch mal ran gehen, danke für den Hinweis!

Ich würde "nie" durch "selten" ersetzen, sonst hätte die Situation, die du davor beschreibst ja nie stattgefunden. Schön, wie sich andeutet, was der Vater eigentlich für einen Traum hat. Er wirkt wie ein Alkoholiker, der immer wieder in seine Mechanismen fällt.
Werde ich tun. Ich dachte beim Schreiben übrigens auch an einen Alkoholiker. Ich hab das mal von einem Kumpel gehört, der so einen Vater hat, und an dessen Vater ich beim Schreiben gedacht habe. Der meinte auch, mal ist der Vater gut gelaunt und will Fußballspielen gehen, mal dreht er durch - und dass er manchmal das Gefühl hat, er hätte einen Alkivater, dass er denkt, da bräuchte es gar nicht diesen Stoff, diesen Rausch dazu, um das auszulösen, das sei einfach in den Vätern drin, diese abwechselnde Wut und Liebe, dass es da gar keinen Alkohol zu bräuchte, um so zu sein, und dass das viele einfach nicht verstehen würden.
Freut mich, dass du das gesagt hast, weil mir das das Gefühl gibt, ich hätte den Text schon so geschrieben, dass man ihn genau so verstehen kann, wie ich es gemeint habe.

Ich glaube ein Hinweis, warum der ältere Bruder so gebrochen ist, wäre gut. Meine Phantasie wäre, dass er in irgendeiner Weise nicht den Erwartungen entsprochen hat, die der Vater besonders an den Erstgeborenen hatte. Ich würde ihn nicht geistig behindert machen, aber dass er vielleicht schon von Geburt an irgendwelche Schwierigkeiten hatte, das würde schon passen. Auch das würde diese Tragik im Verhältnis zum Vater deutlich machen. Das müsste auch nicht endlos lang erklärt sein, vielleicht würde schon ein blöder Spitzname reichen, den sein Vater ihm als Kind gegeben hat.
Ja, das muss ich alles ausbauen, du hast recht, da sind zu viele Lücken, wo man sich als Leser Szenen wünscht, und das sollte man vermeiden

Diese erklärenden Stellen schwächen meiner Meinung nach den Text enorm.
Ja, ich werde entschlacken, das Tell ist irgendwie unsauber, zu erklärend, zu unszenisch, ich werde da nachbessern, danke

Die Frauen in deinem Text, Mutter und Freundin, wirken schon fast komatös, irgendwie irritiert mich das, habe aber auch keine Idee dazu. Es geht ja auch hauptsächlich um das Verhältnis zwischen dem Vater und den Söhnen.
Dazu hab ich auch keine Idee! :D Kam einfach so beim Schreiben, vllt hab ich das so gemacht, weil das ja wirklich ein Konflikt ist, den nur die Männer unter sich klären können, die Frauen hätten, selbst wenn sie wollten, keinen Einfluss darauf

Tja und dann gibt es ja noch die Frage über Krankheitssursachen, die du in deinem Text behandelst. Hat dieser innere Konflikt, die nicht ausgelebte Wut den Bruder so krank gemacht? War er vielleicht wirklich von Anfang an schon verletzbarer? Oder liegt es an noch ganz anderen Faktoren? Oder an allem zusammen? Aber das sind genau die Fragen, die sich sowohl die Kranken, als auch die Angehörigen stellen. Und dir ist da eine sensible Geschichte gelungen.
Vielen Dank dir, Chutney! Hab mich sehr gefreut, dass du etwas mit anfangen konntest und so viele gute Gedanken zu meiner Story hattest!


Hallo Achillus,

danke auch dir fürs Lesen und Kommentieren!

Deine Geschichte gefällt mir insgesamt sehr gut. Dazu gäbe es eine Menge zu sagen, und Du hast ja schon viele wertvolle Hinweise erhalten. Ich möchte mich bei meinem Kommentar auf ein einziges Detail beschränken, das ein bisschen mit dem zu tun hat, was Maria schon angemerkt hat. Die Be-Wertung des Vaters.
Das freut mich, dass sie dir insgesamt sehr gut gefällt! Ja, noch ein paar Baustellen, haben die anderen schon viel gesagt.

Um es verkürzt vorneweg zu sagen: Ich finde, es ist geradezu eine Mode geworden, die eigenen Eltern zu beschuldigen, sie hätten einen in der Kindheit traumatisiert. Der Mann, den Du da beschreibst, sehe ich absolut nicht als das Monster, das eine lebenslange Wut rechtfertigt. Und dass Schwups von Folter spricht, kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen.

Ich verstehe, was du mir sagen willst, sehe das aber grundsätzlich etwas anders. Ich denke, der Defizit liegt darin, dass ich nicht zu 100% das gezeigt habe, was ich meine - im Bezug auf die Ursache der Wut. Ich verstehe auch, was du meinst, wenn du sagst, die jetzige Generation soll sich nicht so haben und man soll hart sein und nicht alles auf vermeintlich "normale" Eltern schieben und so weiter. Ja, stehe ich auch dahinter. Was mich an deiner Aussage etwas stört, ist, dass du dem Text/Erzähler/mir als Autor eine gewisse Weinerlichkeit oder Selbstmitleidigkeit implizit "vorwirfst" ... als ob die Figuren in dieser Fiktion hier sich einfach nur zusammenreißen müssten, und dann hätten sie gar keine Probleme mehr. Ich sehe das nicht so. Ja, dein Onkel hat sich zusammengerissen, wie eine Figur in einer Hemingway-Geschichte, er hat sich nie beschwert ... ich finde aber auch nicht, dass sich meine Figuren hier wirklich beschweren oder rumheulen. Es ist Tatsache, dass es diesen Schaden, wie ich ihn hier mit dem kranken Bruder und der Aggressionproblematik in ihm beschreibe, dass es den da draußen in der Realität gibt, dass er - und das ist in gewisser Hinsicht zutiefst freudianisch - häufig zu einem großen Anteil einem tiefen Vaterkonflikt zugrunde liegt, ... also für mich ist Weinerlichkeit etwas anderes, als wirklich etwas Gebrochenes in der Persönlichkeit, das durch psychische Gewalt angerichtet wurde. Ist meine Meinung. Ich kenne solche Fälle, in denen das auf einer sehr ähnlichen Art abgelaufen ist, und ich finde, solange so etwas in der Realität passiert, solange es da draußen existiert, ist das Rechtfertigung genug, um das in Literatur einzuweben (ich will dir jetzt nicht anhängen, dass du mir das Recht dazu nicht absprechen wollen würdest).
Ein Anliegen war mir ja gerade, da kein Monster als Vater zu zeichnen, das prügelt und säuft, ich finde das einfach, selbst wenn es sehr originell gemacht ist, schon sehr oft erzählt und man muss ständig aufpassen, da in kein Klischee reinzusappen. Ich hab da Bock drauf, einen Kerl zu zeichnen, den man verstehen kann, der zwei Gesichter hat, der kein Monster ist, sondern ein Mensch. Also kein Plan ob mir das ansatzweise gelungen ist, aber das war/ist mein Ziel und dahin, wo ich hin will. So läuft das finde ich auch in der Realität ab; gibt es wirklich Menschen, die Monster sind? Vllt ja, aber es sind doch die wenigsten ... und wenn man sich ihre Geschichte dann wirklich anhört, dann ist das immer auf eine Weise nachvollziehbar, wieso sie sind wie sie sind, und ich finde, da sollte Literatur hingehen, dass man auch Antagonisten "versteht", auch wenn man ihre Taten verabscheut. Ja, große Worte, aber was solls :D Hier kümmert sich halt der Vater, opfert sich um alle zu ernähren und am Leben zu halten, ist aber zugleich psychischer Gewalttäter.

Mit all dem möchte ich sagen, dass es für mein Verständnis deutlich mehr braucht, um bei mir als Leser den Eindruck zu erwecken, dass hier eine Wut entsteht, die ich nicht ebenfalls als Ausdruck charakterlicher Schwäche betrachte, sondern als gerechtfertigte Reaktion auf ein erlittenes Unrecht.
Ja, verstehe ich, ich werde da auf jeden Fall noch nachlegen, eindeutigere Szenen zeigen, damit man dabei ist.

Trotz dieses Einwands gefällt mir die Story gut. Ich sehe, dass Du einen Konflikt erzeugst, weil der kranke Sohn sich im Grunde gegen etwas stellt, von dem er sich bislang einfach nicht getrennt hat. Er ist in einer Familie gefangen, die ihm kein inneres, gefühltes Zuhause gibt und er ist zu schwach, zu abhängig, um sich zu lösen. Das finde ich gut gemacht und sprachlich ist das Ganze auch wunderbar gestaltet. Freu mich auf Deine Nächste.
Super! Da freue ich mich. Ich werde noch drüberarbeiten, demnächst, danke dir für deine Gedanken, sie sind immer viel wert.


Gruß
zigga

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber zigga,
jetzt komm ich auch, aber keine Sorge, ich erzähl hoffentlich nicht noch mal dasselbe. Oder jedenfalls nicht nur. :D
Das ist eine wirklich supergute Geschichte, was die erste Hälfte angeht.
Mich hat besonders beeindruckt, wie er Bruder den Bruder durch das Märchen, wie alles hätte sein können, beruhigt. Ich fand das erstaunlich. Manchmal erlebt man ja in Filmen, dass einem eine Figur, die in einer schlimmen Situation gar nicht weint, sondern deren Kinn nur wackelt, weisaus mehr zu Herzen geht, als ein Tränenstrom. So ähnlich ging mir das auch hier. Das ist doch irre, wie sehr man aus den Wünschen der Menschen herauslesen kann, woran es ihnen gerade mangelt.

Ich wollte dir nur zwei Sachen dalassen, vielleicht kannst du was mit anfangen.

1. Bei deinem Beginn denkt man, der Bruder ruft nur selten an.
Durch sowas kriegt man den Eindruck:

Er rief mich an, da war es mitten in der Nacht.
Oder sowas:
An seiner Stimme erkannte ich sofort, dass etwas nicht stimmte.
Solche Stellen lassen auf ein einmaliges oder seltenes Ereignis schließen. Dann später erfährt man, dass er den Bruder, seit er die Tumore hat und im Sessel sitzt, tagtäglich anruft. Das beißt sich also. Ich bin da aus der Gesch. rausgerissen worden, als ich das feststellte.


2. Also fulminante erste Hälfte. Danach hatte auch ich den Eindruck, dass was auseinanderklafft. Aber ich glaube gar nicht mal, dass es am zu vielen Tellen liegt. Da bin ich deiner Meinung, in diversen Romane wird noch weitaus mehr getellt, und kein Schwein stört sich dran.
Ich glaube eher, dass die Figurenverhältnisse noch nicht stimmen.
Zu dem Verhältnis Bruder-Vater hat dir Chutney schon eine Menge geschrieben. Das empfand ich auch so ähnlich wie sie.

Hinzu kommt aber auch noch etwas anderes.
Du hast zwei Kernpunkte in deiner Geschichte. Einmal die Erkenntnis des Icherzählers, dass die Geschwulste des Bruders und sein Schicksal mit der Familiengeschichte und der besonderen Biographie des Bruders zu tun haben. Da ist amSich noch was zu tun (siehe Chutney).
Du hast aber noch einen anderen Kernpunkt. Das ist das Verhältnis der beiden Brüder zueinander.
Du schließt mit dieser Sequenz, die ich sehr, sehr schön geschrieben fand:

desto mehr verschwammen auch all die Bilder in meinem Kopf: Der Ledersessel; die Goldbarren; die endlosen Monologe am Esstisch; – bis sie mir vorkamen, als hätten sie so nie existiert; als wären sie Teil eines großen Mosaiks, Bruchstücke unzähliger dieser kleinen Geschichten, die ich mir ständig ausdachte: Und als wäre auch ich bloß ein Teil einer solchen Geschichte, als wäre ich schon lange tot, und bloß die Idee eines anderen.
Ich fand, du gehst diesem eigenartigen Gefühl, das der Icherzähler seinem Bruder und sich selbst und der gesamten Situaton gegenüber hat, nicht genügend nach. Er fühlt sich selbst zur Idee werdend, substanzlos. Klar kann das die ständige Schlafunterbrechung sein, aber irgendwie kommts mir so vor, als schlummere dahinter eine ziemlich allgemeine Verstrickung. Mir scheint, nicht nur der Bruder hat eine Menge abgekriegt, auch der Icherzähler.

Paar Fragen:
Der Icherzähler setzt sich in der einen Szene dem Vater gegenüber durch. Trotzdem muss er so weit wie möglich vor der Familie flüchten? Warum denn? Wenn er so frei wäre, wie er glaubt, könnt er auch da bleiben. Vor wem flieht er denn? Vorm Vater? Oder auch vor dem Bruder und davor, immer den Beschützer spielen zu müssen?

An einer anderen Stelle erwähnst du, dass der Icherzähler glaubt, nicht genügend für seinen Bruder zu tun.

Mit dem alten, blauen Ford meiner Freundin besuchten wir meinen Bruder so oft wie möglich, aber immer blieb dieses Gefühl, zu wenig zu tun, nicht da zu sein.
Also Schuldgefühle?

Das ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass der Icherzähler sich so verantwortlich fühlt für seinen Bruder. Als Kind boxt er die Angreifer seines Bruders weg, später (in dem o.a. Zitat) hat er das Gef., nicht genügend für den Bruder zu tun. Und in der Erzählung selbst, lässt er sich nachtnächtlich anrufen. Wer tut sowas? Und wenn man es tut, wie wirkt sich das euf einen aus?
Ich mein, wer hält denn diese Anruferei auf Dauer so geduldig aus und lässt das mit sich machen? Ich will gar nicht bezweifeln, dass es das gibt, sondern nur sagen, dass man das in dieser Beharrlichkeit nur tut, wenn man glaubt, eine Verantwortlichkeit, eine Zuständigkeit dafür zu haben. Und aus diesen Überlegungen heraus, habe ich das Gefühl gekriegt, da hast du einen ziemlich komplexen, merkwürdigen familiären Schuldknoten am Wickel.
Und der Bruder scheint die Wut beider Brüder in sich aufgenommen zu haben mit den entsprechenden Folgen. Wie wirkt sich das denn auf den Icherzähler aus, wenn der andere den familiären Schaden übernommen hat. So ganz frei und ohne Schuldgefühl latscht man da bestimmt nicht durch die gegend. und wo Schuld lauert, lauert auch immer Wut und zeigt man die, folgt daraus wieder Schuld. Der Vater macht es ja nicht anders. In so einer Familie, in der Wut so sehr mit Schuld verknüpft ist, da ist es doch nicht leicht, dann keine Schuld, keine Wut zu spüren. Und das betrifft auch den Jüngeren.
Ich hab mich gefragt, wo denn die Wut des Icherzählers geblieben ist. Der muss die haben. Und zwar auch auf den Bruder. Und diese hmm naja, unterirdische Dimension lässt du halt draußen. Ich spür da aber trotzdem was innerhalb deiner Geschichte, nur dass es eben nicht auserzählt wird. Titel und die gesamte Erzählung legen das in Spuren nahe, dass da auch Wut dem Bruder gegenüber da ist. Nicht als offensichtlicher Ausbruch, sondern als so eine merkwürdig duldende Starre.

Also beim Lesen dieser zweiten Hälfte ging es mir (selbst wenn da die ein oder andere Behauptung rausgestrichen oder geshowt werden könnte) eher so, dass ich immer das Gefühl hatte, das geht viel zu glatt, das ist was nicht ausgelotet genug. Da fehlt einfach was, wenn ich mich in das gesamte Familienkonstrukt reinversetze.
Ich wollt das noch loswerden. Keine Ahnung, ob es dir irgendwas bringt, wenn nicht, vergiss es einfach.

Loswerden wollte ich aber auch noch, dass ich die Geschichte großartig fand. Den ersten Teil zumindest sowieso. Das ist der Zigga, wie ich ihn saugerne lese.
Und den zweiten Teil, ne, das weißt ja, schlecht fand ich den auch nicht. Nur geklafft hats halt. Den find ich noch nicht ganz so großartig. :D

Viele Grüße an dich
von Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Novak,

Mann, was für ein Kommentar! :D Eine Menge Input, vielen Dank dafür.

Das ist eine wirklich supergute Geschichte, was die erste Hälfte angeht.
Mich hat besonders beeindruckt, wie er Bruder den Bruder durch das Märchen, wie alles hätte sein können, beruhigt. Ich fand das erstaunlich. Manchmal erlebt man ja in Filmen, dass einem eine Figur, die in einer schlimmen Situation gar nicht weint, sondern deren Kinn nur wackelt, weisaus mehr zu Herzen geht, als ein Tränenstrom. So ähnlich ging mir das auch hier. Das ist doch irre, wie sehr man aus den Wünschen der Menschen herauslesen kann, woran es ihnen gerade mangelt.
Das freut mich, dass das bei dir so geklappt hat. Super.

Solche Stellen lassen auf ein einmaliges oder seltenes Ereignis schließen. Dann später erfährt man, dass er den Bruder, seit er die Tumore hat und im Sessel sitzt, tagtäglich anruft. Das beißt sich also. Ich bin da aus der Gesch. rausgerissen worden, als ich das feststellte.
Da hast du allerdings recht. Da werde ich noch mal drüberbügeln.

Also fulminante erste Hälfte. Danach hatte auch ich den Eindruck, dass was auseinanderklafft. Aber ich glaube gar nicht mal, dass es am zu vielen Tellen liegt. Da bin ich deiner Meinung, in diversen Romane wird noch weitaus mehr getellt, und kein Schwein stört sich dran.
Ich glaube eher, dass die Figurenverhältnisse noch nicht stimmen.
Zu dem Verhältnis Bruder-Vater hat dir Chutney schon eine Menge geschrieben. Das empfand ich auch so ähnlich wie sie.

Hinzu kommt aber auch noch etwas anderes.
Du hast zwei Kernpunkte in deiner Geschichte. Einmal die Erkenntnis des Icherzählers, dass die Geschwulste des Bruders und sein Schicksal mit der Familiengeschichte und der besonderen Biographie des Bruders zu tun haben. Da ist amSich noch was zu tun (siehe Chutney).
Du hast aber noch einen anderen Kernpunkt. Das ist das Verhältnis der beiden Brüder zueinander.

Also beim Lesen dieser zweiten Hälfte ging es mir (selbst wenn da die ein oder andere Behauptung rausgestrichen oder geshowt werden könnte) eher so, dass ich immer das Gefühl hatte, das geht viel zu glatt, das ist was nicht ausgelotet genug. Da fehlt einfach was, wenn ich mich in das gesamte Familienkonstrukt reinversetze.
Ich wollt das noch loswerden. Keine Ahnung, ob es dir irgendwas bringt, wenn nicht, vergiss es einfach.
Oook ... Ja, das stimmt schon, ich finde es auch noch unausgewogen, aber ich denke, ich könnte das hinkriegen, dass die verschiedenen Kernpunkte harmonisch miteinander wirken

Das ist ja keine Selbstverständlichkeit, dass der Icherzähler sich so verantwortlich fühlt für seinen Bruder. Als Kind boxt er die Angreifer seines Bruders weg, später (in dem o.a. Zitat) hat er das Gef., nicht genügend für den Bruder zu tun. Und in der Erzählung selbst, lässt er sich nachtnächtlich anrufen. Wer tut sowas? Und wenn man es tut, wie wirkt sich das euf einen aus?
Ich mein, wer hält denn diese Anruferei auf Dauer so geduldig aus und lässt das mit sich machen? Ich will gar nicht bezweifeln, dass es das gibt, sondern nur sagen, dass man das in dieser Beharrlichkeit nur tut, wenn man glaubt, eine Verantwortlichkeit, eine Zuständigkeit dafür zu haben. Und aus diesen Überlegungen heraus, habe ich das Gefühl gekriegt, da hast du einen ziemlich komplexen, merkwürdigen familiären Schuldknoten am Wickel.
Ja, ich denke auch, Verantwortlickeit. Auf jeden Fall wollte ich da einen komplexen familiären Knoten mitwirken lassen - Schuld des Ich-Erzählers, mhm, davon schreibst du später, schwierig, daran dachte ich beim Schreiben jetzt nicht ganz. Eher an ein Verantwortungsgefühl ggü. dem Bruder, das auch nach all den Jahren nicht geendet hat, und gerade durch das Zurückziehen des Bruders zu ihren Eltern neu aufflammt.

Mit dem alten, blauen Ford meiner Freundin besuchten wir meinen Bruder so oft wie möglich, aber immer blieb dieses Gefühl, zu wenig zu tun, nicht da zu sein.
Also Schuldgefühle?
Ich bin mir da nicht sicher. Finde ich gut, dass man das so lesen kann, ... also ich will das nicht totdeuten, aber ich hatte folgendes vor Augen: Der Icherzähler hat seinen Bruder ein Leben lang beschützt, vor den anderen Kindern usw., und jetzt ist dieser dem Vater "ausgeliefert", also, der Icherzähler ist so weit weggezogen, dass er außer ein paar Besuche im Monat dem Bruder nicht mehr zur Seite stehen kann, und das gibt ihm dieses Gefühl, vllt auch den Antrieb, Nacht für Nacht sich Zeit zu nehmen. Das war meine Konstellation, die ich vor Augen hatte. Evtl. zeige ich das noch deutlicher im Text, mals ehen.

Und der Bruder scheint die Wut beider Brüder in sich aufgenommen zu haben mit den entsprechenden Folgen. Wie wirkt sich das denn auf den Icherzähler aus, wenn der andere den familiären Schaden übernommen hat. So ganz frei und ohne Schuldgefühl latscht man da bestimmt nicht durch die gegend. und wo Schuld lauert, lauert auch immer Wut und zeigt man die, folgt daraus wieder Schuld. Der Vater macht es ja nicht anders. In so einer Familie, in der Wut so sehr mit Schuld verknüpft ist, da ist es doch nicht leicht, dann keine Schuld, keine Wut zu spüren. Und das betrifft auch den Jüngeren.
Ich hab mich gefragt, wo denn die Wut des Icherzählers geblieben ist. Der muss die haben. Und zwar auch auf den Bruder. Und diese hmm naja, unterirdische Dimension lässt du halt draußen. Ich spür da aber trotzdem was innerhalb deiner Geschichte, nur dass es eben nicht auserzählt wird. Titel und die gesamte Erzählung legen das in Spuren nahe, dass da auch Wut dem Bruder gegenüber da ist. Nicht als offensichtlicher Ausbruch, sondern als so eine merkwürdig duldende Starre.
Hm ja, dazu kann ich jetzt wenig sagen. :D Ja, kann man so deuten, allerdings hatte ich jetzt nie eine Wut von einem Bruder auf den anderen gespürt, eher eine tiefe brüderliche Allianz. Was ich interessant fand, war, dass da praktisch eine Wut-Übergabe über Generationen stattfindet: Wie würde der kranke als Vater werden, wenn er nicht krank geworden wäre? Würde er diese Wut, die er in sich trägt und nicht wegbekommt, würde er die in Ausnahmesituationen wieder vor/an seinen Kindern ausleben, und könnte das etwas Ähnliches auslösen, eine neue Wut bei der nächsten Generation? Das fand ich interessant, und ich bin ir nicht sicher, ob das eine Binsenweisheit ist, deswegen findet das nur am Rande hier im Text statt, aber ich bin schon überzeugt, dass das so passiert und ein Mechanismus von Wut-Übergabe ist.
Aber dass da zwischen den Brüdern etwas brodelt, das ist schon ein interessanter Ansatz von dir, ich werde mal drüber nachdenken!

Also beim Lesen dieser zweiten Hälfte ging es mir (selbst wenn da die ein oder andere Behauptung rausgestrichen oder geshowt werden könnte) eher so, dass ich immer das Gefühl hatte, das geht viel zu glatt, das ist was nicht ausgelotet genug. Da fehlt einfach was, wenn ich mich in das gesamte Familienkonstrukt reinversetze.
Ich wollt das noch loswerden. Keine Ahnung, ob es dir irgendwas bringt, wenn nicht, vergiss es einfach.
Ja, ich werde mal weiter ausloten, und die Familienstory irgendwie umschreiben, damit sie funktioniert, zu 100%.

Loswerden wollte ich aber auch noch, dass ich die Geschichte großartig fand. Den ersten Teil zumindest sowieso. Das ist der Zigga, wie ich ihn saugerne lese.
Und den zweiten Teil, ne, das weißt ja, schlecht fand ich den auch nicht. Nur geklafft hats halt. Den find ich noch nicht ganz so großartig.
ACh, danke :D auch wenn großartig nicht ganz passt, hat ja noch einige Macken, das Teil hier. Aber danke dir fürs Kompliment, Lesen, Kommentieren!

Viele Grüße
zigga

 

zigga

Ich verstehe dein Feedback nun viel deutlicher. Diese Geschichte hat mich zum Weinen gebracht - jedes Detail so gut formuliert, damit ich als Leser mitfühle.
Sehr schönes und schmerzvolles Werk!

 

Peperoni
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, ich habe mich sehr über dein Lob gefreut, und natürlich auch darüber, dass ich dir womöglich etwas zeigen konnte.

Gruß
zigga

 

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