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Wut
Er rief mich an, da war es mitten in der Nacht. Ich brauchte zehn, zwanzig Sekunden, bis ich bei klarem Verstand war, aber als ich seinen Namen auf dem Display erkannte, wusste ich sofort Bescheid. Ich setzte mich auf die Bettkante, fuhr mir durch die Haare und blickte einen Augenblick aus dem Fenster. Draußen war es tiefschwarz, sternenlos, bloß das weiße Licht der Straßenlaterne fiel auf den Gehweg und das Wohnhaus gegenüber. Hinter mir hörte ich meine Freundin atmen, langsam und gleichmäßig. Ich strich ihr über die Wange, dann nahm ich ab.
An seiner Stimme erkannte ich sofort, dass wieder etwas nicht stimmte. Er fragte mich, ob ich schon geschlafen hätte, er fragte mich, ob ich morgen arbeiten müsse. »Nein«, sagte ich, dann: »Was gibt’s?« Ich schloss die Augen und gähnte, ich konnte es nicht zurückhalten.
»Irgendwas stimmt nicht mit mir«, sagte er, »ich hatte gerade so ’nen komischen Traum, und jetzt bin ich aufgewacht, und irgendwas stimmt nicht mit mir.«
Ich öffnete meine Augen wieder. Dann erzählte mir mein Bruder von seinem Traum; und je weiter er voranschritt, desto dünner und brüchiger wurde seine Stimme – und je dünner und brüchiger sie wurde, desto mehr sah ich ihn vor mir: meinen Bruder, in seinem schwarz-rot-karierten Hemd, auf dem Ledersessel im Wohnzimmer; seit ein paar Wochen konnte er nirgendwo mehr schlafen, nur noch auf diesem Ledersessel. Er konnte weder stehen noch liegen noch auf einem Möbelstück sitzen, außer eben auf diesem Sessel. Er saß jeden Morgen und jeden Nachmittag auf diesem Ledersessel, und wenn er nachts aufwachte und mich anrief, saß er immer noch dort. Meine Eltern trugen ihn auf die Toilette und sie trugen ihn in die Dusche, und überall litt er furchtbare Schmerzen, und er litt so lange, bis er wieder auf seinem Sessel sitzen und durchatmen konnte.
Er erzählte mir also von seinem Traum, und als er fertig war, sagte er: »Ich weiß nicht, wieso mich das so tangiert. Aber seit ich aufgewacht bin, kann ich an nichts anderes mehr denken, und jetzt denke ich, dass irgendwas nicht mit mir stimmt, weißt du, im Kopf, dass ich durchdrehe.«
Ich stand auf und sah wieder hinaus, in die Dunkelheit, zu der Laterne, die dünn und hoch ihr Licht über den Gehweg ergoss. Im Glas des Fensters erkannte ich die Umrisse meines Spiegelbildes. Ich sah das leuchtende Display an meinem Ohr; und ich sah ihn vor mir, wie er auf seinem Sessel saß und auf meine Antwort wartete.
Ich sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen solle, ich sagte ihm, dass dieses Gefühl von den Schmerzmitteln käme, »von den starken«, sagte ich, »die bringen deinen Kopf durcheinander«, sagte ich.
Ich hörte ihn atmen, dann sagte er plötzlich: »Ich weiß nicht, wie du das all die Jahre ausgehalten hast.«
»Was?«, sagte ich.
»Ich weiß echt nicht, wie du das all die Jahre mit ihm ausgehalten hast. Ich hasse ihn. Ich kann echt nicht über viele Menschen sagen, dass ich sie hasse, aber ihn hasse ich, echt.«
Bei den letzten Worten brach seine Stimme wieder. Ich sah auf meine Freundin, und sie lag dort, in der Dunkelheit, und ich hörte sie atmen, ganz gleichmäßig, ein und aus, und dann ging ich in die Küche, mit dem Handy am Ohr.
Vor zwei Jahren hatten sie die erste Geschwulst entdeckt, an seiner Bauchdecke – seitdem hatte er alles verloren: Freundin, Wohnung, Firma. Er hatte sich nie beklagt. Ich hatte ihn nie weinen sehen, ich hatte ihn nie trösten müssen. Er war sich immer sicher gewesen, dass er die Sache durchstehen würde. Aber seitdem er in dem Sessel saß, rief er mich jede Nacht an. Er wohnte bei meinen Eltern, und als ich achtzehn Jahre alt war, zog ich so weit weg von meinen Eltern, wie ich nur konnte. Mit dem alten, blauen Ford meiner Freundin besuchten wir meinen Bruder so oft wie möglich, aber immer blieb dieses Gefühl, zu wenig zu tun, nicht da zu sein. Ich dachte an meine Eltern, wie sie ihn vom Sessel auf die Toilette trugen, wie er sein Geschäft erledigte, wie sie ihm die Hose hochzogen und wieder zurückschleppten. Ich dachte an meinen Vater, wie er dabei schnauft und schwitzt, und wie diese Ader an seiner Schläfe anschwillt; wie sein Gesicht rot anläuft, sich anspannt, und wie seine Augen glasig werden – ja, so musste es aussehen.
Ich setzte Kaffee auf. Ich hielt das Handy noch am Ohr, und wir schwiegen. Ich schaute zur Wanduhr: vier Uhr sechsundzwanzig. Der Linoleumboden unter meinen Füßen war kühl und voller Krümel. Ich ließ das Licht aus, schaltete bloß die kleine Lampe über dem Herd ein.
»Er ist ein Affe«, sagte er.
»Ja«, sagte ich, »aber er tut alles für dich.«
Ich hörte ihn schnaufen, dann sagte er: »Ich weiß ja. Ich weiß das ja alles, und ich bin ihm ja auch dankbar dafür. Aber immer, wenn ich ihn sehe, kommt diese Wut in mir hoch. Ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe sein Gesicht, und wie er frisst und pfeift und läuft, und alles in mir verkrampft sich, und ich hab einfach diese Wut in mir, weißt du.«
Ins Krankenhaus wollte er noch weniger als zu meinen Eltern. Es war nicht absehbar, wann sich sein Zustand verbessern würde, und meine Eltern hatten ein großes Haus mit Klimaanlage und verschiedenen Badezimmern, und der letzte Ort, zu dem er wollte, war das Krankenhaus.
»Erzähl mir von früher«, sagte er, und ich hörte, dass er sich in seinem Sessel zurücklehnte, um sich zu entspannten. »Erzähl mir von früher, so wie du’s immer machst.«
Ich setzte mich auf den Küchstuhl und hielt die Kaffeemaschine im Blick. Der rote Power-Knopf leuchtete in der Dunkelheit, und die Maschine gurgelte und Kaffee lief in die Kanne.
»Also gut«, sagte ich, und starrte weiter auf den Power-Knopf. »Also, wir wohnten alle in diesem kleinen Reihenhaus, in der Ebelshöhe. Uns ging es allen gut und wir hatten einen großen Garten, und wir hatten auch ein Baumhaus, und im Sommer spielten wir da drin immer bis spät in der Nacht. Und der Vater war nie sauer, er hatte nie seine Anfälle, weil sein Geschäft durchgehend gut lief, und er jeden Morgen zehn Kilometer joggte. Wir hatten nie diese andere Seite von ihm kennengelernt, er war der ausgeglichenste Mensch, den wir kannten. Jeden Nachmittag machte er sein Schläfchen auf der Couch, und wir beide lachten uns jedes Mal tierisch kaputt, wenn er dalag und so extrem laut schnarchte. Und wenn wir zu laut lachten, wachte er auf, und dann lachte er immer mit uns mit, weil er schon wusste, dass es um seine Schnarcherei ging.
Und in einem Sommer – ich weiß nicht mehr, welcher – baute er uns eine Seifenkiste, eine richtig gute, weißt du, eine silberne, mit echten Reifen und Lenkrad. Und wir rasten den ganzen August über bis zur Dämmerung damit die Wiese bei der Ebelshöhe runter. Und wenn es dunkel wurde, kam unsere Mutter rübergelaufen, und dann mussten wir nach Hause, zum Abendbrot. Und am Tisch haben wir mit glühenden Ohren von unseren Seifenkisten-Abenteuern erzählt, und unsere Mutter erzählte von den Nachbarinnen und welche Kuchen sie bald backen wollte, und der Vater erzählte von seinem Zehn-Kilometer-Lauf und von seinem Geschäft, und wie gut es dort lief und wie fleißig ihm die Leute seine Wasserfilter und Bodenheizungen abkauften.
Und im darauffolgenden Herbst, ich glaube, da wurde ich gerade eingeschult, da wollte der Vater in seinem Geschäft umbauen; und er ließ seinen einen Läufer-Kollegen kommen, und dann schlugen sie mit dem Vorschlaghammer unten im Keller eine Wand ein, weißt du, eine total belanglose: die Wand, die dort vor dem Waschbecken steht; und, du wirst es nicht glauben, aber als sie dabei waren, diese Wand einzuschlagen, merkten sie, dass da etwas ganz Komisches in ihr drin war. Und sie schlugen weiter und weiter, und plötzlich konnten sie diese Unmenge an Goldbarren da herausziehen, aus der Wand. Und, so ehrlich wie unser Vater nun mal war, ging er zur Polizei und wollte den Besitzer des Goldes finden; aber niemand meldete sich, und nach einem Jahr bekamen wir plötzlich einen Brief, vom Richter, und darin stand, dass das Gold laut einem Gesetz jetzt uns gehörte.«
»Ja«, sagte mein Bruder, »das ist gut, das mit dem Gold. Das gefällt mir. Erzähl weiter.«
»Okay. Also, nachdem uns dieser Brief erreicht hatte, waren unser Vater und unsere Mutter natürlich total aus dem Häuschen, und von da an flogen sie viermal im Jahr in die Karibik, und niemand der beiden musste mehr arbeiten, und der Vater verkaufte seinen Laden, aber wir lebten weiter in dem kleinen Reihenhaus in der Ebelshöhe, weil es uns dort so gut gefiel und weil es uns dort allen so gutging. Und mit deinem Erbe bist du in das Erlebnispark-Geschäft eingestiegen, weißt du, du hattest das mit der Seifenkiste nie vergessen, und weil du nicht wusstest, was du sonst mit deinem Geld machen solltest, hast du dir Anteile an einem Erlebnispark gekauft, so richtig mit Achterbahnen und Delfinen-Shows und alles.«
»Erlebnisparks mag ich wirklich«, sagte mein Bruder.
»Ich weiß«, sagte ich. »Und seitdem leitest du diesen Park, und du bist ständig dabei, neue Achterbahnen und Attraktionen zu entwickeln. Und ich bin ein berühmter Maler geworden, ich habe mir von meinem Erbe die besten Zeichenlehrer der Welt einfliegen lassen, und die haben mir alles gezeigt, was sie wissen, und ich male auf überdimensional großen Leinwänden das abgefahrenste Zeug: Landschaften, Menschen, alles.«
»Das würde zu dir passen«, sagte er, und lachte leise.
»Und wir beide leben noch in dem Reihenhaus, und unsere Eltern sind fast nur noch in der Karibik, und einmal im Jahr besuchen wir sie dort.«
»Das klingt gut«, sagte er.
Wir schwiegen einen Augenblick, und ich sah, dass der Kaffee durchgelaufen war.
»So wär’s wirklich schön«, sagte er. »Ich würde abgefahrene Achterbahnen bauen lassen, mit Tunneln und Loopings. Die Delfinen-Show würde ich wahrscheinlich schließen lassen, wegen den Tieren.«
»Ja«, sagte ich, »stimmt.«
Wir schwiegen wieder, und ich hörte seinen Atem.
»Ich glaube, ich sollte noch ein bisschen schlafen«, sagte er.
Als wir uns verabschiedet hatten, holte ich eine Tasse aus dem Schrank und schenkte mir Kaffee ein. Dann ging ich zum Küchenfenster und blickte hinaus. Der Mond schwebte sichelförmig über der Stadt, ein paar Lichter brannten im Hochhaus gegenüber. Ansonsten nichts als Dunkelheit. Ich trank vom Kaffee und dachte an meine Freundin, die drüben lag, in der Dunkelheit. Ich dachte auch an meinen Bruder, wie er in seinem Ledersessel saß und sich zurücklehnte und die Augen schloss.
Dann dachte ich über diese Wut nach, von der er gesprochen hatte; und ich erinnerte mich an früher, als kein Tag verging, an dem wir uns nicht vor den Launen unseres Vaters fürchteten – kein Abend, an dem ich keine Bauchschmerzen bekam, wenn ich meine Eltern draußen vor dem Milchglas der Haustüre stehen sah.
Meine Mutter arbeitete in seinem Büro, und er war der große Mann für alles: Verkäufer, Fachmann, Einzelhändler. Wenn er Großkunden gewann oder Heizsysteme an ganze Gebäudekomplexe verkaufte, schritt er abends pfeifend durch die Haustür, kochte groß auf und wollte, dass wir alle an einem Tisch saßen und aßen, so wie es die Familien im Fernsehen taten.
Aber das Geschäft lief nie gut. Er schaffte es nie, genug zu verkaufen, die Banken saßen ihm immer im Nacken. Er war keiner dieser prügelnden Väter, er schlug uns nie. Aber hatte er miese Laune, erwartete er von uns, seiner Familie, dass wir dafür herhielten: Er ging jeden Tag arbeiten, bis zur Erschöpfung, und daran waren wir schuld. Er tat es für uns. Das sagte er uns: Schaut her, ich bin euer Vater, und ich arbeite mich tot für euch.
Am Esstisch redete er ausschließlich vom Geschäft, von neuen Kunden und alten, die ihm abgesprungen waren, vom Einkauf und neuen Trends, was meine Mutter falsch gemacht hatte und was sie noch tun müsse. Und wenn einer von uns Kindern während seines Monologs lachte oder stöhnte, drehte er durch, schrie uns so lange an, bis wir heulten. Später kam er dann zu uns aufs Zimmer, setzte sich auf die Bettkante und sprach davon, dass er so beschäftigt, so erschöpft sei, dass er das alles nur für uns tue. Schließlich sagte er, dass es ihm leid tue; und ob wir es verstehen würden, ob wir ihm verziehen würden; und wir sagten: Ja, wir verzeihen dir.
Mein Bruder traf das schwerer als mich. Vielleicht, weil er älter war, weil er bis zu meiner Geburt mit ihm und meiner Mutter alleine gewesen war. Ich hatte ihn oft beobachtet, meinen Bruder: Im Kindergarten und in der Grundschule – jedes Mal versteinerte er, wenn ein anderes Kind kam und ihn schubste oder beschimpfte. Er blieb einfach stehen, und starrte auf den Boden. Wäre ich nicht irgendwann gekommen und hätte die anderen Kinder weggeboxt, sie hätten alles mit ihm gemacht. Auch danach bei den Lehrern sagte er nichts. Er blickte einfach auf seine Schuhe, stumm, und wartete darauf, sich wieder hinsetzen zu dürfen – erst später, nachdem wir zuhause waren, kam das dann alles in ihm hoch; dann schlug er stundenlang mit rotem Kopf auf Wände ein, oder hämmerte sich mit den Handflächen gegen den Schädel. Er sagte, er könne das nicht rauslassen, er sagte, da sei diese Wut in ihm, und er fürchte, er bringe jemanden um, wenn er sie rauslasse. Er sagte, er hasse unseren Vater; er sagte, er hasse ihn, wenn er ihn nur sehe, wie er abends gut gelaunt zur Tür reinkomme, wenn er pfiff, wenn er Schweinebouletten anbriet und wir uns alle an den Tisch setzen mussten, um ihm zuzuhören. Er sagte, er hasse ihn noch mehr, wenn er gute Laune hätte, denn dann sähe er, was uns unser Vater alles vorenthalten hätte: das unbeschwerte Gefühl von Zuhause, von Familie.
Mit sechzehn verlor ich schließlich die Angst vor meinem Vater. Ich wollte sehen, wie weit er gehen würde – ich musste es einfach wissen. Abends erkannte ich schon an seinen Schritten unten im Erdgeschoss, dass irgendetwas in ihm los war, dass er Druck ablassen musste. Ich hörte, wie er Töpfe und Geschirr durch die Küche warf: Es war ihm nicht sauber genug, würde er später sagen; er arbeite sich tot für uns, und wir würden nicht mal richtig abspülen können, würde er sagen – ich kannte das ganze Spiel. Als ich runter ging und in die Küche lief, begann ich einfach zu lachen. Ich sah ihn an und lachte – ich wusste nicht, woher das kam, aber das Lachen war echt, nicht gespielt. Er drehte sich zu mir, und brüllte, was das soll, wer mir das Recht gäbe, ihn auszulachen. Sein Kopf war blutrot, die Ader an seiner Schläfe pumpte, und ich tat nichts, als zu lachen. Mein Vater schrie wieder – und als er merkte, dass ich einfach weiterlachte, packte er mich, an den Schultern; ich spürte, wie diese Wut in ihm nach mir griff; und ich spürte auch, wie er mit sich haderte, mich anzufassen, wie da eine unsichtbare Grenze existierte, die ein Teil von ihm nicht überschreiten konnte. Dann begann er, mich zu schütteln: Er schüttelte mich und schrie, und ich lachte: ein, zwei Minuten lang – bis er meine Schultern losließ und mich am Hals packte: Und ich fühlte seine Hände, wie sie mich umklammerten, aber nicht zugreifen konnten, völlig schlaff waren; da wusste ich, wie weit er gehen konnte, wo seine Grenze lag.
Als er losließ, lagen wir beide auf dem Boden: Er über mir, mit den aufgerissenen Augen, dem weißen Hemd und dem Jackett; mit dem roten Gesicht und der angeschwollenen Ader; und ich auf den Fliesen, lachend. Mein Vater stand auf und blickte mich ein letztes Mal an – dann lief er rüber ins Wohnzimmer, schmiss die Kommode um, knallte die Haustüre zu, und wir sahen ihn bis zum nächsten Abend nicht wieder.
An diesem Tag verlor ich die Angst vor meinem Vater, und ich wusste, dass ich so weit weg ziehen würde, wie ich nur konnte.
Mein Bruder hatte nie dieses Erlebnis; er hatte es nie geschafft, abzuspringen, sich loszureißen. Mein Vater bezahlte ihm das Studium und die Wohnung, und als Gegenleistung fuhr mein Bruder an den Wochenenden nach Hause, setzte sich an den Tisch, hörte sich seine Reden an und ließ sich anschließend beleidigen, und irgendwann im Laufe des Wochenendes verzieh er meinem Vater, und Sonntagabend fuhr er zurück, mit hundertneunzig Stundenkilometern, und schlug zuhause auf Wände ein oder ging so lange joggen, bis er zusammenbrach.
Erst, als mein Bruder seine Firma gründete, sein Mädchen kennenlernte und endgültig auszog, verlor sich diese Wut in ihm, und es gab nur noch einzelne Momente, in denen ihn die Leute nicht verstanden: Wenn er nach der Arbeit stumm in den Garten lief, und dort mit einem Stock auf einen Baum eindrosch; wenn er nachts stundenlang die Landstraße auf und ab joggte, nachdem ein Bekannter im Restaurant beiläufig einen Witz über ihn gerissen hatte.
So lebte mein Bruder drei, vier Jahre lang, immer mit dieser verschütteten Wut in sich; und als die ersten Geschwulste auftauchten, fragte ich mich, ob es da nicht einen Zusammenhang geben könnte, zwischen all dem angestauten Hass und diesen Beulen, die ihm wuchsen.
Es war schwer, über all das nachzudenken. Die Sonne ging auf, und ich stand noch immer mit der Kaffeetasse am Küchenfenster; und als ich mich zu meiner Freundin legte, überkam mich ein solches Beben, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann; und je heftiger mich dieses Zittern schüttelte, desto mehr verschwammen auch all die Bilder in meinem Kopf: Der Ledersessel; die Goldbarren; die endlosen Monologe am Esstisch; – bis sie mir vorkamen, als hätten sie so nie existiert; als wären sie Teil eines großen Mosaiks, Bruchstücke unzähliger dieser kleinen Geschichten, die ich mir ständig ausdachte: Und als wäre auch ich bloß ein Teil einer solchen Geschichte, als wäre ich schon lange tot, und bloß die Idee eines anderen.