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Komplett überarbeitet
Wolkenträume
Der Fahrstuhl schwebt sanftzischend nach unten. Draußen gewöhne ich mich an die Sommerhitze, nehme den Weg zwischen Kastor und Pollux hindurch. Die Zwillingstürme tragen den Namen von Halbgöttern, die abwechselnd einen Tag im Paradies, einen in der Hölle verbringen müssen.
Die Wolkenzaubertage halten an. Deshalb beeile ich mich, zum Grüneburgpark zu kommen. Solange ich mich in Pollux befinde, bleibe ich Teil des Organismus, des Universums, das sich dort versammelt, wage es nicht aus dem Fenster zu blicken, den Horizont über der Skyline abzusuchen. Während der Arbeit darf ich keine Schwäche zeigen, verschwende keinen einzigen Gedanken darauf, bin niemand Anderes als Eduard Berghofer, trage Verantwortung, entwickle innovative Finanzprodukte, Kredite für Menschen, die sonst keine bekommen, arbeite als Projektleiter im Großraumbüro, teile mit dem Team das Essen in der Kantine, den Kaffee aus dem Automaten. Meine Mannschaft liefert Ergebnisse. Ich lebe alleine, ohne Eltern, ohne Familie, ohne Frau.
Im Büro erzähle ich niemandem von den Wolken, den Freuden, die ich dabei empfinde, obwohl ich mich danach sehne, die Augen zu öffnen. Seit einiger Zeit bin ich Mitglied in der Cloud Appreciation Society. Anfangs wollte ich Zirrus, Stratos und Kumulus unterscheiden. Inzwischen bin ich weiter, kümmere mich nicht um Definitionen. Die gedeutete Welt lügt, wird zur Illusion, die ich, ich und ich sagt. Am Himmel erkenne ich jede Sekunde etwas Neues. Zauber- und Dämonengebilde dehnen und strecken sich, wehen und wogen. Nichts bleibt, wie es ist, aufgefächerte Teppiche, sich wandelnde Formen, Wölkchen, die den Himmel betupfen, zu Gewittern aufquellen, zu einem Luftkissen, aus dem Blitze zucken, Regen hervorbricht.
Am liebsten mag ich den Platz auf dem Hügel zwischen den beiden Kastanienbäumen. Unterhalb erstreckt sich eine Wiese, auf der Kinder spielen, Hälse sich der Sonne entgegenstrecken. Auf den Wegen spazieren Liebespärchen, Eltern mit Kinderwagen, Einsame und Unsichtbare. Ich setze mich, die Menschen verschwinden, wenn ich die Augen zum Himmel richte.
Eduard löst den Blick, riecht versengtes Gras, atmet Parkluft. Unten am Weiher bemerkt er einen Schatten, der die Nebelträume vertreibt. Sie trägt ein Regenbogenfarbenkleid und Sonnenbrille. Am Unterarm baumelt eine Gucci-Tasche. In der Akte steht: Gloria Meisner, 23 Jahre alte, 1,70m groß, BH 75b, ohne Piercings oder Tattoos, blauschwarze Haare, intimrasiert. Details kennt er von den Nacktfotos, die seine Bank von Kunden als Sicherheit für den Mikrokredit verlangt, wenn sie kein anderes Pfand, keinen Bürgen nennen können, über kein regelmäßiges Einkommen verfügen. Zahlt sie nicht, muss gehandelt werden, das lässt sich nicht ändern. Sie hat sich fünfzehn Beträge geliehen, insgesamt 3.000 €. Seit drei Monaten zahlt sie keine Raten mehr, hat Mails geschrieben, um Aufschub gebeten, wollte persönlich vorsprechen, obwohl Publikumsverkehr grundsätzlich abgelehnt wird. Eduard verabredet sich mit ihr im Park, weil er nie einen Kunden persönlich getroffen hat.
Er verliert sie aus den Augen, schaut auf die Uhr, da nimmt er einen Luftzug wahr. Gloria Meisner sitzt neben ihm. Ihr Parfüm duftet nach Rosen und Zitronen gleichzeitig.
„Guten Tag. Sind Sie Herr Berghofer?“
„Ja, der bin ich. Eduard Berghofer. Angenehm!“
„Gloria Meisner. Schön, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“
Sie schlägt die Beine übereinander und blitzt aus azurblauen Augen.
„Ich habe sie sofort erkannt, weil ich sie hier schon mal gesehen habe“, sagt sie.
„Ja, ich komme oft nach Feierabend her und schaue mich um.“
„Nach was schauen Sie sich um? Nach Frauen?“, fragt sie und kichert.
„Nein, Wolken. Ich beobachte Wolken.“
„Aha. Warum ausgerechnet Wolken?“
„Weil sie schön sind.“
„Okay, ich liebe schöne Dinge.“
„Dann haben wir eine Gemeinsamkeit.“
„Ja, kann man so sagen.“
„Herr Berghofer, ich bin wirklich froh, dass Sie mich treffen. Morgen ist schon der Fünfzehnte.“
„Ich weiß. Sie müssen bezahlen.“
„Und wenn ich nicht kann?“
„Denken Sie an die Bilder!“
„Werden Sie die wirklich freischalten?“
„Bleibt mir nichts anderes übrig.“
„Warum treffen Sie sich mit mir, wenn Sie mir nicht helfen wollen?“
„Ich wollte Sie kennen lernen. Außerdem haben Sie mich darum gebeten.“
„Mich kennen lernen? Ich bin nicht so eine, Herr Berghofer!“
„Das ist mir völlig klar, Frau Meisner. Ich werde Sie nicht in Verlegenheit bringen. Wissen Sie, dass Wolken sich ständig verändern?“
„Na und?“
„Sehen Sie die große Wolke, in der Mitte grau und an den Rändern weiß?“
„Ja.“ Sie schaut ihn an, als wolle sie wissen, was die Wolken mit ihr und ihrem Anliegen zu tun haben, besinnt sich: „Ich sehe ein Tier, eine Maus. Nein, könnte auch eine Eule sein. Oje, die Tierbilder verschwinden, versinken in einer Milchsuppe. Sie reckt ihr Kinn wie eine Tänzerin nach oben. Gloria und Eduard schauen einander an, ohne etwas zu sagen.
„Treffen wir uns morgen wieder hier?“, fragt er sie.
„Ja, warum nicht. Ja, gern!“
„Frau Meisner! Ich lasse mir was einfallen mit der anderen Sache. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Wirklich?“
„Ja.“
„Eine Frage habe ich noch, Herr Berghofer.“
„Gut.“
„Haben Sie sich die Bilder angeschaut?“
„Sicher.“
„Und was haben Sie gedacht?“
„Nichts. Sie sind hübsch, Frau Meisner. Ein Wolkenkind, dachte ich.“
„Selbe Uhrzeit?“
„Eine Stunde früher?“
„Einverstanden.“
„Bis bald, Herr Berghofer.“
„Sagen Sie bitte Eduard zu mir.“
„Ich bin Gloria. Bis morgen, Eduard.“
Die Luft riecht grün. Die Sonne leuchtet orange. Ich tanze durch den Park. Als ich mich umdrehe, winkt Eduard mir zu. Mein Herz füllt sich. Wenn er mir nicht hilft, verliebe ich mich in ihn, wenn doch, dann sowieso.
Ich streife die Ballerinas ab. Die Grashalme kitzeln und kribbeln an den Fußsohlen. Ich beobachte eine Frau. Ein Kind zieht an ihr, das andere sitzt im Buggy und starrt in die Luft. Ihr Hund trottet nebenher. Ein Labrador. Das Fell schimmert wie Seide. Max fällt mir ein. Er hat mich angelogen, nichts, was er erzählte, hat gestimmt. Nicht mal einen Job hatte er. Kein Geld, kein gar nichts, außer Sixpacks und Hintern. Die Erinnerungen an ihn verstecke ich, will nicht mehr an die Küsse denken, an nichts, was mit ihm zu tun hat.
Wind kommt auf. Auf dem Schotterweg ziehe ich die Schuhe wieder an, laufe schneller. In der Bahn kauere ich mich zusammen. Am liebsten würde ich die Beine anziehen.
Ich muss Mama anrufen. Sie hat zweimal probiert, mich zu erreichen. Ich bin nicht rangegangen. Sie will wissen, wie die Prüfung lief. Ich kann ihr unmöglich sagen, dass ich im Bett lag und Serien geschaut habe, statt hinzugehen.
Zu Hause lege ich mich aufs Bett und heule. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet jetzt, passiert einfach, liege da und schaue aus dem Fenster. Ob Eduard jemandem den Himmel erklären will, ein Opfer sucht, dem er Fantasien schildern kann? Ich stelle mir vor, ihm etwas über Designer-Taschen zu erzählen, den Geruch des Leders zu beschreiben, wie sie sich anfühlen, wenn ich sie streichle. Vielleicht hält er mich dann für ein kleines Mädchen. Na und. Eduard trägt den Anzug eines Gentlemans, nichts daran sieht speckig oder billig aus, seine Augen glitzern wie Smaragde, strahlen, als wäre er ein Löwe, der mich anfallen, zerfetzen oder als Schatz bewachen könnte. Ich habe nie einen getroffen wie ihn. Wer zu den Wolken sieht, kann auch nach innen schauen. Den Schleier durchdringen. Er wird mir helfen, bin fast sicher.
Er hat mich nicht einmal gefragt, warum ich die Taschen gekauft habe, dabei hätte ich’s ihm gesagt. Ich schäme mich wegen des Geldes. Auch wegen der Bilder. Wenn jeder sehen kann, wie nackt ich bin, die Brustwarzen, den Po mit eigenen Augen berühren kann, wenn die Bilder veröffentlicht werden, Papa und Mama sie im Mailbriefkasten finden, wie werden sie alle lachen und mit den Fingern auf mich zeigen. Wird aber nicht passieren. Wegen Eduard. Wegen der Wolken.
Dann weine ich mich in den Schlaf, zittere, fühle mich wie ein Vöglein, das zu den Wolkenträumen fliegt.
Gloria sitzt auf dem Bänkchen. Ohne Gucci-Tasche. Sommerwind streift ihre Wangen. Fäulnis weht durch den Park. In den Rabatten lassen Blumenreste die Köpfe hängen. Ein Bettler läuft an ihr vorbei, eine Knochengestalt, die ihr die Hand hinhält: „Kann ich achtzig Cent zum Telefonieren haben?“ Sie gibt ihm einen Fünf-€-Schein. Er hält ihn ins Licht und geht davon. Während sie wartet, schaut sie sich Pfauenwolkenreliefs an, Tupfer, die sich bewegen sich, Grimassen, die sich in Wattebäusche verwandeln.
Sie schreckt auf, als Eduard sich neben sie setzt. Er lächelt.
„Wir reden gleich, okay?“
Zeit vergeht. Sie rücken einander näher, die Beine berühren sich. Gloria legt ihre Hand auf seine. Er streicht über ihre Haut.
„Alles erledigt. Du musst dir keine Sorgen mehr machen. Die Bilder habe ich gelöscht“, sagt er.
„Und was ist mit dem Geld?“, fragt sie.
„Vergiss es. Wird abgeschrieben. Wir haben keine Sicherheiten mehr.“
„Was möchtest du dafür?“
„Nichts, ich habe alles.“