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Wohnst du noch, oder lebst du schon?
Eddie biss sich auf die Lippe, als die Tür ins Schloss krachte, weil er wusste, was ihm für seine Unachtsamkeit blühte. Er überlegte noch, wieder umzudrehen, wurde aber sogleich von seiner gereizten Freundin empfangen.
„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du die Tür leise schließen sollst, wenn kein Licht mehr brennt?“, murrte Lisa.
„Selbst wenn alle Lampen an wären, könnte ich das durch das Fenster nicht erkennen, weil mich die Abendsonne blendet. Ist dir klar, dass es gerade einmal zwanzig Uhr ist? Du verschlä...“
„Müsste es dann nicht auch zu früh für eine Fahne sein?“
Eddie ließ Lisa stehen, ging in Richtung Küche, biss ein Bier auf und öffnete die Balkontür. Er hakte den provisorischen Verschluss ein, drehte sich eine Zigarette und klopfte noch vor dem Entzünden an das Glas, um den Blick seiner Freundin auf die langsam fallende Sonne zu lenken. Lisa fragte durch den Spalt, ob sie sich zu ihm setzen dürfte, er verneinte und verwies darauf, dass er Zeit für sich brauche. Deutlich später, als er reinging, schlief sie bereits wieder.
„Hörst du mich?“, wollte Eddie wissen, während er mit dem Handrücken über ihren Arm fuhr, dessen Härchen sich aufrichteten. „Hmm“, schmatzte sie und zog die Decke ans Kinn.
„Mach mit mir, was du willst. Ich bleibe einfach so liegen.“
Der Bewegung in seiner Hose zum Trotz verließ er das Schlafzimmer und setzte sich auf die Couch. Früher hatte Lisa noch gesagt, er solle sich nicht so hinfläzen, heute saß er da zusammengekauert, rauchte Zigarette um Zigarette und starrte auf die flimmernde Glotze. Ein vermeintlicher Terroranschlag hier, ein Verkehrsunfall da.
Am nächsten Morgen schritt Lisa fröhlich durch das Wohnzimmer, gab Eddie einen Kuss auf die Wange und wunderte sich darüber, dass er schon wach war. Sie tauschte die Bierflaschen und das Whiskyglas gegen eine Tasse schwarzen Kaffee.
„Du hast Ohren wie ein Luchs, kriegst alles mit, was du mir vorhalten kannst, aber dass ich überhaupt nicht geschlafen habe, kommt dir nicht in den Sinn, oder was?“
„Meine Güte, hast du vielleicht eine Laune. Na dann erzähl mal, du alter Miesepeter.“
„Scheiße, wo soll ich denn anfangen? Vielleicht damit, dass sich ein Mensch, der im Begriff ist, ein anderes Lebewesen zu überfahren, lieber darauf konzentriert, die Hupe zu betätigen, anstatt mit aller Macht den Unfall zu verhindern! Fuck, das ist doch krank.“
„Herrje, hast du schlecht geträumt? Leg dich besser hin, mein Schatz, ich muss jetzt zur Arbeit.“
Ein verzweifelter Aufschrei erstickte in dem hellblauen Sofakissen.
Eddie saß auf der Dachschräge, als Lisa nach Hause kam. Sie ging auf den Balkon, klammerte sich an dem Geländer fest und schaute besorgt nach oben. Ob er lebensmüde sei, fragte sie mit leiser Stimme, die den Vorwurf nicht kaschierte.
„Du weißt doch gar nicht, was es heißt, des Lebens müde zu sein“, pfiff es von oben hinunter. In einem verächtlichen Ton, den Lisa partout nicht duldete. Ihr war danach, das Bett mit der bestickten Wäsche zu beziehen, die sie im Internet entdeckt hatte. Das Motiv würde Eddie gewiss gefallen. Schäfchen, die nicht auf und ab wanderten, sondern dösend beieinander lagen und die Beständigkeit genossen, die ein Eigenheim bot, während die Freiheit bedeutete, jene Sicherheit aufgeben zu müssen, für die man bisher gelebt hatte.
Der Gedanke an das morgige Frühstück, bei dem die Padmaschine erstmals zur Geltung kommen würde, ließ Lisa zufrieden in den Schlaf finden. Sie zog noch in Erwägung, Eddie einen Zettel zu schreiben; falls er wieder so früh aufstehen sollte, könnte er ja den Karton nach unten tragen und dann zerstückelt in die Papiertonne werfen. Ein Herz in ihrem Kaffeeschaum wäre auch schön.
Lisa war nicht ansprechbar, als er den Rucksack ans Bettgestell lehnte, und doch begann er, sich zu rechtfertigen. Für ihn war es weniger eine Rechtfertigung als die Möglichkeit, sich dessen zu erleichtern, was gefühlte Ewigkeiten lang sein Gepäck war. Seinen Freunden, Bekannte traf es wohl eher, hatte er sich nie anvertraut, er hätte gekonnt, wollte aber nicht. Was Lisa anbelangte, durchbohrte ihn die andere Seite des Spießes, und obwohl er es leid war, auf taube Ohren zu stoßen, fühlte er sich dazu verpflichtet.
Sie erwachte vorübergehend aus ihrer Trance, verfiel ihr aber umgehend wieder, nachdem das Fernweh zur Sprache kam. Zwanzig Minuten später verabschiedete er sich mit einem Kuss auf die Stirn.
... Dass ich gehe, ohne zu stocken,
durch die noch schlafende Stadt hinaus ins Land. - Dylan Thomas
Die Angst, nicht bereit für den Aufbruch zu sein, schwand, als die Häuser fremder wurden, und wann immer sie ihn wieder einzuholen drohte, erinnerte er sich daran, wie befreiend es sich angefühlt hatte, die verlogene Fußmatte in den Mülleimer zu werfen. Dort, wo er jetzt war, und wirklich nur dort, fühlte er sich tatsächlich willkommen. Irgendwo im Nirgendwo und immer in Bewegung. Lang genug hatte er gerastet, jeder Schritt war nötig, um an den rostigen Ketten zu rütteln.
Eddie notierte, was ihn unterwegs bewegte, und freute sich, das einst dafür gekaufte Büchlein endlich füllen zu können. Oh, er hatte allen Grund zum Schreiben. Die inneren Monologe zogen sich über etliche Seiten, hielten fest, wie aus Freude Kampf wurde und daraus wiederum Stolz. Das durchnässte Papier erinnerte aufgedunsen daran, dass nicht auf jeden Regen eine Traufe folgte.
Er ließ Weiden und Berge hinter sich, erreichte die Küste und verewigte seine Spuren im Sand. Für den Moment, der kostbarer war als die Lüge der Ewigkeit. Die Möwen lachten ihn nicht aus, sondern mit ihm, und doch betrübte ihn ihr Anblick. Was war ihre Freiheit schon wert, wenn sie nichts damit anzufangen wussten. Aneinander gebunden, die Schar niemals verlassend und auf den kollektiven Hunger wartend. Die eigenen Triebe waren leichter zu befriedigen, wenn einem nicht jene der anderen in die Quere kamen. Eddie wollte den Möwen zurufen, dass sie sich nicht auf den nächstbesten Futterplatz stürzen, sondern Ausschau halten sollten nach dieser einen Stelle, an der etwas viel Süßeres auf sie wartete. Vielleicht würden auch sie herausfinden, dass es der Weg selbst war, der am meisten bereithielt für Triebgesteuerte und Getriebene wie sie und ihn.
Lachend schmeckte er das Salz auf seinem bisherigen Höhepunkt, der Mitte des Klippenpfades, und steckte sich einen Grashalm in den Mund. Hinter ihm die Schafherde, die seine Ankunft in Bewegung versetzt hatte, und vor ihm das peitschende Meer.
Der Pfad stieg an, um anschließend wieder zu fallen, und die Sicht auf die Strandabschnitte am Fuße der Klippe wurde durch das krausgewachsene Efeu erschwert, das an den Felswänden wucherte. Eddie musste sich weit nach vorne beugen, um zu erkennen, was da unten unbeholfen in Richtung Schatten robbte. Das Seehundjunge quiekte herzzerreißend, während es auf und ab wippte. Eddie wollte auf die Mutter des Kleinen warten, freute sich, als dann die Kegelrobbe an Land gespült wurde, und schrie kurz darauf entsetzt, was diese aber nicht daran hinderte, das Junge zu fressen.
Hier konnte er nicht bleiben, er musste weiterziehen und wusste, wo es hingehen sollte. Auf einer Scholle oder abgelaufenen Sohlen gen Norden.
Der Ruf Alaskas hatte sich zu gedulden, vorerst zog es Eddie nach Skandinavien. Dänemark ließ er bewusst aus, schließlich galt seine Sehnsucht der Einsamkeit, der stillen Natur, die er sich allerdings unberührter erhofft hatte. Es widerte ihn an, in den abgelegensten Gebieten gerodete Wälder vorzufinden und über tote Füchse zu stolpern. Wie konnte sich der schwedische König bloß dafür feiern lassen, von einem Hochsitz aus auf Elche zu schießen? In Hunneberg. Was Attila wohl dazu gesagt hätte ... Warum ließen es die Tierschutzorganisationen zu, dass der Wolf in Norwegen nahezu vollständig ausgerottet wurde?
Wahrscheinlich war es sein Trotz, der ihn zur Huskyfarm führte. Er wollte zumindest dem nächsten Verwandten des Wolfs nahe sein. Auf dass wir uns unseren Wurzeln nähern, notierte Eddie versöhnlicher Dinge nach seiner Ankunft.
Die Arbeit, die er auf der Huskyfarm verrichtete, ließ keinen Platz für zermürbende Gedankengänge, weil sie ihn von früh bis spät forderte. Nach der morgendlichen Fütterung der Hunde genoss er die einzigen Minuten des Tages, die ihm gehörten. An Seiten von Che, seinem Lieblingshund, der ausgeführt werden musste, weil er ob seiner Unverträglichkeit mit den anderen Hunden nicht in den Zwingern gehalten werden konnte.
Kaum erreichten sie den zugefrorenen Acker, löste Eddie die Leine vom Halsband und nickte Che einverstanden zu. Fünfundvierzig Kilogramm pures Leben schnellten zum Ufer des Fjordes - wie ein Blitz, beinahe graziös. Eddie folgte ihm gemächlich und verschwendete dabei mehrere Streichhölzer, bis es ihm gelang, die Zigarette zu entzünden. Zu feucht die Luft, zu stark der Wind. Anschließend rotzte er den Klumpen Snus in den Schnee, rauchte auf und pfiff nach Che, der sofort herbeieilte. Eddie blickte ihm tief in die Augen und erkannte alles, was Menschen an Hunden so schätzten, einem Wolf jedoch nie in den Sinn käme. Er hatte ihn trotzdem gerne, seinen Che, und gönnte ihm noch einige Minuten Herumtollen in Habtachtstellung.
Die beiden näherten sich der Huskyfarm, und Che begann zu bellen wie ein Schäferhund, zog unermüdlich an der Leine und guckte sein Herrchen in spe mit braunen Knöpfen an, die fragten, ob er losschießen dürfe, um die Eindringlinge zu stellen. Für Eddie war dieser Blick nichts Neues, er kannte diesen Gehorsam, war sich aber nicht sicher, wie er dazu stand. Einerseits genoss er es, dass man ihn für wichtig hielt, andererseits verabscheute er die Unselbstständigkeit seiner Weggefährten. Er beugte sich zu Che, beklopfte seine Flanke, flüsterte, dass alles gut sei, und dachte dabei an Lisa, die jetzt eigenhändig die Glühbirnen auswechseln musste. Sie würde sich wohl eine Leiter kaufen müssen, um an die Bücher in den oberen Regalen zu kommen. An seine Bücher.
Die Eindringlinge holten Taschen aus einem schwarzen Van, entpuppten sich aber schnell als Gäste der Huskyfarm. Solche, für die Arvid, Eddies Chef, gerne einen gehäuteten Elchkopf an das Ufer legte, um Adler anzulocken. Statt eben jene, die Schlittenhunde, Elche und Wale wirklich zu erleben, kamen die Touristen in erster Linie, um die Erlebnisse fotografisch festzuhalten. Diese Armleuchter wussten doch gar nicht, was es hieß, ein Tier zu schlachten, um andere Lebewesen ökologisch sinnvoll zu ernähren, obwohl man selbst auf Fleisch verzichtete. Auch Eddie fiel es schwer, eine erschossene, eine erlöste Sau von dem nächstgelegenen Bauernhof abzuholen, weil diese von den anderen Schweinen nicht akzeptiert worden war. Doch was sollte er tun, dachte er sich, als er den Elchkopf auf den von den Wellen genässten Steinen positionierte.
Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn beinahe die Portion Snus verschlucken, die er sich gerade von der hinteren Oberlippe geleckt hatte. Er spuckte hastig aus, drehte sich um und blickte in ein fremdes Gesicht.
„Hi, ich bin Hedda, du hast mir vorhin die Tasche abgenommen.“
Eddie nickte und zog den Drehtabak aus seiner Innentasche.
„Danke nochmal für die Spikes, sonst wäre ich bestimmt ausgerutscht ... Ich wollte nur kurz sehen, ob mir ein gutes Foto von den Polarlichtern gelingt, habe aber leider ...“
„Dein Stativ vergessen? Dann brauchst du das gar nicht versuchen. Ich bin übrigens Eddie.“
Zum Abendessen, das Besitzer, Angestellte und Gäste gemeinsam einnahmen, wurde neben dem Elch- auch Lammfleisch serviert; Eddie begnügte sich mit Kartoffeln und Kohl. Von dem Nachtisch, zuckersüßem Rømmegrøt, sah er ebenfalls ab. Alle redeten wild durcheinander, freuten sich, beieinander zu sein, gaben die raue Natur, die Idylle der Einsamkeit, für die sie angeblich hergekommen waren, bereits nach wenigen Stunden wieder auf. Eddies Blick schwankte zwischen Hedda und dem Bierglas, das er sich anzuheben ärgerte, weil dann der Untersetzer zum Vorschein kam, der an die Fußmatte erinnerte. Ihn konnten der darauf abgebildete Kamin und die kuscheligen Socken nicht trügen. Wie es Lisa wohl gerade ging?
Eddie wollte sich Che schnappen und gehen. Davonwandern. Jenen, von Dante beschriebenen Himmel aufsuchen, den er hier zu finden gehofft hatte. Zwischen den Wolken hatte es während seiner Anwesenheit ständig gebrannt, drum schien er nicht zu den Seligen zu gehören, doch fühlte er sich verpflichtet, weiterhin Ausschau zu halten - nach seinem Feuerhimmel, an den per se keine Erwartungen geknüpft werden konnten.
Zum ersten Mal seit Monaten hörte Eddie eine Stimme aus der Heimat. Er erzählte seinem Bekannten von Hedda, dieser fragte, wo sie zueinander gefunden hatten. In dem Lávvu der Huskyfarm, aus Rentierhaut, von Eddie gebaut. Der Mann am anderen Ende der Leitung glaubte, sich verhört zu haben, meinte, die Rede musste von Tinder sein, weil Lovoo längst aus der Mode war. Eddie hatte keine Ahnung, wovon sein Bekannter sprach, und war froh, in Nordnorwegen zu sein.
„Schatz, du musst aufstehen. Unsere Schicht beginnt in zwanzig Minuten.“
Er vergrub seinen Kopf in dem Kissen, roch den Fisch, der sich auch nach mehreren Duschen nicht abwaschen ließ, und schimpfte ein verschlafenes „gleich“ hervor.
„Ich gehe schon runter zum Markt, denkst du bitte daran, den Stecker der Kaffeemaschine zu ziehen?“