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Wofür sonst
Fred sammelte verbotene Messer und dachte zu oft über Selbstmord nach. Er schrieb alles auf, eben auch in diesen Briefen an mich, weil er dachte, es würde ihm helfen, aber eigentlich machte es ihn nur noch kaputter.
Einmal im Monat erhielt ich einen, den letzten während eines Junis mit vielen Gewittern. Ich saß hinter meiner Jalousie, schaute einen Film und achtete auf Kleinigkeiten. Das war meine zweitliebste Beschäftigung. Ich dachte Stunden über ein paar Dialogzeilen nach, deren Grausamkeit mich beeindrucke, oder über einen Witz, der sich bloß um sich selbst drehte. Ich war eine Eremitin meiner zwanzig Quadratmeter und studierte das Leben von innen. Am liebsten jedoch lag ich auf dem splittrigen Fußboden und starrte die Decke an. Ich stellte mir vor, auf diese Weise die Jahre zu überdauern. Eine dicke Staubschicht würde sich auf Augen, Nasenflügel und Mund legen, und wenn ich nicht weinte, könnte ich mir mein eigenes Pompeji erschaffen.
Einer Reihe von Jungs hatte ich das Herz aus dem Leib gerissen. Manchmal, wenn ich auf dem Boden lag, zählte ich ihre Namen. Ich bereute es nicht, hatte sie doch zumindest alle auch ein wenig geliebt. Meistens scheiterte es an Kleinigkeiten: Sie erzählten mir ihre Geheimnisse, trotzdem teilte ich mich ihnen nicht mit; sie legten sich zu mir ins Bett, doch störten sich nie an meiner Einsilbigkeit. Etwas reizte mich auch an ihnen, doch das hielt nie besonders lange.
Den meisten Leuten fühlte ich mich auf diese oder andere Weise fremd. Wie gerne hätte ich mich für den einen oder anderen begeistern können. Ein Mal lernte ich einen beim Uni-Badminton kennen, er spielte Magic-Karten, lachte manchmal und trug seine krausen Locken zum Zopf. Wir tranken Bier aus Dosen, hörten Musik und hatten eine gute Zeit miteinander, bis er entschied, nach Island zu gehen und sich andere Freunde zu suchen. Auf Parties unterhielt ich mich meistens mit Georg, Tanja, Otto, Marvin oder Svenja, doch etwas Erstaunliches kam dabei selten heraus. Ich hörte ihnen lange zu, doch es bewegte kaum etwas in mir. Das Ganze erschien mir wie eine seltsame Geschichte, in der ich eigentlich keine Rolle spielte. Da wollte ich lieber allein sein, die feuchten Blitze, ihr Flackern hinter meiner Jalousie beobachten. Ich schaute den Film mit der Taucherglocke und verliebte mich in den querschnittsgelähmten Jean-Dominique Bauby, obwohl er sabberte, weil er mich gelegentlich zum Lachen und Weinen brachte. Es kam mir vor, als wäre mein Leben ein Sommer mit Gewittern gewesen. Ich bezichtigte mich psychischer Krankheiten, schrieb einen Kinderbrief an meine Tante und legte mich auf den Fußboden, um die Augen zu verschließen und das Hier zu vergessen. Ich vergeudete Stunde um Stunde um Stunde, um traurig zu sein, weil ich es wollte. Einmal kam Mathilde ins Zimmer — das war meine Mitbewohnerin. Sie brachte mir Pizza auf einem Porzellanteller und ihre wulstigen Hände zitterten. Dann stellte sie ihn neben meinen Kopf auf den Boden und sagte: „Ich liebe dich, Juli.“
»Wie bitte?«
»Ich mag die Art, wie du stehen bleibst. Also, dass du nicht immer mitschwimmst bei allem, weißt du?«, Mathilde hielt sich die Hände vors Gesicht, als versteckte sie etwas. Wie eine Blumenvase sah sie mit ihren blonden Ginsterhaaren aus.
»… alle spüren, wer sie sind, wenn sie mit dir sind … Ameisen-Menschen, die nicht glauben, dass es etwas gibt, was sie nicht kennen und wenn sie reisen, nichts finden, was sie nicht glauben.«
Sie sprach wie in Trance.
»Man müsste meinen, sie würden bleiben, doch früher oder später gehen sie wieder, vergessen dich und folgen am Ende doch nur ihren eigenen Regeln.«
»Ich glaube, du verwechselst mich«, sagte ich, »geh jetzt bitte raus!«
Mathilde lugte zwischen ihren Fingern hervor.
„Raus!“, brüllte ich. Endlich verstand sie es. Ich schloss die Augen und hörte, wie sich das Geräusch ihrer Schritte entfernte.
Hinter dem Rot meiner Augenlider sah ich den Fußboden von einer feuchten Schicht Staub überdeckt. Kein einziges Wort bekam ich mehr über die Lippen wie ein Kind in den sprachlosen Jahren. Weiße unbeschriebene Blätter rauschten durch mein Zimmer an meinem Kopf vorbei.
Zur Mitte des Monats schrieb ich einen längeren Brief an Fred, indem ich ihm von den Gewittern berichtete und von der Möglichkeit der Selbstauflösung sprach. Ich erzählte, dass ich Mathilde geküsst hatte und ein Blitz eingeschlagen war. Dass ich einen Jörg getroffen hatte, der sich als Norman entpuppte. Dass ich Spaziergänge im Regen unternahm und in wen ich gerade verliebt war, einen Bauingenieur, Mitte fünfzig, mit Auto, Frau und einem Kind. Ich schrieb, dass ich meine Blockflöte wiedergefunden hatte und Hits aus den achtzigern nachspielte. Tag und Nacht! Dann wertete ich die Nachrichten aus: Diesmal schrieb ich von den Schildvulkanen. Nicht einmal der Kilauea war ausgebrochen, obwohl sie es fünf Tage lang in der Zeitung brachten. So etwas verstand ich nicht.
Ich befeuchtete den Umschlag mit meiner Spucke, zog mir einen Regenmantel über und brachte den Brief zum Briefkasten. Es donnerte und ich fing den prasselnden Regen mit meinem Mund und meinen Händen auf.
Als ich rein kam und den tropfnassen Mantel zufrieden an die Garderobe hing, hörte ich im Nebenzimmer jemanden schluchzen. Ich trat ein und auf ihrem Bett saß Mathilde und wieder hielt sie sich die Hände vors Gesicht. Ich setzte mich dazu und legte meinen Arm um sie.
Am nächsten Tag kam der Postbote mit triefender Postmännermütze und überreichte mir einen Brief von Fred. Mathilde war früh morgens zu ihren Eltern gefahren.
Ich öffnete den Brief mit einem Messer. Die ersten zwei Wörter waren »Liebe Juli«. Das Schriftbild zeigte Wasserflecken von der Größe zerplatzter Tränen, unter denen sich die Buchstaben zu tausenden, kleinen Fäden auflösten. Ich goss mir eine Cola ein und setzte mich auf mein Bett. Dann las ich. Fred schrieb, es wäre sein letzter Brief. Noch einmal wäre alles geschehen (nur in seinem Kopf natürlich). Mit seinen Freunden wäre er johlend durch die Viertel gezogen, alles hätten sie demoliert, Fensterscheiben und Autospiegel. Früher schwärmte er mir oft vor, wie sie marodieren gingen. Es war ja nur Material, an dessen Zersplitterung sie sich beseelten. Nun wären die Dinge alle halb zerstört, aber der Schmerz nicht auf der Strecke geblieben. Und das sei schlecht, denn erst im Auseinanderbersten könne alles geheilt werden. Wie das Feuer die Hitze frei ließe, werde das vergeudete Leben nur in der Zerstörung noch einmal wertvoll. Die meisten ignorierten das und machten weiter ohne Rücksicht auf die Wahrheit, die langsam in ihren Herzen verrottete. Ein Tropfen hatte das Wort »Herzen« auseinander gewirbelt und ich dichtete es einfach dazu. Ebendiese Leute wendeten sich nun von ihm ab, in Sorge um sein Wohlsein, denn er beschwere sich zu viel, nehme die Dinge zu ernst und denke über alles viel zu viel nach, er müsse sich endlich selbst helfen, das gehe nicht gut auf Dauer. In Wirklichkeit waren seine Ratgeber bloß selbst zu feige, sich seine Ideen vorzustellen, denn Fred hatte sich bereits geholfen, nur dass es ihm eben nicht gut tat.
Seine Eltern sagten zu alledem nichts, ignorierten seine Wutausbrüche weitestgehend, boten Hilfe an, wenn er es wünschte, und wenn nicht, hörte Fred auf zu existieren und ein Unsichtbarer nahm sich Brot und Milch aus dem Kühlschrank. Sie sagten, das sei eine Orientierungsphase.
Im Sushi-Restaurant war es einmal dazu gekommen, das Neonlicht ihn verstört hatte. Ein Sashimi zwischen Stäbchen fand mühsam seinen Weg zum Mund, fünf Maki lagen auf dem Teller. Mit Gurke. Er schaute zu den Neonröhren hin, zum Vater, zum Bruder. Dann kreischte er innerlich auf, mit verschlossenem Mund, und es dauerte einige qualvolle Sekunden, bis er sich mitteilen konnte. Fünf Minuten später verließen sie das Restaurant, stiegen ins Auto und schwiegen die Heimfahrt lang. Nach diesem Zwischenfall sprach Fred mit seinem Vater, der ihm empfahl, mehr zu lächeln, das wäre in solchen Fällen ein gutes Rezept. Eine halbe Stunde am Tag stand Fred lächelnd vorm Badezimmerspiegel; ob es half, wusste er nicht, vermutete es aber. Doch weil sich trotz des Lächelns keine Besserung einstellte, ging Fred dann doch noch zu seinem Kinderarzt.
Als er ihm erklärte, dass er zu lächeln versuchte und dabei zu weinen begann, schrieb der Arzt ihm eine Überweisung an einen anderen Arzt. Fred fühlte sich erleichtert und suchte den Arzt auf, der eine Therapeutin war. Diese Therapeutin besaß einen Mops und lief auf selbstgefilzten Pantoffeln. Es zeigte sich, dass sie keine Antworten hatte, sondern nur Fragen, die Fred bereits kannte, und weil er sich diese ja schon zur Genüge selbst stellte, war das ihre letzte gemeinsame Sitzung. Seit diesem Erlebnis war die Überzeugung perfekt, dass niemand ihm helfen konnte.
Fred schrieb, er könne nicht aufhören zu hassen und niemandem zu verzeihen. Stundenlang saß er in seinem Zimmer und versuchte an etwas Schönes zu denken. Aber das ging nicht.
Die Tropfen über den Buchstaben verdichteten sich. Alles kam, wie es kommen musste: Fred nahm sein Lieblingsmesser, eines mit schwarz lackierter Klinge und der Aufschrift »Skill«. Er setzte es sich auf die Kuhle seiner Armbeuge, drückte fest und zog die Klinge – wobei er die Augen verschloss –, einmal quer durch die blauen Adern. Dann lag er da, sein Herz schlug hastig und alles zerfloss in den Farben seiner Kindheit: Die Einschulung, das erste Fahrradfahren, Spaziergänge mit seiner Vater, in weißem Nebel.
So käme das ... Er wog das Messer in der Hand, dann legte er es zurück zu den anderen. Er hatte eine Entscheidung getroffen und alles fühlte sich plötzlich leichter an. Das Leben war ein Spiel und er würde die Regeln lernen und einfach mitspielen und sehen, wohin ihn das führte.
Das Letzte, dass er mir schrieb, war eine Frage: Was hast du eigentlich vor?
Ich legte den Brief zur Seite. Alles Mögliche fiel mir ein, ich könnte mit dem Rauchen beginnen, die Zähne bräunten sich mir schon in der Vorstellung. Älter würde ich jedenfalls werden und hässlicher, dafür aber mit Absicht. Eine neue Haarfarbe: Gelb, Lila oder Schwarz. Eine neue Frisur. Mehr Rotwein würde ich trinken und so manches opfern, um meine Überzeugungen zu ändern und eine normale Person zu werden. Eine traurige und glückliche Person.
Ich schrieb Fred einen letzten Brief, in dem ich ihm von meinen Plänen erzählte, und dass ich ein Ticket nach Island gebucht hatte. Am Ende behielt ich den Brief doch für mich, für Jahre, und tat alles, wie darin beschrieben. Die Falten kamen und das verunglückte Lächeln und beides ist bis heute geblieben. Wenn ich mir Fotos von damals anschaue, denke ich, wie schön du damals gewesen bist? Warum hast du deine Zeit so vergeudet? Wozu das ganze Drama?