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Woanders (Gustaf I)
Jetzt stand Gustaf also auf dem Mollehügel und blickte ins Dorf hinab. Einmal werde ich hier König sein, dachte er da, nur zum Spaß.
Da krabbelte eine Stinkwanze vorbei: Grün auf grün, die Halme bogen sich und sprangen wieder hoch, und kurz überlegte Gustaf, ob die Wanze etwas sehen konnte oder ob sie blind da unten umherwanderte. Und ob sie sich dabei Fragen stellte, vielleicht: Na nu, was streift mich da (es waren die feinen Schirmchen der Pusteblume) oder: Wie ich wohl aussehen mag, was die anderen, blinden Wanzen wohl von mir halten?
Nein, vermutlich dachte sie gar nichts. Und vermutlich waren ihre Augen bloß zu klein, um sie von hier oben erkennen zu können. Vermutlich müsste man sich auf den Boden legen, um diese Augen zu sehen, aber wer wollte sich schon eine solche Mühe machen, lieber reimte man sich die Sache selbst zusammen, nahm seine eigenen Gedanken und schrieb sie dann dem anderen zu.
Und ein bisschen war das auch wie mit der Liebe. Ja, Gustaf hatte sich jetzt verliebt, das geschah ihm öfter, aber diesmal war es anders und diesmal war es die Agathe vom Schmied. Agathe war ja im Grunde er selbst, auch sie suchte nach etwas und wusste nicht genau, was dieses Etwas war, nur deshalb schweifte ja auch ihr Blick umher, wenn der Schmied mit ihr sprach: Geh rein und häng die Wäsche auf, knurrte der Alte ihr vielleicht zu, während Agathe gerade auf der Bank saß und in die Wolken starrte, und Agathe erhob sich auch, schlurfte los, aber wenn sie dann in der kleinen Hütte stand, in der sie zusammen mit ihrem Vater lebte, dann wusste sie nicht weiter, dann wuchs sie fest und blickte stumpf in die Ecke. Sie hatte ja nicht zugehört, sie hatte ja an andere Dinge gedacht, an die Wolken und daran, dass diese Wolken wohl schon die ganze Erde umrundet hatten, während sie hier im Dorf Wurzeln schlug wie ein Baum.
So jedenfalls stellte Gustaf sich die Sache vor, als sein Weg ihn vom Mollehügel hinab zu der Schmiedehütte führte, und schon deshalb liebte er sie. Aber Agathe war ja auch dumm, im Laden nannte man sie die Treppenagathe, weil ihre Mutter von der Treppe gestürzt und gestorben war, und die Agathe hatte dabei einen Schlag abgekriegt und war schon dumm auf die Welt gekommen. Und doch nannte er sie für sich die Wolkenagathe.
Da geschah es, dass der Schmied ihn entdeckte.
»Was lungerst du da rum«, wollte er wissen, und Gustaf wollte tausende Dinge antworten, aber raus brachte er bloß: »Ja«, und es klang wie ein Krächzen.
»Hm«, sagte der Schmied. Und: »Gib mir die Zange.«
Gustaf gab sie ihm, und im Gegenzug bekam er ein Bett in der Kammer.
Jetzt war das Leben ein neues. Jetzt wachte Gustaf beim ersten Hahnenschrei auf, man saß gemeinsam am Tisch und schaute sich gegenseitig beim Kauen zu, Gustaf hackte das Holz, um den Ofen anzuheizen, und beruhigte die Pferde, wenn der Schmied ihnen die Hufe anschlug, er holte das Wasser vom Brunnen und wann immer sich die Möglichkeit ergab, betrachtete er die Agathe, die Wolkenagathe. Mal nickte er ihr zu, mal nickte sie, mehr gab es nicht. Agathe war stumm und Gustaf war es auch.
Es dauerte nicht lange, da fragte Gustaf sich, warum man den Alten nicht den Treppenschmied nannte. Denn der redete ja fast nur dummes Zeug daher, lauwarme Grütze, er sagte zum Beispiel: Der Mensch stammt vom Baum ab, und er meinte es so. Ja, am Anfang waren wir noch Bäume, konnte er sagen, ohne das Gesicht zu verziehen, und dann wuchsen uns Hirne und Beine und dann waren wir Menschen. Und dann kaute er weiter auf seinem Brot, blickte Gustaf an und wartete auf sein Nicken.
Ein andermal wollte der Schmied wissen, wo Gustaf herkam. Da musste Gustaf überlegen. Genau konnte er es nicht sagen. Er wusste wohl noch, wo er aufgewachsen war, aber das hatte ja nicht viel zu heißen, deshalb war er ja jetzt auch hier und vorher schon an so vielen anderen Orten gewesen und deshalb antwortete er auch bloß: Von woanders. Und diesmal war Gustaf es, der dem Schmied in die Augen blickte und auf ein Nicken wartete.
So hätte es noch lange weitergehen können, doch da passierte es, dass Gustaf etwas Unbedachtes sagte.
Es war am Abend. Gustaf kam gerade von einem seiner Spaziergänge zurück, er war wieder auf dem Mollehügel gewesen, sein Kopf war frei, er wollte wieder König sein, und da sagte er, als er in die Hütte trat: Jetzt will ich warme Grütze haben. Das war etwas Neues. Warme Grütze gab es ja sonst nur zu Mittag, aber der Schmied, der in der dunklen Ecke saß, stimmte Gustaf zu: Ja, jetzt sollte es also warme Grütze geben, und er ließ es auch die Agathe draußen auf der Bank wissen, indem er nach ihr rief. Aber Agathe hörte nicht. Wieder rief der Schmied: Agathe. Los! Aber Agathe kam nicht. Da stand der Schmied auf. Löste sich aus seiner dunklen Ecke wie die Kröte aus dem Sumpf und da wusste Gustaf auch, wie die Sache jetzt stand.
Der Schmied ging hinaus, draußen zirpten die Grillen, irgendwo rief eine Krähe und im nächsten Moment stand der Alte wieder in der Tür, er zerrte die Agathe am Arm hinter sich her und warf sie in die Stube und fragte: Bist du taub? Warme Grütze! Und Agathe starrte durch den Vorhang ihrer Haare Gustaf an und Gustaf schaute weg.
Ja. Das hatte er jetzt also davon, von seinem Höhenritt, König hatte er sein wollen, dabei war er ja nichts als ein Lump, ein Bettler, jetzt lag er vollgefressen auf seiner Pritsche und konnte nicht schlafen, weil sein Bettlermagen daran nicht gewöhnt war und auch, weil seine Gedanken sich nicht beruhigen wollten, weil er das Bild der geschundenen Agathe vor Augen hatte. Jetzt konnte er sich erhängen und es würde keinen Unterschied machen, jetzt konnte er Fliegenpilze und Brennnesseln und Tollkirschen zerreiben und alles zusammen herunterschlucken und die Höllenbilder und die Schmerzen hätte er sich gut verdient.
So lag Gustaf wach und bemitleidete sich selbst, als er ein Jammern hörte. Es war das Jammern eines Tieres, das in einer Falle steckte, dachte er zuerst, aber da jammerte und litt jemand, wie nur ein Mensch es konnte, und es war die Agathe. Die Wolkenagathe, die nichts anderes kannte als ihre dunkle Hütte und den Blick in die Wolken und die Blicke der Leute im Laden, die Agathe, die so blass war, dass sich die blauen Adern wie Blitze unter ihrer Haut abzeichneten und die ihre Mutter nie kennengelernt hatte, die von jedem gemieden wurde und die mit einem Menschen zusammenlebte, der sie nicht verstand und auch sonst nicht viel und der zufällig ihr Vater war.
Und Gustaf ging leise die Treppe hinauf. Schlüpfte in ihr Bett und nahm sie in die Arme, nahm sie, wie sie war, und Agathe tat stumm ihren Mund auf, so weit, als wollte sie die Nacht und die Sterne hereinlassen. Und würde man Gustaf jetzt ein Messer in die Brust rammen, in diesem Augenblick, dann wäre er damit einverstanden, denn irgendwie musste man ja sterben und so war es gut.
Aber zuerst kam der Herbst. Braune Blätter fegten über den Mollehügel hinweg. Die letzten Blüten hingen schlaff an ihren Stängeln, die Insekten waren verschwunden, und wie die Landschaft sich veränderte, veränderte sich auch der Schmied. Jetzt konnte es vorkommen, dass er tagelang kein Wort sprach. Keine lauwarme Grütze und auch sonst nichts.
Schnell kam der Winter, aus den Schornsteinen drang dichter Qualm, draußen rauschten die Kinder mit ihren Schlitten den Mollehügel hinab und das Eis auf dem See war jetzt fest genug, um einen ausgewachsenen Ochsen zu tragen. Und eines Abends, in der warmen Stube, geschah es wieder, dass der Schmied sich erhob.
»Heb das Kleid«, sagte er bloß, aber Agathe hörte nicht. »Heb das Kleid«, sagte der Alte noch mal, und Agathe sah zu Gustaf hinüber, ihre Blicke kreuzten sich, und da wusste der Schmied Bescheid, da packte der Schmied die Treppenagathe wie früher schon am Arm und zerrte mit der anderen Hand an ihrem Kleid, dass es zerriss. Und im Schein der Flamme sah er ihren Bauch. Sah die blauen Adern unter der gespannten Haut und da liefen seine Augen über, sein Gesicht wurde zur Fratze, er ballte die Faust und hielt sie in die Luft, dass sie einen dunklen Schatten auf Agathe warf. Und Gustaf stand auf und in seiner Hand hielt er ein Messer.
Im Ofen knackte ein Stück Holz.
Die beiden Männer sahen sich an.
»Jetzt soll mal einer durch die Tür kommen«, sagte Agathe da in die Stille hinein. »Der eine schwingt die Faust und der da zückt sein Messer und mittendrin stehe ich mit meinem dicken Bauch.« Und sie sagte noch: »Muh!«
Agathe lachte jetzt, es war, als flüsterte ein Gespenst ihr lustige Geschichten ins Ohr, die keiner sonst hören konnte, der Schmied schüttelte den Kopf, Gustaf wurde das Messer in der Hand schwer, jetzt war die Sache ihm peinlich. Wusste der Teufel, was in Agathe vorging.
Als spät in der Nacht nur noch die Glut im Ofen glomm, als der Mond durch das Fenster schien und die Stube in kaltes Licht hüllte, schälte sich Gustaf aus seiner Decke. Er war ja die ganze Zeit schon wachgelegen, hatte noch immer die Kleider vom Tag an, er hatte dem Uhu vorm Fenster gelauscht, auf das Knarzen der Treppe gewartet, auf das Zeichen, dass der Schmied aus seinem Gedankensumpf aufgetaucht war, um ins Bett zu gehen.
Leise packte er jetzt seine Sachen: Eine Pfeife und etwas Tabak, ein paar Blätter und einen Stift, ein Messer, ein kleines bisschen Käse und Brot. Mehr besaß er nicht und mehr brauchte er auch nicht.
Jetzt musste er also weg. Hier hielt ihn nichts mehr.
Da hörte er ein Rascheln von der Treppe.
»Gehst du?«, kam es vom Absatz.
»Ja«, sagte Gustaf bloß.
»Ja. Das hab ich mir schon gedacht.«
Mehr nicht.
»Und das Kind?«, fragte Gustaf.
»Was soll damit sein? Es kommt auf die Welt und dann ist es da.«
Und er hätte gerne noch mehr gefragt. Tausende Dinge, die ihm auf der Seele brannten. Woran sie dachte, wenn sie nachts alleine in ihrem Zimmer lag. Was sie sah, wenn sie in die Wolken schaute. Wovon sie träumte. Aber stattdessen sagte er: »Muh.«
Und Agathe lächelte.
Da ging er. Ging langsam durch die Stube, mit der Treppe im Rücken, drückte leise die Tür auf und zog sie hinter sich zu. Er ging hinaus in den Winter und in die wolkenfreie, glasklare Nacht, und noch immer rief der Uhu, der irgendwo im Wald hinter dem Mollehügel saß. Und Gustafs Wurzeln hinterließen dunkle Spuren im Schnee.