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Wo Lippen schürzen, Zungen schlecken, Knochen brechen
Pestizid
1
Wäre Pablo zu diesem Zeitpunkt klar gewesen, dass er innerhalb der nächsten sechzehn Stunden einen Menschen aus dem dreizehnten Stockwerk werfen würde, hätte er vielleicht nicht so viel getrunken, am folgenden Tag keinen Kater bekommen und eine andere Entscheidung getroffen. Aber da er keine Ahnung hatte, bestellte er sich der gute Laune halber Wein und trank so viel, wie er an einem Abend trinken konnte.
Pablo trank an diesem 13.Juni 2014, weil „La Roja“, die Fußballnationalmannschaft Chiles, die australische Auswahl mit 3:1 bezwang. Der Wirt des Ladens gab eine Runde Pisco aus. „Viva Chile!“, sagte er und die Gäste antworteten: „Viva Chile mierda!“
Pablo genoss den Abend. Er lebte dreißig Jahre in Deutschland, fühlte sich in solchen Momenten seiner alten Heimat jedoch stets verbunden.
Mit seinen zwei Meter sieben war er nicht für südamerikanische, sondern auch für europäische Verhältnisse, außergewöhnlich groß. Die farbigen Tattoos auf seiner dunklen Haut waren unzählig. Einzeln betrachtet stellten sie lediglich Muster, Symbole und Linien dar, aber auf die Distanz, in Verbindung mit seinen Narben und hervortretenden Adern, verliehen sie ihm etwas Archaisches. Seine Großeltern mütterlicherseits, gebürtige Müller, lebten in einer Stadt nahe Köln. Seine Mutter wanderte aus, heiratete einen Chilenen und gebar Pablo. Dieser wuchs in Santiago auf und als eines Tages seine Eltern, im Anschluss an eine Demonstration gegen den damaligen Regierungschef starben, floh er nach Deutschland. Er beendete die Schule und zog nach Berlin, um eine Lehre als Mechatroniker zu beginnen. Dort begegnete er Lisa.
Ihre Eltern jagten ihn mit ausländerfeindlichen Parolen aus dem Haus. Ein dreckiger Muselmann, sollte nicht mit ihrer Tochter verkehren. Aus irgendeinem Grund hielten sie Pablo wohl für einen Araber, was er nie so ganz verstand. Nicht wenige seiner Freunde machten jenen Abend dafür verantwortlich, dass sich Pablo für die Bundeswehr verpflichtete, als Beweis für sein Deutschsein. Er würde das natürlich nie zugeben. Aber aus einem, zwei wurden letztlich zehn Jahre.
Was aber stimmte, war die Tatsache, dass Pablo Lisa nie vergaß und sie nach seiner Rückkehr aus Afghanistan aufsuchte. Zu seinem Pech hatte Lisa bereits zwei Mädchen, mittlerweile im Kindergartenalter, und war glücklich verheiratet.
An diesem Abend dachte er an sie. Die beiden waren Freunde geblieben und er fragte sich, was passiert wäre, wenn er damals um sie gekämpft hätte.
„Du hast für das Land gekämpft. Für unser Land“, sagte Markus, sein Kamerad aus diesen Zeiten. „Wir waren in Afghanistan, haben Freunde sterben sehen, Feinde überlebt. Wo waren diese ganzen Banker und Hippies? Ohne uns sage ich dir, da wäre die Kacke am Dampfen.“
„Markus, hijo de puta, was bringt uns das?“
„Nichts ist größer als die Liebe zum Land, Pablo. Nichts. Und nichts ist wichtiger.“
Eigentlich wollte sich Pablo nach dem Dienst am Vaterland eine eigene Werkstatt aufbauen, aber er merkte bald, dass im etwas fehlte. „Meine Eltern sagten, Pablo, beende deine Schule, suche dir ein Mädchen, gründe eine Familie und versorge deine Kinder.“
Manchmal wachte er schweißgebadet auf, mitten in der Nacht, zitternd beim Versuch, sich daran zu erinnern, was er träumte. Aber nachdem er sich den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, war die Erinnerung daran schon verflogen. Markus war aus anderem Holz geschnitzt. Er liebte es zu kämpfen, er sehnte es herbei, und danach wollte er trinken. Und wenn er trank, dann konnte er reden. Er war es, der Pablo überredete, der Spezialeinheit, dem SEK, beizutreten. Er hatte da Kontakte über das Militär. Seine Begründung war ganz einfach: Solange es böse Jungs gab, musste es gute Männer geben, die dagegen ankämpfen. Und wer die Fähigkeit dazu hat, der dürfe nicht aufhören, das wäre der Gesellschaft gegenüber nicht angemessen, sogar feige.
„Erinnerst du dich an Mark? Starb damals im Konvoi. Was ist mit seinen beiden Jungs? Lukas und Jonathan?“
„Mierda, wachsen beide ohne Vater auf.“
„Und Timo? Timo starb am selben Tag. Hatte eine Frau. Merkste was? Hättest du damals Lisa geschwängert, wären die Kinder vielleicht auch Waisen. Besser ist es so, glaub mir.“
Aus dem Gespräch entwickelte sich eine typische Kneipenunterhaltung, welche die beiden führten. Pablo und Markus. Kriegsheimkehrer, Brüder im Geiste. Mittlerweile arbeiteten sie beide für die Spezialeinheit, tranken und retteten die Welt, und das jeden Tag einmal, mindestens.
2
Am darauffolgenden Samstag, dem 14. Juni, saßen die Freunde im Einsatzwagen. Mit an Bord ein junger Bursche, zwanzig Jahre jünger als Pablo und Markus, er hörte auf den Namen Mike.
„Der kleine Mike wird entjungfert, was ein großer Tag.“ Markus lachte auf und klopfte ihm auf die Schulter. „Ist vermutlich nur ein Mann. Dem reißen wir den Arsch auf, da musste nichts befürchten. Das war in Afghanistan was anderes, nich´, Pablo?“
Pablo schüttelte den Kopf: „Scheiße Mann, ‘s ist immer was anderes, Markus. Immer.“
Aber ja, es war etwas anderes in Afghanistan. Damals war das Team mit zwei Transportern von Pol-e Khomri nach Kundus unterwegs. Keine große Sache: Vom Bundeswehrstützpunkt zur ISAF, um die Blauhelme bei der Überwachung der Fernstraßen zu unterstützen. Pablo, Frank und Timo waren schon einige Jahre im Nahen Osten, galten als ortskundig. Markus kam erst vor einem halben Jahr, war noch ein Frischling. Große Klappe, wartete auf seine Chance, sich endlich zu beweisen. Der Staub wirbelte durch die Luft und der Wagen überschlug sich, als die Mine explodierte. Frank und Timo erstickten vermutlich, bevor sie verbrannten. Genau konnte das nicht mehr geklärt werden, ihre Leichen wurden erst Tage später geborgen. Der Aufprall war hart, dass Auto vor ihnen hatte es erwischt, Pablo verlor einige Minuten die Besinnung. Nach dem Aufwachen vermischte sich in seinem Mund Qualm und Rauch mit dem Geschmack des eigenen Blutes. Er zerrte Markus aus dem Auto, versuchte die Kopfschmerzen zu ignorieren. Das Auto vor ihnen war ausgebrannt, niemand reagierte auf die Rufe, das Funkgerät - nicht einsatzfähig. Pablo kroch den Weg entlang mit Markus im Schlepptau. Irgendwie schafften sie den Rückweg zum ersten Kontrollpunkt. Die Taliban hatten sie nicht entdeckt, nicht gefunden, vielleicht auch gar nicht gesucht. Warum sie es geschafft hatten, das konnte niemand genau sagen.
Nach diesem Einsatz kehrte er nach Deutschland zurück, erholte sich und wollte mit dem ganzen Quatsch aufhören, bis er nach einigen Monaten Lisa und dann Markus traf. Der Grund, warum er nun im Einsatzwagen steckte.
3
Es war ein schwüler Samstag, die Sonne stand hoch und in den Hinterhöfen spielten Jungs aus der Grundschule mit zertretenen Coladosen Fußball. Die älteren waren im Freibad, im Einkaufszentrum oder im Park. Überall, wo sie hofften, einen verstohlen Blick unter die Sommerkleider der Damen erhaschen zu können. Viele der jüngeren Kinder waren auf den Spielplätzen der Parks und ein jedes war an diesem Tag barfüßig unterwegs.
Auf den Bänken der Spielplätze erzählten Mütter in knappen Kleidern und mit verspiegelten Sonnenbrillen von ihren Wochenendplänen und den kommenden Ausflügen. Sie plapperten vom letzten Homeshopping, dem nächsten Dinner und den besserwisserischen Erzieherinnen der städtischen Kindertageseinrichtungen. Einige der Mamis telefonierten, andere genossen Eis, die jüngeren schaukelten Kinderwagen zum Rhythmus der Wasserpumpe, welche die jauchzenden Kinder musikalisch begleitete.
Mia saß im Sandkasten, als ein Marienkäfer über ihre linke Hand krabbelte, seine Flügel ausbreitete und in die Lüfte schwebte. Dort verharrte er einen Moment, drehte seinen Kopf, lächelte und flog davon. Das kleine Mädchen mit den blonden Haaren erhob die Hand zum Abschied, der Käfer erwiderte den Gruß mit einem Augenzwinkern. Mia ließ Sand durch ihre Zehen rinnen. An diesem Morgen lackierte sie diese rosa, wie Mama es immer machte.
Ihre Hände brachen einen Ast in sechs gleichgroße Teile und steckten diese sorgfältig auf einen runden Kuchen. Im Sonnenschein glänzte Mias Antlitz golden, sie schloss ihre Augen,wünschte sich etwas und ließ einen warmen Luftzug über die Kerzen strömen. Ihr Blick glitt in die Ferne, verharrte bei den blühenden Stauden am Rande des Spielplatzes und erspähte ein galoppierendes Einhorn.
Mia sprang auf, begann zu rennen. Spitze Steine und sperrige Hackschnitzel ebneten ihren Weg. Der Marienkäfer flatterte neben ihrem Ohr, flüsterte ihr zu: „Komm schnell, komm schnell!“
Mias Finger schoben Büsche zur Seite, mit funkelnden Augen hüpfte sie über die Wurzeln der Bäume.
„Bleib stehen!" Sie japste, lachte: „Warte. Warte."
Ihre Füße schwebten über das Gras, das knöchellange, weiße Kleid flatterte im Wind. Sie rannte und rannte und rannte, bis sie schließlich fiel, geradewegs in ein Rosenbeet. Die Hände waren aufgeschürft, das Kleid dreckig. Kleine Löcher verliehen ihm ein neues Muster. Ihr linkes Schienbein blutete. Mit wässrigen Augen blickte sie sich um.
Der Spielplatz war verschwunden. Um das Rosenbeet herum grünte eine Wiese mit Stauden und Büschen. Die flachen Hügel am Horizont waren durch Mammutbäume bedeckt, die den Eingang eines Waldes kennzeichneten. Weißer Raucht stieg aus einem hölzernen Häuschen empor. Der kleine Marienkäfer landete auf der Nase des Mädchens. Es streckte seine Hand aus, versuchte, das Tier zu streicheln, es flog davon.
Mia sah einen Brunnen. Auf dem Rand saß ein seltsames Wesen. Es trug einen grünen Umhang, das Gesicht war verdeckt – eine lange, spitze Nase ragte unter der Mütze hervor. In seiner rechten Hand hielt es einen Stab, fuhr damit in die Luft. Dann drehte es den Kopf und schaute zu dem Rosenbeet, streckte eine Hand aus und deutete mit langen Fingernägeln auf Mia. Das Wesen sprang vom Brunnen, schlich mit gebeugtem Rücken zu dem Mädchen.
„Wer bist du?“, rief Mia.
Das Wesen kratzte sich an der Stirn, kam dabei immer näher und antwortete mit rauer Stimme: „He. Wer ich bin? Du willst wissen wer ich bin? Aber die Frage ist doch: Wer bist du? Und was machst du hier?“
Es blieb vor dem Rosenbeet stehen, fuchtelte mit dem Stab und deutet auf die Wiese. „Und schnell runter. Einfach über die Rosen laufen, was fällt dir ein?“
Mia stand auf, jetzt weinend, um sich auf das Gras zu begeben. „Ich bin gefallen, das war nicht mit Absicht.“
„Nicht mit Absicht! Das ich nicht lache!“
Ein Mann - ein attraktiver junger Mann - erschien und schimpfte mit dem Wesen, das plötzlich eine grüne Jacke trug und einen Besen in den Händen hielt.
„Sie sehen doch, dass das Mädchen gefallen ist. Also wirklich, ein bisschen Feinfühligkeit kann ich von einem Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes wohl erwarten, oder?“
„Ich arbeite täglich an diesen Blumen, und das Schild“, das Wesen, das sich in
einen dicken Mann verwandelte, zeigte auf ein metallenes Schild. „Das besagt ganz klar: Betreten Verboten. Also, nehmen Sie ihr Kind und passen das nächste mal besser auf!“ Mit diesen Worten stampfte der Mann fort.
„Wo ist denn deine Mama?“, fragte der Retter das Mädchen.
„Ich weiß nicht, sie war auf dem Spielplatz.“
„Und was machst du hier? Der Spielplatz ist am Osteingang.“ Der Mann grinste. „Du solltest nicht alleine so weit fortlaufen.“
„Ich weiß … ich habe dieses Einhorn gesehen … und dann bin ich hinterher.“
„Oh. Das Einhorn habe ich auch gesehen, aber es ist schon weiter gezogen. Wir sollten deine Mama suchen.“
Mia überlegte einen Moment und schaute ihr Kleid an. „Sie ist bestimmt wütend … das neue Kleid.“
Der Mann fuhr sich durch die Haare. „Ja. Da musst du durch. Wie heißt du denn?“ „Mia.“
„Ich bin Tobi. Tobi, der Ritter, so nennen sie mich.“
„Ein Ritter?“ Mia gluckste. „Du siehst nicht aus wie ein Ritter.“
„Na doch, der Ritter des Einhornes. Du siehst aus wie eine Prinzessin, zwar wie eine dreckige Prinzessin … aber eine Prinzessin. Wenn du willst, begleite ich dich zu deiner Mama.“
Mia nahm die Hand von Tobi, sie lächelte. Es war wirklich nett von ihm, dass er sie begleitete.
Der Park verwandelte sich in eine Wiese, Pferde grasten und in der Ferne erkannte Mia den kleinen Marienkäfer.
„Hier war doch irgendwo ein Brunnen“, flüsterte das Mädchen.
„Ein Brunnen?“
„Ja, wo ich mein Kleid waschen kann.“
Tobi lachte auf. „Ein Brunnen? Nein, bestimmt nicht. Aber wenn du willst, kannst du in meinen Ritterturm kommen, da waschen wir dein Kleid.“
Mia grübelte einen Moment. „Bist du wirklich ein Ritter?“
Der Mann verbeugte sich, legte eine Hand auf die Brust und schwor feierlich: „Ein wahrer Ritter, der die Prinzessin beschützt und ihr beim Kleiderwaschen hilft.“
Und so war es. Der Ritter wollte der Prinzessin beim Waschen der Kleider helfen, weit oben im dreizehnten Stockwerk des Turmes, der unritterlicher nicht hätte aussehen können. Mia erinnerte sich einen kurzen Moment an das Wesen mit der hohen Stirn, da durchfuhr sie ein Schrecken. Ihr Innerstes begann zu zittern, das Zwerchfell verkrampfte sich, das Herz trommelte gegen den Brustkorb. Die Beine wurden wacklig, die Finger zitterten, die blonden Härchen im Nacken sträubten sich. Sie wollte ihr Kleid nicht ausziehen, sie wollte es nicht mehr waschen, doch Tobias Lippen formten keine Frage, sie zischten. „Hoch den Rock.“
Eine kräftige Hand umklammerte ihren Mund, schnürte ihr die Luft ab. Obwohl sie mit ihrer ganzen Kraft strampelte, zu schreien versuchte, bahnte sich eine andere Hand zwischen ihren Schenkeln hinauf in ihre Körpermitte hinein. Nach einigen Minuten rann Blut aus ihrer Scheide und verband sich mit dem Blut des aufgeschürften Knies. Es bildete sich einen Fluss, der auf den Boden des Badezimmers tropfte. Wenige Minuten später bildeten die roten Flecken einen eigenen Weg. Dieser führte von den Fliesen des Bades hinüber zum Teppich des Wohnzimmers direkt in das Bett des Schlafzimmers.
4
Tobias hatte eine Dokumentation über Robbenbabies gesehen, als diesen Tieren bei vollem Bewusstsein das Fell abgezogen wurde. Ihre Schreie waren bis in die weit entferntesten Behausungen zu hören. Niemand der Angler war auf die Idee gekommen, den Robben etwas in den Mund zu stopfen. Tobias fühlte sich intelligent, geradezu clever, als er Mia eine seiner Socken in den Mund presste. Er war ein guter Beobachter, hatte das Mädchen im Park schon aus der Distanz gesehen, den richtigen Moment abgewartet. Und Vorbereitungen hatte er getroffen. Seine Wohnung mit Eierkartons ausstaffiert, welche die Lautstärke dämpften, die fest installierte Kamera direkt mit dem Smart TV verbunden, damit er sich selbst zuschauen konnte, in seinem Nachttisch befanden sich einige Spielzeuge. Sie würden dem Mädchen gefallen, da war er sich sicher. Schließlich ging sie freiwillig mit, trug ein Kleid und wusste, worauf sie sich einlassen würde.
An diesem Tag stellte Tobias fest, dass Kinderbeine sehr früh zu strampeln aufhören, Finger nur eine kurze Zeit kratzen, wenn die zugehörigen Gelenke an Bettpfosten gefesselt sind. Ihn wunderte nur die Ausdauer des Körpers. Dieser zappelte lange. Zappelte und das Mädchen wimmerte. Bis die Gegenwehr irgendwann aufhörte.
5
Hitze sammelte sich in Pablos Helm, die Luft war stickig. Der Wagen knatterte über die Straße, seine Augen starrten durch seine Brüder hindurch.
„Ein verfluchtes Kind“, lispelte Mike und zerrte seine Sturmhaube über das Kinn. Ja, ein verfluchtes Kind. Dabei bist du doch selbst noch eines, ging es Pablo durch den Kopf. „Hombre, ein scheiß Einstand, würde ich sagen.“
Vor einer halben Stunde dröhnte es in Pablos Kopf, lauter als sonst. Markus ging es ganz ähnlich. Es war der Alarm. Es folgte Routine, das Umziehen, das Einkleiden, die Lagebesprechung. Es wurden Bilder gezeigt, von einem Hochhaus, einem Grundriss, einem Mann und einem kleinen Mädchen mit blonden Haaren. Blonde Haare, wie Lisa sie hatte, es hätte ihr Kind sein können. Auf den umliegenden Dächern und in den Sträuchern der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich Verstärkung positioniert, überwacht wurde der Einsatz von einem Auto an der Ecke.
Pablo ging vorneweg, hinter ihm das Team. Sie schlichen die Häuserwände entlang, durch den Hof zum Hintereingang. Eine ältere Dame, die soeben ihren Müll entsorgte, staunte nicht schlecht, als sie die fünf schwerbewaffneten Männer erblickte. Pablo deutete zur Ruhe und kommandierte das Team durch die Tür, die Treppe hinauf und in den dreizehnten Stock. Der Vorteil an Hochhäusern mit Hausmeisterservice war folgender: Generalschlüssel waren schnell besorgt. Pablos Hand formte eine Faust, zeigte zur Türe.
Der Schlüssel passte, das Schloss schnellte leise auf. Ein tiefes Stöhnen alarmierte die Männer, ließ sie zum Zimmer am Ende des Flures rennen, die Steyr fest in ihren
Händen. Pablo trat die Tür ein und auf, sah kurz darauf Mia. Nackt, an das Bett gefesselt. Tobias, ebenfalls entkleidet und höchst erregt, drehte sich überrascht den Besuchern zu. Er stand mitten im Raum und wollte etwas aus seinem Nachttisch holen. Pablo schlug ihn mit dem falschen Ende seiner Waffe gegen die Stirn, ließ einen Aufwärtshaken und einen Schwinger folgen. Tobias ging lautlos zu Boden.
6
Es war Markus, der Mia als erster erreichte, sie entfesselte und gleichzeitig einen Rettungswagen über Funk anforderte. Er funktionierte. Er konnte ihren flachen Atem hören, drehte sie in die stabile Seitenlage und wickelte sie in seine Jacke ein. Er verdeckte die roten Flecken, und so gut er es beurteilen konnte, musste Mia zu bluten aufgehört haben.
Der Rest des Teams ging aus dem Zimmer, sicherte die Wohnung. Pablo war stumm, ignorierte die Stimmen in seinem Ohr. „Badezimmer sicher“, „Küche sicher“, „Krankenwagen in drei Minuten unten, bringt das Mädchen runter.“
Er schaute lediglich Tobias an, der reglos und entblößt auf dem Zimmerboden lag.
„Ein kleines Mädchen!“, rief Mike in das Zimmer hinein. Dann lispelte er. „Ein verfluchtes Kind.“
Markus trug Mia wie ein Paket hinab. Begleitet wurde er von vier Männern.
„Wann nimmst du ihn fest?“, fragte Mike, als Pablo seinen Helm abnahm.
Pablo schaute ihn nicht an. „Wusstest du, dass nur jeder fünfzehnte bis zwanzigste Kindesmissbrauch überhaupt zur Anklage kommt?“
Mike schüttelt den Kopf.
„Und nach maximal 15 Jahren sind die Leute wieder frei“, fuhr Pablo fort, während er das Fenster öffnete. „Das nächste mal sind es vielleicht deine Kinder, die von Frank, Timo ...“ Pablo nahm Tobias über die Schulter und warf ihn aus dem Fenster. „ … oder die von Lisa.“
7
Dem abschließenden Polizeibericht konnte ein jeder entnehmen, dass Tobias Reichenwirt, am 14. Juni des Jahres 2014, aus einem geöffneten Fenster des dreizehnten Stockwerks des Hochhauses Nummer 17 der Kronauer Allee, stürzte, nachdem er sich bei der versuchten Festnahme durch Männer des SEK zur Wehr setzte. Am 23. Juni 2014 wurde Mia im alter von fünf Jahren beigesetzt. Sie erlag in der Woche zuvor ihren inneren Verletzungen.
Am selben Abend gewann die chilenische Nationalmannschaft gegen die spanische Auswahl mit zwei zu null und zog in das WM-Achtelfinale ein. Ein historischer Triumph. Irgendwann, nach einigen Piscos schlug Markus seinem Freund vor, den Dienst zu quittieren und in den Urlaub zufahren. Er wolle Chile kennen lernen.