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Wo die Schmetterlinge tanzen
[SUB]
Ich binde meine Schuhe, die Knoten wollen nicht zugehen. Da lasse ich sie eben offen.
„Komm, wir fahren los. Denk an das Bild und den Vogel."
Meine Mama. Sie vergisst nichts. Mir wäre es erst im Auto eingefallen und wir hätten auf halbem Wege umdrehen müssen.
„Prinzessin Vergißmichnicht" nennt mich Papa deshalb manchmal.
Ich laufe in das Wohnzimmer und lege das große Blatt in meine Künstlermappe. Auf die Vorderseite habe ich ein Foto von meinem kleinen Bruder und mir geklebt. Es ist zerknittert, erinnert mich aber an einen schönen Tag.
Wir saßen damals im Freibad und schleckten Eis. Justus sieht richtig niedlich aus, mit seinen blonden Haaren und den winzigen Sommersprossen auf der Nase. Auf dem Foto trägt er einen Schokoladenbart. Nachdem Papa das Bild geschossen hatte, feixte er: „Wenn du dein Eis nur ins Gesicht schmierst, dann gib es lieber mir", und wollte ihm die Waffel klauen. Mein kleiner Bruder rannte weg, stolperte und fiel auf den Boden. Als er aufstand, da tropfte die Schokolade aus seinem Nabel über die Hose. Er begann zu weinen und Papa kaufte ihm ein neues Eis. Ich lachte, bis mein Bauch schmerzte und meine Kugel fast von der Waffel plumpste. Justus war damals drei und ich acht.
Ich lege die Mappe in eine Tasche und betrachte das Kuscheltier. Ich streiche ihm über den Kopf und schließe es in den Arm. Ein kleiner Vogel, sein Lieblingstier. Am Abend des Eisunfalles verlangte Justus, in meinem Bett zu schlafen, weil ich "ihn gelacht" habe. Er krabbelte unter meine Decke, kuschelte seinen Kopf auf meine Schulter und wollte „Peter und der Wolf“ hören. Seine Lieblingsgeschichte. Und ich erzählte sie: Ich erzählte von dem kleinen Jungen, der nicht auf den Großvater hörte und den Wolf besiegte. Von dem mutigen, kleinen Vogel, welcher um die Nase des Bösewichtes flog, sich aber nicht fangen ließ.
Am Ende flüsterte mein Bruder immer denselben Satz: „Ich bin der kleine Vogel und du Peter."
Ich kicherte und sagte: „Ich bin doch deine Schwester, und Peter ist ein Junge."
„Aber in einer Geschichte kannst du alles sein." Ein kleiner Knuff in seine Seite und dann löschte ich das Licht. Es dauerte lange, bis wir schliefen, denn er wollte soviel wissen: „Warum ist die Nacht schwarz?" „Woher kommen die Träume?" „Warum fliegt die Ente nicht weg?" Fragen über Fragen. Opa sagt immer: „Wer keine Fragen stellt, der findet keine Antworten."
Ich setze mich auf die Rückbank und schnalle mich an. Mein Papa schaut zurück und lächelt: „Hast du deine Geschenke?"
„Ja. Und du?"
Er nickt. Ich betrachte mich im Autospiegel und zwirbele meine langen, braunen Haare.
„Ronja", nannte mich Justus manchmal, „Ronja Räuberdochder.“
Seine Stimme schlummert irgendwo zwischen meinem Bauch und meinem Herzen. Seine lustige Art zu reden. Drüffel, Dier, Diger ... ab und an fliegen seine Wörter in mein Ohr und flüstern mir zu. Dann schließe ich die Augen und lausche seiner Stimme. Ich atme tief ein und fühle sein Lachen. In mir beginnt es zu kribbeln. Ich denke an unsere gemeinsamen Samstage, die Fernsehabende. Wir aßen warmes Popcorn und kuschelten uns auf das viel zu enge, kleine rote Sofa.
Oft schauten wir Ronja. Bei der Szene mit den Rumpelwichten stoppte meine Mama den Film und kitzelte uns durch. Papa machte mit und sprach mit hoher Stimme: „Wiesu denn blus, wiesu tut sie su?!" und als die Graugnome kamen, riefen wir alle: „Schert euch doch zum Donnerdrummel!"
Eines Tages wollte Justus nicht in den Keller gehen. Er drückte meine Hand und sagte „Da unten sind die Wilddruden."
Ich ging mit ihm, auch wenn ich nicht wollte. „Die sind doch alle im Fernseher."
Dann lächelte er mich an und erschrak doch bei den ersten Geräuschen der Heizung oder des Trockners.
Das Auto fährt los und ich blicke aus dem Fenster. Wir kurven durch die Stadt, vorbei am Blumenladen und dem Friseur. Opa sagte immer: „Justus, du hast die Haare von deinem Papa und deine Schwester hat sie von ihrer Mama."
Nach der Therapie rasierte sich Großvater eine Glatze. „Jetzt hast du die Haare von mir", sagte er grinsend und zuckte mit den Schultern. Ich weiß nicht, warum, aber wir lachten. Und Mama und Papa lachten auch. Irgendwann lachten wir alle. Opa war immer da, für das Lachen und das Weinen. Als die Krankheit von Justus schlimmer wurde, übernachtete ich häufig bei ihm. Ich habe mit ihm gestritten, so heftig ich nur streiten konnte. Ich weiß nicht mehr, warum. Ich weiß nur: er stritt nicht mit. Irgendwann lag ich kraftlos in seinen Armen und seine Hand streichelte mein Haar. „Ich finde das alles ungerecht" , sagte ich eines Abends. „Es geht nur noch um Justus, nie um mich.“ Er streichelte weiter und sagte: „Stimmt, das ist ungerecht."
Wir fahren aus der Stadt hinaus, durch die Fichtenallee. Das Grün würde Justus gefallen, es war schließlich seine Lieblingsfarbe. Kurz bevor er in den Kindergarten kam, wollte er nur noch grünes Essen essen. Spinat, Gurken, Melonen und Salat. Ich warnte ihn: „Justus, irgendwann färben sich deine Haare oder dir wachsen Algen aus der Nase!“
Aber er sang nur „Grün, grün, grün sind alle meine Essen" und hüpfte durch die Wohnung wie ein Frosch. Einmal umhüllte meine Mutter eine Wurst mit Avocadocreme, sodass Justus sie aß. Von diesem Moment an war er geheilt und wollte nur noch Wurst essen. Ich drohte, ab nun nur mehr Pfannkuchen zu essen. Bekommen habe ich sie nicht. „Manchmal sind kleine Brüder verrückt", sagte mein Papa. „Das gehört dazu. Das musst du als große Schwester aushalten." Dann kniff er mich und lächelte schief. „Tz", sagte ich trotzig. Ich war eifersüchtig. Sehr oft.
Mein Blick springt von Fichte zu Fichte. Ich glaube, manches wird schöner, wenn ich mich daran erinnere. Grün ist die Farbe des Frühlings. Die Blumen blühen, die Raupen verwandeln sich. Wir waren oft am Bachlauf im Tale, saßen auf den Wiesen und wollten die bunten Schmetterlinge fangen. Barfuß auf den glitschigen Steinen, den Fliegerlingen hinterher, doch meistens rutschten wir aus und fielen in den Bach. Das Wasser war kalt, der Popo schmerzte, doch manchmal, wenn wir Glück hatten, kehrte ein Schmetterling um und setzen sich auf eine der ausgestreckten Hände. „Wenn ich groß bin, lerne ich das Fliegen, wie sie", flüsterte Justus einmal. „Schau nur, er mag mich", freute er sich und pustete das Tier an, sodass es wegflog. „Schmetterling, du kleines Ding, such dir eine Tänzerin", trällerte er und klatschte in die Hände. Ich vermisse ihn.
Es war regnerischer Tag im Herbst, als meine Eltern zu mir ins Zimmer kamen und sagten, mein Bruder sei krank. Ich war zehn und wollte nichts darüber hören. Zu oft war Justus vorher beim Arzt gewesen, im Krankenhaus. Ich habe etwas in ihren Augen gesehen, in ihren Stimmen gespürt. Es war keine Krankheit, gegen die Hustensaft hilft. Es war keine Krankheit, welche mit Salzstangen und Cola behandelt wird. Meine Eltern erklärten viel, was der Arzt gesagt habe, wieviel Zeit verbleibe, was Justus fehle, und ich stark sein müsse. Sie erklärten mir Dinge, welche ich nicht hören wollte. Ich hatte nur eine Frage: „Gibt es keine Medizin?"
Papa blickte zu Mama. Dann zu mir und erklärte: „Menschen sind keine Maschinen. Du kannst eine Lunge nicht einfach auswechseln." Ich schlug mit den Fäusten gegen sein Knie. Ich versuchte zu schreien, doch ich bekam keine Luft. Sie sagten nichts und wollten mich in ihre Arme schließen, ich drückte sie aus dem Zimmer. An diesem Abend lag ich nur auf meinem Bett hoffte, dass die Therapie vielleicht doch hilft. Sie hatten doch keine Ahnung.
Das Auto wird langsamer, wir halten auf einem Parkplatz. Dort wartet Großvater auf uns. Er trägt einen schwarzen Anzug und seine graue Mütze. Irgendwie hat er immer schon gleich ausgesehen. In seinen Händen hält er einen Blumenstrauß und ein grünes Geschenk. Die Erwachsenen begrüßen sich kurz und meine Eltern gehen vor. Opa hat beim ersten Mal erklärt, wir dürfen sie in solchen Momenten nicht stören. Das will ich auch gar nicht, denn ich möchte weder Mama noch Papa traurig sehen. Wir sprechen kaum ein Wort, setzen uns auf eine der vielen Bänke und lauschen dem Wind. Plötzlich rücken die Wolken zur Seite und Sonnenstrahlen wärmen meine Haut.
„Der Wettermann meinte, heute gibt es kein gutes Wetter. Aber, ha! Die Sonne scheint“, sagt mein Opa mit seiner ruhigen Stimme. Dann wird er ernster, kratzt sich mit seiner Hand am Bart, streckt seinen Zeigefinger aus und schimpft: „Die Sonne sollte sich von keinem Wettermann der Welt vorschreiben lassen, wann sie zu scheinen hat. Das darf die Sonne sehr wohl immer noch selbst entscheiden."
„Aber Opa, die Wetterstationen errechnen doch nur, was es für Wetter geben könnte. Das nennt man Prognose. Wir haben eine Wetterkarte in der Schule gezeichnet, manchmal haben sie recht, manchmal nicht."
Er schaut auf den Boden und murmelt: „Mh“, dann blickt er mich an und fragt: „Was hast du in deiner Tasche?"
„Einen Vogel und ein Bild." Ich hole den Vogel heraus und reiche ihn Opa. „Den habe ich selbst gekauft."
„Der gefällt ihm sicherlich. Vögel waren doch immer sein Liebstes. Vögel und Schmetterlinge, ich glaube, er wäre ein guter Forscher geworden. Kannst du dich an die Regenwürmer erinnern, die ihr bei mir im Garten ausgebuddelt habt?"
„Wir haben eine Regenwürmerstation gebaut und Justus hat sogar einen gegessen. Naja, nur halb, dann hat er ihn wieder ausgespuckt. Du hast uns mit dem Gartenschlauch abgespritzt, weil wir so dreckig waren. Aber sogar die Unterhosen waren braun. Mama war ganz schön sauer, als sie es am Abend gesehen hat."
Mein Opa lacht. „Mütter müssen sauer auf Opas sein. Das gehört dazu. Sollen wir deinem Bruder unsere Geschenke bringen?"
Ich nicke, warte jedoch, bis er aufsteht und meine Hand nimmt.
Still und langsam schleichen wir an den zahlreichen Steinen vorbei.
„Viele Menschen liegen hier."
„Viele Menschen, die alt wurden und lange leben durften."
Manche Gräber sind zerfallen. Ich glaube, niemand kümmert sich, denn auf ihnen blühen keine Blumen. Vielleicht sind Partner und Kinder schon gestorben. Wie lange die Toten wohl hier liegen? Werden Grabsteine irgendwann ausgehoben? Ich weiß es nicht, ich will es nicht wissen. Es ist auch nicht wichtig. Ich hoffe nur, so wird es nicht bei Justus oder mir. Wir kommen zu den bunten Gräbern, dort wo die Kinder liegen. „Hier sieht es aus wie auf einem Spielplatz", flüstere ich und drücke Opas Hand.
Die Zeit der Krankheit dauerte nicht lange, zwei Jahre. Bei ihm von fünf bis sieben, bei mir von zehn bis zwölf. Einmal, beim Mittagessen, fragte Mama: „Gleich fahren wir ins Krankenhaus, o.k.?“
Justus warf seinen Teller auf den Boden, schleuderte das Messer auf mich und die Gabel auf Mutter. „Ich gehe nicht mehr da hin. Ihr wollt ja nur, dass ich nicht hier bin. Damit ihr schöne Sachen machen könnt.“ Dann stand er auf, trat mit dem Fuß gegen die Tür und verschwand in seinem Zimmer. Er dachte, er sei schuld an der Krankheit. Weil er eines Tages Süßigkeiten geklaut oder nicht auf Mama gehört hatte, deshalb müsse er ins Krankenhaus. Er war wütend, konnte und wollte nicht verstehen. Ich weiß nicht warum, aber nach der Therapie, den Medikamenten und den Strahlen wurde es leichter. Vielleicht war es die Gewissheit, denn kein Jahr nach der Diagnose kam Justus in ein Kinderhospiz. Wir gingen täglich dorthin und besuchten ihn. Viele Menschen sind dort. Frauen und Männer, welche den Familien helfen und mit den Kindern spielen. Krankenschwestern, die Tag und Nacht Wache halten. Kinder, die durch die Flure springen, lachen und singen. Es gab sogar einen Clown, mit Gitarren und Luftballontieren.
Marianna, eine ältere Dame, besucht uns heute noch. Bei unserem ersten Treffen sagte sie zu mir: „Wir machen uns eine schöne Zeit, denn die vergeht und dann bleiben nur noch die Erinnerungen.“
Deshalb machten wir viele Ausflüge: auf Spielplätze, in ein Fußballstadion, in einen Vogelpark und einmal sogar an den Bachlauf im Tale. Mit dem Rollstuhl fuhr Justus an das Ufer. Er wollte hinein, auf den kleinen Steinen sitzen. Da trug ihn Papa auf den Schultern bis zu einem größeren Felsen und stöhnte bei jedem Schritt. Seine Schuhe wurden nass und schließlich war es Winter. Aber Justus und Papa saßen eine ganze Weile auf dem Stein und schauten dem Bach beim Fließen zu.
Nach einigen Monaten ging es Justus schlechter, er wurde schwächer. Die Ausflüge wurden weniger, seltener und kürzer. Die Haut meines Bruders wurde bleich und seine Augen weiß, er lächelte kaum mehr. Ich hatte Angst und wollte nicht mehr zu ihm. Ich hatte Angst, dass der nächste Besuch der letzte wäre.
Eines Abends legte ich mich zu ihm, so wie er es früher bei mir machte, und kuschelte mich an seine Seite. Doch in dieser Nacht gab es nur noch eine Frage, die er stellte.
„Wohin komme ich, wenn ich tot bin?"
„Ich weiß nicht. Wohin willst du?"
„Nicht dorthin, wo die Wilddruden singen."
„Sondern?"
„Dorthin, wo die Regenwürmer husten und die Schmetterlinge tanzen."
„Wo der Vogel den Wolf besiegt und die Rumpelwichte wohnen?"
„Ja", hauchte er. Dann begann er zu schluchzen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er weinte und ich wollte ihm helfen. Mein Opa sagte einmal, gegen die Trauer sind Tränen das Einzige, was hilft. Also half ich meinem Justus beim Weinen. Ich weiß nicht, wie lange wir uns in den Armen lagen und weinten, aber irgendwann, da gab es kein Wasser mehr. Da schliefen wir ein. Zu erst er, dann ich. Es war das letzte Mal, dass wir gemeinsam einschliefen. Ein Jahr und neun Monate ist es her.
Ich setze mich vor seinen Grabstein, eine Träne kullert über meine Wange. Ich lege den Vogel und das Bild vor mich. Es zeigt eine große "9" auf einer Blumenwiese. Mit Peter, dem Wolf, den Rumpelwichten und den tanzenden Schmetterlingen.
Mein Zeigefinger fährt über seinen Namen, über den rauen Stein und die Erinnerungen. Ich flüstere: