- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
... wo der Knüppel von Knecht Ruprecht hängt
Monika betrachtete interessiert die Auslagen des Standes. Es gab Räuchermännchen, geschnitzte Figuren und beleuchtete Holzkrippen. Entzückt lächelnd zeigte sie auf ein Diorama, in dem eine Weihnachtskrippe dargestellt war.
„Sieh mal, Bärchen. Wär das nicht was für deine Eltern?“
Jan nippte am Glühwein und bahnte sich gleichzeitig einen Weg durch die dicht gedrängten Menschenmassen zum Stand, ohne dabei den klebrigen und heißen Inhalt des Bechers über seine Jacke zu schütten. Während er die Holzkrippe musterte, sah er verstohlen auf das Preisschild.
„Ich glaube, die haben schon sowas in der Art.“ Er warf einen Blick auf sein Smartphone.
„Und das hier vielleicht?“ Moni deutete auf eine polierte Holzplatte, in die ein winterliches Dorf eingraviert war. Jan zuckte die Achseln.
„Sicher, wieso nicht. Hör mal, Süße, schau du dich doch noch ein bisschen weiter nach 'nem Geschenk um und ich hol mir solange ne Currywurst. Wir treffen uns gleich am Glühweinstand, okay?“ Bevor Monika etwas sagen konnte, gab er ihr einen Kuss und verschwand in der Menge.
Etwas verwirrt schaute sie ihm nach. Dann ging sie zum nächsten Stand, der Christbaumschmuck und Tischdecken mit Weihnachtsmotiven feilbot.
Jan grinste voller Vorfreude, als er die kleine Schmuckschatulle aus seiner Jackentasche zog. Dann schlich er sich von hinten an die rothaarige, schlanke Frau an, die bei einem Karussell stand und auf ihr Handy schaute. Er legte seine Arme um ihre Taille und drückte ihr gleichzeitig einen Kuss in den Nacken. Die Frau wirbelte lächelnd herum und gab Jan dann leidenschaftlich einen tiefen Zungenkuss. Sie achteten nicht auf die vorwurfsvollen Gesichter der Eltern, die mit ihren Kindern in einer Schlange vor dem Kassenhäuschen warteten.
Schließlich lösten sie sich wieder voneinander. Jan hielt der Frau die Schatulle hin.
„Frohe Weihnachten.“
Sie lächelte und öffnete das Kästchen. Auf dem Samtfutter lag ein goldenes Armband mit einem tropfenförmigen Anhänger.
„Du bist ja verrückt!“ Freudestrahlend nahm sie das Schmuckstück heraus und legte es sich um ihr Handgelenk.
„Da kannst du drauf wetten. Und zwar nach dir.“ Jan zog sie erneut an sich und gab ihr wieder einen langen Kuss. Er legte die Hand auf ihren Hintern und knetete ihn sanft.
„Entschuldigung, aber hier sind Kinder! Könnten Sie das bitte bei sich zuhause machen?“
Jan sah zu einer blonden Frau hinüber, die ein Kind an der Hand hielt und ihn erbost anfunkelte. Die umstehenden Leute murmelten zustimmend. Er wandte sich wieder der Rothaarigen zu.
„Ich habs eilig, aber es bleibt bei Mittwoch. Nach dem SRC-Meeting.“
Jan grinste in Richtung der erzürnten Eltern und grabschte der Rothaarigen dann ungeniert an den Busen.
„Und dann zeig ich dir, wo der Knüppel von Knecht Ruprecht hängt.“ Er drehte sich um und steuerte wieder die Mitte des Weihnachtsmarktes an.
Fasziniert ließ Monika ihren Blick über die Waren dieses einen Standes schweifen, der so gar nicht in das festliche Ambiente passen wollte. Silberne Anhänger von unbestimmter Form, mit fremdartigen Schriftzeichen bemalte Steine und Kiesel, bunte Federn und Tiegel, die merkwürdig riechende Salben und Pulver enthielten, bildeten einen krassen Kontrast zu gebrannten Mandeln und original Schwarzwälder Nussknackern aus Taiwan.
Die Verkäuferin saß in eine Decke eingemummt und hielt in ihren Händen ein Buch. Monika konnte ihr Alter nicht bestimmen. In einem Moment wirkte ihre Haut alt und faltig, im nächsten Moment sah sie jugendhaft und vital aus. Die Frau trug einen großen, schwarzen Hut und darunter ein Kopftuch. Jede andere hätte damit klischeehaft wie die Zigeunerhexe aus einem Märchenfilm ausgesehen. Diese Frau jedoch hatte etwas Intensives und Melancholisches an sich, das Monika ganz unbewusst sehr traurig werden ließ. Es war so, als würde die Verkäuferin in ihren Augen einen unsagbar alten, tiefsitzenden Schmerz wie einen Amboss aus massivem Blei mit sich herumtragen. Monika wollte ihr irgendwie helfen, und sei es auch nur dadurch, dass sie etwas kaufte. Sie tippte wahllos auf eine kleine Dose, die mit Steinen besetzt war.
„Ich nehme diese hier, bitte. Sie müssen sie nicht einpacken.“
Die Verkäuferin sah Monika einen Augenblick nachdenklich an. Dann lächelte sie leicht.
„Ich glaube, ich verkaufe dir lieber das hier.“ Sie holte ein kleines Fläschchen aus einer kunstvoll geschnitzten Holztruhe und reichte es zu Monika herüber. Neugierig betrachtete Monika die Ampulle.
„Was ist das? Duftöl?“
„Du bist ein guter Mensch. Warm und bunt. Du verdienst es nicht, dass man dir wehtut.“
„Was meinen Sie? Ich verstehe nicht, was …“
Die Verkäuferin hob ihre Hand und Monika verstummte.
„Wenn du irgendwann einmal auf jemanden sehr, sehr wütend bist, dann mach dieses Fläschchen auf und besprenkel ihn mit dem Inhalt, und er wird die schlimmste, größte Angst erleben, die er tief in seinem Innersten trägt. Das wird diesen Jemand lehren, dir nicht mehr wehzutun.“ Die Verkäuferin drückte Monika das Fläschchen in die Hand. „Das macht fünf Euro.“
Verwirrt holte Monika ihr Portemonnaie hervor und gab der Verkäuferin das Geld. Diese lächelte noch einmal kurz und schaute dann wieder in ihr Buch.
„Meine Güte, das war aber eine Riesen-Curry-Wurst, die du gegessen hast. Ich hab schon angefangen, mir Sorgen zu machen.“
„Tut mir leid, Süße. Du hast keine Vorstellung, was da hinten an der Grillbude los ist. Und dann war da vor mir ne Gruppe Touristen, die alle natürlich kein Wort Deutsch konnten. Na ja, jetzt bin ich ja wieder da.“ Jan gab Monika einen Kuss und nahm sie an die Hand.
Gemeinsam schlenderten sie weiter durch die überfüllten Wege und blieben vor einem Stand mit Wollmützen und Strickwaren stehen.
„Ich hab vorhin eine komische Sache erlebt, Bärchen. Da ist so ein komisches Büdchen, wo …“
„Zeigen Sie dieser Dame vielleicht auch, wo der Knüppel von Knecht Ruprecht hängt?“
Monika und Jan fuhren herum. Hinter ihnen stand die blonde Mutter. Sie war gerade dabei, ihrem Kind einen bunten Wollschal umzuwickeln.
„Wie bitte?“ Monika sah die Frau verdutzt an.
„Ich habe diesen widerlichen Kerl, der Ihre Hand hält, vorhin hinten am Kinderkarussell getroffen. Da war er ziemlich damit beschäftigt, einer rothaarigen jungen Dame seine Zunge in den Hals zu stecken und ihr an den Hintern zu fassen. Vielleicht interessiert Sie das ja.“
„Was zur Hölle labern Sie uns denn hier an? Komm, Süße, verschwinden wir.“ Hektisch zog Jan an Monikas Arm. Doch diese machte sich energisch los.
„Was haben Sie da gerade gesagt?“
„Der da hat vorhin mit einer rothaarigen Frau herumgeknutscht. Schlank, Brille, Nasenpiercing und so rosa Fellstiefel.“
Monika wirbelte zu Jan herum.
„Jessica Wagenhof? Du hast hier, mitten auf dem Weihnachtsmarkt, mit Jessica Wagenhof herumgemacht, während ich nach einem Geschenk für deine Eltern gesucht habe?!“
„Ich kenn die Tussi da überhaupt nicht, Moni. Keine Ahnung, was die geraucht hat. Die muss mich mit jemandem verwechseln.“ Jan griff nach Monikas Hand, doch sie zuckte zurück, als hätte sie ihre Hand an eine Wunderkerze gehalten.
„Und ich habs einfach nicht glauben wollen. Die ganzen weggedrückten Anrufe. Und die SMS und Whats-Apps, die ständig bei dir angekommen sind. Du … du mieser, beschissener Scheißkerl!“
„Süße, bitte! Lass uns erstmal nach Hause gehen. Wir …“
„Sie hats gewusst. Sie hat gewusst, dass das hier passieren wird.“ Mit wutverzerrtem Gesicht holte Monika die Ampulle aus ihrer Tasche und riss den Deckel ab. Bevor Jan reagieren konnte, schleuderte sie ihm den Inhalt auf die Jacke.
„Weihnachten kannst du dieses Jahr alleine feiern. Oder meinetwegen mit Jessica Wagenhof!“
„Warte mal. Monika, jetzt warte doch mal. Scheiße, ich …“
Monika drehte sich um und hastete durch die Menge davon. Jan lief ihr ein paar Schritte nach und blieb dann mit hängenden Schultern stehen.
Jan stand am Waschbecken und rasierte sich. Neben ihm auf dem Wäscheschrank lag sein Handy. Immer wieder starrte er auf das dunkle Display. Schon seit drei Tagen hatte er nichts mehr von Monika gehört. Dafür wiederum riss der Strom alberner Herzchen-Nachrichten von Jessica nicht ab. Er fragte sich, ob es das wert gewesen war.
Jan wischte sich die Reste des Rasierschaums aus dem Gesicht und ging ins Schlafzimmer. Er musste sich beeilen, damit er nicht zu spät zum Essen zu seinen Eltern kam. Im Geiste ging er bereits die verschiedensten Begründungen durch, warum er sich von Monika getrennt hatte.
Die Schlafzimmertür barst in einer Explosion aus Holzsplittern auseinander, als der Hai sie mit einem Stoß seines riesigen Kopfs aus den Angeln sprengte. Jan sprang schreiend zurück. Das Ungeheuer warf sich durch die Tür, doch seine riesige Schwanzflosse blieb im Türrahmen stecken. Mit wuchtigen Stößen wand er sich zappelnd hin und her. Der penetrante Gestank von Fisch, Salzwasser und fauligem Abfall aus dem Maul des Hais wehte durch den Raum.
Die seelenlosen, schwarzen Augen des Monsters ließen Jan keinen Moment aus den Augen. Als würde der Hai direkt in sein Herz blicken. Zentimeter für Zentimeter schob er sich durch die Tür. Jan stolperte über seine Hausschuhe. Hart schlug er auf den Teppichboden. Er spürte einen Luftzug und warf sich zur Seite. Der Kopf des Hais schlug neben ihm auf den Boden und seine dreieckigen Zähne zerfetzten den Teppich genau dort, wo Jan noch vor einer Sekunde gelegen hatte. Auf Händen und Knien kroch Jan panisch zur Wand und zog sich wieder auf die Füße. Das Monster war vielleicht noch einen Meter von ihm entfernt. Jans Gedanken überschlugen sich, als er hysterisch wimmernd nach einem Ausweg suchte.
Der Hai sprang auf ihn zu. Jan riss kreischend die Arme vor den Kopf.
Dr. Fechtenberg warf einen Blick auf das Medikamentenblatt und sah dann zu der Gruppe Studenten hinüber, die sich um das Sichtfenster des Behandlungszimmers scharten.
"Das hier ist einer unserer Langzeitpatienten. Er leidet unter einer wahnhaften Psychose, die sich in einem ständig wiederholenden Muster manifestiert. Das Interessante bei diesem Fall ist, dass der Patient den Inhalt seiner Halluzinationen sehr detailliert wahrnehmen kann. Sehen Sie selbst."
Der Arzt deutete zum Fenster. Auf der Mitte des Bettes kauerte ein magerer, ausgemergelter Mann. Er hatte die Knie fest an die Brust gezogen und umklammerte seine Beine mit den Armen. Unablässig sah er sich um und zuckte ständig von den Rändern seines Bettes zurück.
"Der Patient ist der unabänderlichen Überzeugung, sich in einem Ozean voller Haifische zu befinden. Er ist nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb sein Bett zu verlassen. Wenn er zur Bewegungstherapie gebracht wird, erleidet er regelmäßig schwere Nervenzusammenbrüche und Krampfanfälle." Dr. Fechtenberg schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, sein Zustand ist irreversibel. Egal, was wir probiert haben, weder spricht er auf Medikamente, noch auf Gesprächstherapie oder sonstige Behandlungsmethoden an."
Eine Studentin hob ihren Arm, während sie den zitternden und wirr vor sich hin brabbelnden Mann mitleidsvoll betrachtete.
"Wie lange ist er schon in diesem Zustand?"
Dr. Fechtenberg sah in seine Unterlagen.
"Er wurde vor vier Jahren und sieben Monaten bei uns eingliefert. Man fand ihn schreiend und nicht ansprechbar in seiner Wohnung. Tragischerweise auch noch genau an Heilig Abend. Er wollte offenbar gerade zu seinen Eltern fahren, als sein Zusammenbruch erfolgte. Ohne Zweifel, ein interessanter Fall. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich denke, Sie haben für heute genug Fälle aus unserer geschlossenen Abteilung gesehen."
Der Arzt drehte sich um und ging den Flur entlang. Die Studentin warf noch einen letzten Blick durch das Sichtfenster und folgte dann ihren Kommilitonen.