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Wo der Himmel anfängt
Er fingert die Tablette aus dem Holzkästchen, schluckt sie ohne Wasser, setzt die Schutzmaske vor das Gesicht und schiebt die Tür auf.
Es ist Freitag, der 11. März.
Die Luft auf seiner Stirn fühlt sich weder kalt noch warm an. Sie kommt nie als Windstoß, steht jeden Morgen als eine durchsichtige, unheilvolle Mauer vor seinem Haus. Die milchig graue Wolkenschicht weckt in ihm den Gedanken an Regen. Nicht, dass es in jüngerer Vergangenheit geregnet hätte, aber er vermisst es, unter einem Schirm den Tropfen zu lauschen, wenn sie auf den Stoff prasseln. Er sehnt sich nach dem anschließenden göttlichen Geruch von Erde, vermischt mit dem Öl der Pflanzen, das sich während der trockenen Phasen gesammelt hat und dann mit dem Regenwasser zu dieser einzigartigen Komposition wird. Er sehnt sich nach dem großen hellblauen Himmel, der an heißen Sommertagen glitzerte wie die Muscheln, die er auf dem Schulweg sammelte, wenn er einen Umweg am Strand entlang machte. Die schönsten schenkte er seiner Schwester.
„Die schimmern wie die Fingernägel von Engeln", sagte sie einmal, hielt sie mit ausgestrecktem Arm ins Sonnenlicht und kniff ein Auge dabei zu.
Vor dem abgeblätterten Zaun, den sein Vater zuletzt gestrichen hatte, begegnet ihm die Nachbarin mit ihrer Tochter. Das Kind trägt die Haare zu kurzen Zöpfen, die straff hinter den Ohren gebunden im Takt der Schritte wippen. Sie muss schnell laufen, um dem Tempo der Mutter zu folgen, die sie an der Hand hinter sich herzieht. Er könnte es nicht mit Gewissheit behaupten, doch es kommt ihm vor, als erwidere sie seinen Gruß nicht mehr, seit er alleine lebt. Vielleicht spricht er aber auch zu leise oder sie, und er hört ihre Worte nicht, wenn sie schnell an ihm vorbeihuscht.
Auf dem kurzen Fußweg, den er gemeinsam mit den anderen zur Anlegestelle zurücklegt, ist es ihm nicht möglich mit Sicherheit zu sagen, ob es sich jeden Morgen um dieselben Menschen handelt. Sie sind alle mit der Fähre zum Festland unterwegs. Die Kleidung der Bewohner ähnelt sich in ihrer Farblosigkeit und Form. Gesichter kann er aufgrund der Schutzmasken sowieso nicht erkennen. Auch die Haare der meisten sind dunkel wie seine eigenen. Man besucht sich längst nicht mehr gegenseitig. Er selbst kauft der Einfachheit halber zweimal im Jahr seine Kleidung in vierfacher Ausführung. Hemden, Pullover, Hosen, Sakkos. Zwei Mäntel, Schuhe. Das kann er direkt in dem Haus, in dem er auch arbeitet. Gleich unten im Eingangsbereich befinden sich Bekleidungsläden, Geschäfte für Nahrungsmittel und Elektronik.
Die Wege sind kurz gehalten. Man hat sich eingerichtet nach der verheerenden Flutkatastrophe und folgt den Regeln, die entstanden sind als Reaktion auf menschliches Versagen und als nichts mehr war wie vorher.
Es leben nicht mehr viele Bewohner auf der Insel und während der zwanzigminütigen Überfahrt sitzt jeder für sich. Kaum jemand spricht oder telefoniert, denn das hat sich mit den Masken als umständlich erwiesen. Sie blicken auf ihr Gegenüber oder auf das dunkelgraue Meer, das nur dann in Bewegung kommt, wenn die Fähre darauf unterwegs ist. Auf den Sitzen neben ihm unterhalten sich zwei Mädchen im Teenageralter. Die Gesichtsmasken sind mit glitzernden Steinen in rosa und silber verziert, die seitlich sitzenden Filter sind pink oder goldfarben. Eine von ihnen hat mit einem goldenen Stift einen Blitz unter das Auge auf den Kunststoff gezeichnet. Ihre Stimmen klingen gedämpft und unnatürlich, als würden sie in Blechdosen sprechen. Die wenig sichtbare Haut an den Händen und auf der Stirn ist bleich. Sie kichern und legen die Hände dabei in ihren Schoß zwischen die Beine, sind auf dem Weg zur Schule, denn sie reden vom Sport, den sie nicht vermissen, seit er nicht mehr an Schulen unterrichtet wird. Er erinnert sich, dass seine Klassenkameradinnen früher beim Lachen die Hände vor den Mund hielten und verschämt die Schultern zu den Ohren zogen. Bei dem Gedanken daran lächelt er hinter seiner Maske und denkt an das Mädchen aus der Parallelklasse, dem er jeden Tag eine Muschel schenkte, nur damit sie ihn anlächelte.
Er hört das Wasser, das während der Fahrt vom Bug verdrängt wird und an die Außenwand der Fähre spritzt. Keinen Wind und keine Vögel, keine Fahrgeräusche. Wenn er die Augen schließt, das verhaltene Plätschern hört, erinnert er sich an frühen Morgenstunden, in denen er mit seinem Vater im kleinen Holzboot zum Fischen auf's Meer hinausfuhr. Dann bildet er sich ein, Möwengeschrei und das Tuckern des Motors zu hören.
Ein kleines Mädchen sitzt ihm schräg gegenüber, als er die Augen öffnet. Er hat es erst in diesem Moment bemerkt. Sie trägt ein rotes Kleid und ihr langes Haar ist oberhalb der Ohren zu Zöpfen gebunden. Sie dreht den Kopf, wobei ihre Zöpfe langsam um die weiße Maske fliegen, wie schwarze Algen um einen Stein im flachen Wasser. Ihr Gesicht zeigt in seine Richtung und er wendet sich hastig ab. Kurz darauf wagt er es, sie wieder anzusehen. Sie trägt eine Tasche mit einem Gurt quer über der Brust und sieht auf den leeren Sitz gegenüber. Unvermittelt dreht sie den Kopf erneut in sein Blickfeld zurück und sie sehen sich für einen Moment an, bevor er die Hände auf seinen Beinen fest zu Fäusten ballt und sich in den Falten seiner Stirn Schweißperlen sammeln.
Das Mobiltelefon gibt ein Signal. Kommst du heute nach der Arbeit?
Er verrichtet seine Arbeit still und während der Mittagszeit sitzt er meist allein an einem Tisch. Das Essen bietet in seiner Einseitigkeit wenig Grund für eine Unterhaltung und die wenigsten erleben etwas Außergewöhnliches in ihrer freien Zeit, worüber es sich zu reden lohnte. Seine Freunde aus Jugendtagen flohen von der Insel in die Großstädte, sofern sie nicht während der Katastrophe oder in den ersten Jahren der Notunterkünfte ums Leben kamen.
Und so wird er nach Dienstschluss wie jeden Tag seit mehreren Monaten ins Städtische Hospital gehen und auch dort wird er wenig zu sagen haben. Er wird zuvor seiner Frau ein Getränk im Laden für Nahrungsmittel kaufen, das mit einer Meereskoralle aus Südkorea angereichert ist. Darauf möchte sie keinesfalls verzichten. Dann wird er die letzte Fähre zur Insel nach Hause nehmen.
Ich komme pünktlich und freue mich auf dich. K.
Als er vom Telefon aufschaut, legt die Fähre bereits an. Er wischt sich mit dem Taschentuch die Stirn trocken und steigt aus. Auf der Rollbahn, die die Fahrgäste vom Hafen in das Viertel mit den Hochhäusern bringt, steht etwas weiter vorne, mit dem Rücken zu ihm, die Kleine im roten Kleid. Erst jetzt fällt ihm auf, dass sie viel zu jung ist, um alleine unterwegs zu sein. Möglicherweise ist sie fünf Jahre alt. Nicht älter. Er steht aufrecht während der Fahrt, die Fäuste vor seinem Körper, und stellt sich vor, wie sie aussehen mag, wenn sie lacht. Ob sie Zahnlücken hat, weil die Milchzähne ausgefallen sind. Er sieht sie an einem kleinen Tisch sitzen, malend und dabei hat sie den Kopf schief gelegt, die Zunge auf der Oberlippe. Er sieht sie, wie sie sich im Kreis dreht und selbst am Strand trägt sie die Maske nicht. Sie weigert sich, als man sie ihr aufziehen will und läuft lachend davon, hebt eine schwarze Muschel auf und stürmt in die Arme eines Mannes, der sie auffängt und sie drehen sich gemeinsam rundherum um sich selbst.
Das Ende der Rollbahnstrecke führt auf einen Platz aus grauem Granit. Von dort verteilen sich die Menschen in verschiedene Richtungen auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz oder in die Schule. Ältere sind nicht auszumachen und als er die bunte Wandmalerei der hohen Mauer passiert, sieht er die Kleine davor stehen, den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Hände schwitzen und erst will er vorbeigehen, dann bleibt er, einem inneren Impuls folgend, stehen und geht neben ihr in die Hocke.
„Sag, was machst du denn hier so alleine? Wo ist deine Mutter? Hm?"
Seine Stimme klingt leise und verzerrt. Er spricht nicht gerne, wenn er die Maske aufgesetzt hat, überhaupt spricht er sehr wenig. Er hat sich an das Schweigen gewöhnt.
Das Mädchen reagiert nicht auf seine Ansprache, starrt weiter auf die Wand und er folgt ihrem Blick. Es ist ein überdimensionales Gemälde, das sich in seiner Größe anmaßt, den grauen Rest vergessen machen zu können. Es ist farbig, abstrakt und großflächig aufgetragen. Vereinzelt erkennt er Totenköpfe, Pflanzen, viele verschiedenartige Bäume, Blüten, auch Vögel. Derart phantasievoll, dass er sicher ist, nichts davon hat hier je existiert. Es gibt schon lange keine Pflanzen mehr in der Stadt. Die Straßen und Plätze sind von Kunstobjekten aus Metall oder Stein gesäumt und das Beton- und Glaseinerlei der aufragenden Gebäude vermischt sich mit dem Hellgrau des Himmels, so dass seine Augen keinen Unterschied erkennen können, wo die Häuser enden oder der Himmel anfängt.
Plötzlich nimmt die Kleine die Maske vom Gesicht ab. Erschrocken fällt er auf die Knie und stützt sich mit den Händen auf den Granitplatten ab.
"Was tust du denn? Um Himmelswillen, lass sie auf! Lass sie bloß auf!"
Und er versucht ungeschickt, sie daran zu hindern, will sie ihr wieder aufziehen.
Sie steht vollkommen ruhig vor ihm und wehrt ihn mit einer flüchtigen Handbewegung ab. Wie in Zeitlupe hebt sie den Arm und schiebt seine Hand mit der Maske zur Seite. Deswegen lässt er sie auf den Boden gleiten und nimmt auch seine vom Gesicht. Beider Augen befinden sich auf gleicher Höhe. Ihr Blick ist offen und sie lächelt ein wenig. Die Haut ist hell und zart, die Wimpern dunkel und dicht. Ihre Lippen formen ein zweisilbiges Wort. Er kann sie nicht hören. Dann öffnet sie die Tasche und holt eine kleine Muschel heraus. Rund und schwarz liegt sie in ihrer Handfläche, die sie ihm entgegenhält. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er sie nimmt und verschwommen bemerkt er die frische Narbe an ihrem Hals. Sie ist rot und geschwollen, mit etlichen, groben Stichen genäht. Er hebt einen Finger und fühlt zitternd die Wunde. Sie ist kalt und die Kleine rührt sich nicht, formt nur immer wieder dasselbe Wort mit ihren Lippen.
Ein Mann in Uniform zieht ihn am Arm, sodass er auf die Füße kommt. Er lässt sich ohne Widerstand die Maske auf das Gesicht setzen, hält die schwarze Muschel so fest in der Hand, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten.
„Gehen Sie bitte weiter Ihrer Wege", hört er die rauschenden Worte des Mannes.