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William Cranston
„Kalifornien (dpa) – Die Frist ist verstrichen: Im US-Bundesstaat Kalifornien hat ein Lottospieler seinen Gewinn von 63 Millionen Dollar (56 Millionen Euro) nicht abgeholt. Dies sei der größte nicht abgeholte Gewinn in der Geschichte der Lotterie des US-Staates, erklärte die Lottogesellschaft. Das „SuperLottoPlus“-Los mit den Zahlen 1-16-30-33-46 und der Zusatzzahl 24 wurde am 8. August in einem Vorort von Los Angeles verkauft. Am Donnerstag um 17 Uhr Ortszeit lief die 180-Tage-Frist ab, in der sich ein Gewinner hätte melden müssen."
Ich glaube, es ist etwas passiert. Als ich von der Schule nach Hause komme und die Türe öffne, sitzt Mama auf dem Boden und weint. Alles ist durcheinander, nichts stimmt. Auf dem Tisch liegen Geldscheine, mehr, als Mama in einem Monat verdient. Sie sehen aus wie welke Blätter, die von einem Baum gefallen sind. Rote Leoparden, die wertvollsten, die es in Südafrika gibt, und grüne, mit einem Kreis und einem weißen Mann in der Mitte, auf denen United States of America steht. Daneben eine kleine Tasche, in der reiche Leute ihr Geld aufbewahren, weil sie zu viel davon haben. Ich glaube, Papa war hier. Er muss die Tasche gebracht haben.
Schnell drehe ich mich um und schließe die Türe. Mein Herz klopft so laut, dass ich glaube, man kann es bis nach draußen hören. Ich nehme Mama in den Arm.
„Anele“, sagt sie, und drückt mich an sich. Dann immer wieder „Oh nkosi, nkosi, nkosi“. Sie sagt, Gott und ich sind die einzigen, die übrig geblieben sind, seit die gogo gestorben ist. Mein Hemd ist nass von ihren Tränen. Ich frage mich, ob ich es waschen muss. Wird es trocken sein, wenn ich morgen zur Schule gehe? Was passiert ist, frage ich nicht. Eine Weile lang stehen wir da, sie im T-Shirt, ich mit der Schultasche auf dem Rücken. Als keine Tränen mehr fließen, koche ich pap und Gemüse zum Abendessen. Wir essen schweigend, nur der Fernseher spricht. In den Nachrichten sagen sie etwas über einen toten Touristen, der in Durban North erschossen wurde, ganz in unserer Nähe. Ich blicke vom Essen auf und sehe mir sein Foto an. Mama hört nicht zu. Ich schalte um auf SABC1, weil dort Generations läuft, ihre Lieblingsserie. Nach dem Essen spüle ich das Geschirr und wische Tisch und Stühle ab. Mein nasses Hemd wasche ich mit Seife aus und hänge es auf die Leine. Dann sammle ich das Geld vom Tisch und packe es in den kleinen Topf in der Küche, der hinter den anderen verschwindet. Niemand kann ihn finden, weil keiner weiß, dass es ihn gibt. Die Tasche schiebe ich unter die Matratze auf dem Boden. Ich weiß, dass Mama nichts damit zu tun haben will, und wir haben nicht viel Platz, etwas zu verstecken. In Kennedy Road gibt es keine großen, schönen Häuser wie in Morningside oder Greyville. Hier leben Leute mit Löchern in den Kleidern. So wie wir.
Als der Strom abgestellt wird, geht der Fernseher aus. Mama ist eingeschlafen. Ich lege die dünne, rote Decke über sie. Dann hole ich die kleine Tasche und lege mich vorsichtig auf die Matratze. Eine Kerze spendet Licht. Draussen fallen Schüsse. Kurz drehe ich meinen Kopf zum Fenster. Mama wacht nicht auf, und ich will sie nicht wecken. Unser Haus liegt mitten im Viertel, und manchmal ist es nachts so laut, dass wir nicht schlafen können. Laute Musik, Schreie, Schüsse, Sirenen, das gehört dazu, wenn es dunkel wird in Kennedy Road. Wie die Sterne und der Mond und die Grillen, die lauter schreien als die Menschen. Das einzige, was still ist, ist die Hitze. Wenn der Sommer kommt, so wie jetzt, kriecht sie nachts in meinen Körper, bis er an der Bettdecke klebt und feuchte Flecken macht. Trotzdem bleibe ich liegen. Mama sagt, wir dürfen nicht nackt schlafen, weil manchmal betrunkene Männer vorbeilaufen und durchs Fenster gucken. Es gibt viele in der Gegend, die wissen, das Papa nicht mehr hier wohnt. Kennedy Road ist gefährlich für Frauen, die keinen Mann haben.
„Wir müssen schlau sein, Anele“, sagt Mama immer, bevor wir das Haus verlassen. Jeden Morgen laufen wir zusammen zur Bushaltestelle, sie in ihrem hellblauen Arbeitskleid, ich in meiner grünen Schuluniform. Ich gehe in North Crest zur Schule, zehnte Klasse. Der Weg ist weit, aber Mama sagt, es ist eine gute Schule. Transport und die Uniform kosten viel Geld, aber wenn ich fleißig bin, kann ich später studieren und Arbeit finden. An einem Ort, der besser ist als Kennedy Road. Papa hat gesagt, er bringt uns weg von hier. Aber dann ist er alleine fortgegangen. Es gab viel Geschrei, Flüche, Schläge. Mama sagt, es klebt Blut an seinem Geld, es sei noch frisch, sie kann es riechen. Sie will nichts damit zu tun haben.
Die Kerze flackert. Ein Windhauch weht durchs Fenster, aber ich spüre nichts davon. Das Licht scheint in einem kleinen Bogen auf der Matratze. Ich öffne die Tasche, finde Papiere und Plastikkarten, ein paar Kassenzettel, Telefonnummern. Auf dem Plastik stehen VISA, American Express, Walmart, Netflix, ich kenne die Namen nicht. Dann sehe ich das Foto des Mannes, den ich im Fernsehen gesehen habe. Ich erkenne sein Gesicht sofort, obwohl er ein mlungu ist, ein Weißer. Sein Name ist William Cranston. Er kommt aus Chatsworth, Kalifornien, ich glaube, das liegt in Amerika. Als ich sein Foto sehe, laufen Tränen über mein Gesicht. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich weiß, dass Papa etwas Schlimmes gemacht hat. Er ist oft wütend, er trinkt und raucht Tic. Dann macht er mit Männern aus der sabela Dinge, die ihm später leid tun. Die sabela ist die Gang der Nummern. Mama hasst die sabela, sie sagt, diese Männer werden Papa früher oder später umbringen, so wie Mr. Ntuli. Früher hat Papa manchmal als Assistant bei SPAR gearbeitet. Wenn er nach Hause kam, war er fast immer betrunken. Mama und ich hatten Angst vor ihm und den Schlägen, wenn er wütend war.
„Diese Arbeit ist nicht genug“, schrie er mit funkelnden Augen. Sein Zorn war so groß, dass die Wände gezittert haben. „Ich muss für die sabela arbeiten, sonst werden wir diesen Ort nie verlassen.“
Er war einmal ein guter Mann, sagt Mama. Aber nicht gut genug für diesen Ort.
Zwischen den Papieren liegt ein Zettel mit Nummern. 1-16-30-33-46, daneben das Wort Mega und eine 24. Ganz oben steht Superlotto plus, die Ränder sind gelb, links unten eine Nummer, 083554466. Das Datum zeigt den 8. August, mehr als drei Wochen ist das her. Ich erinnere mich, dass die gogo manchmal Lottoscheine gekauft hat. Ich weiß, man kann damit Geld gewinnen, ohne dass Blut daran klebt. Der Zettel sieht anders aus als bei der gogo. Trotzdem stecke ich ihn ein, warum, weiß ich nicht. Alles andere packe ich zurück in die Tasche und schiebe sie unter die Matratze. Draußen schreien graue Totenkopf-Affen. Ein Auto fährt mit lauter Musik vorbei. Die Grillen haben aufgehört. Durchs Fenster ziehen Rauchschwaden ins Haus, irgendwo brennt ein Feuer. Ich stelle die Kerze auf den Tisch und lösche das Licht. Dann lege ich mich ins Bett und schließe die Augen. Mama stöhnt neben mir, das macht sie jede Nacht, ohne es zu merken. Ich kann nicht einschlafen. Das Gesicht von William Cranston verfolgt mich. Ich stelle mir vor, wie Blut über sein Gesicht läuft. Es kommt von einem Loch in seiner Stirn, wie bei Mr. Ntuli, der vor ein paar Monaten vor seinem Haus erschossen wurde. Er hat für die sabela gearbeitet. Aber dann lag er im Sand vor seiner Hütte, Arme und Beine seltsam verkrümmt. Aus dem Loch in seiner Stirn lief Blut, ein kleiner Faden über die Augen, an der Nase vorbei, bis zum Mund. Als die Polizei und der Krankenwagen kamen, standen die Menschen um seinen Körper herum. Niemand fasste ihn an. Ein paar haben geweint, manche haben Gebete gesprochen oder leise gesungen. Die meisten standen nur still da, so wie ich, mit weit aufgerissenen Augen. Ich weiß noch genau, wie er aussah, das Bild war in meinem Kopf gefangen, bis heute. Jetzt sieht sein Gesicht aus wie das von William Cranston. Weiße Haut, gelbe Haare, blaue Augen und eine dünne, schwarze Brille. Nur das Blut ist rot, so wie bei Mr. Ntuli. Ich drehe mich zur Seite und versuche, an etwas Schönes zu denken. Als ich ein Kind war, hat mich die gogo einmal an den Strand mitgenommen, wir haben im Sand getanzt und reife Ananas gegessen.
„Thula thula“, singt ihre Stimme, „thula baba, thula san.“ Ich schlafe ein.
Am nächsten Morgen wache ich vom Klingeln des Telefons auf. Der Strom ist da, meine Mutter hat Tee gekocht. Als sie hört, was die Stimme am Telefon sagt, lässt sie die Tasse fallen. Ich weiß, dass ihr jemand von William Cranston erzählt hat. Sie legt auf und dreht sich langsam zu mir um. Mit feuchten Augen fragt sie nach der kleinen Tasche. Ich gebe sie ihr. Als sie die graue Plastikkarte mit seinem Foto sieht, fängt sie an zu weinen. Ich mache einen Schritt auf sie zu, aber sie hält mich mit einer schnellen Handbewegung fern. Dann nimmt sie die Tasche und stopft sie in den kleinen Topf, ohne einen weiteren Blick auf das Foto zu werfen. Sie fragt nicht, warum ich die Tasche unter der Matratze versteckt habe.
„Du musst zur Schule, Anele. Ich komme heute nicht mit zur Bushaltestelle, ich fühle mich nicht wohl.“
Wieder fängt sie an zu weinen. Ich senke den Kopf und nicke. Dann packe ich einen Toast mit Erdnussbutter in meine Schultasche und ziehe meine Schuluniform an. Mein Hemd ist nicht trocken. Ich knöpfe die Jacke bis zum Kragen zu, obwohl es viel zu heiß dafür ist. So schnell ich kann, wasche ich mein Gesicht und kämme die Haare. Als ich fertig bin, bleibt noch Zeit, bis der Bus kommt. Aber ich will raus, verabschiede mich von Mama und laufe zum Kiosk, der Zeitungen verkauft. Ich nehme die Morgenausgabe und schlage sie auf. Das Gesicht von William Cranston sieht mich an. Er war 35 Jahre alt, Lehrer an einer Schule für Kinder, die nicht hören können. Seine Heimat war Amerika, es war sein erster Besuch in Durban. Die Polizei glaubt, dass er nach Kennedy Road gefahren ist, weil er die Armenviertel sehen wollte. Jetzt ist er tot. Gestern hatte er einen Zettel mit Zahlen in seiner Tasche. Nun steckt er in meiner. Ich kann das wellige Papier fühlen. Mir wird schwindlig. Bevor ich spüre, was passiert, erbreche ich mich auf dem sandigen Boden. Der Kioskbesitzer stürmt aus dem Laden und brüllt einen Fluch. Ich renne davon, in Richtung Bushaltestelle.
Nach der Schule frage ich meine Freundin Noxolo, ob wir uns später an den Cliffs treffen können. Sie strahlt, wir sind lange nicht dort gewesen. Noxolo ist meine Schwester, ich kann ihr vertrauen. Aber ich weiß, dass ich nichts von William Cranston erzählen darf. Als ich nach Hause komme, liegt Mama auf der Matratze. Ihr linkes Auge ist schwarz gefärbt. Sie lächelt.
„Papa ist fort“, sagt sie leise.
Ich gehe zum Regal und stecke meine Hand hinein. Der kleine Topf ist leer. Ich höre, wie draussen dicke Tropfen fallen. Die Regenzeit beginnt, es ist der erste Schauer des Jahres. Im Sand bilden sich kleine Bäche, die sich im großen Fluss der Straße verlieren. Der Regen schluckt den Lärm des Tages, nur das laute Prasseln auf dem Wellblechdach ist zu hören. Mama nimmt mich an der Hand und läuft mit mir nach draussen. Nach ein paar Sekunden sind wir am ganzen Körper nass, aber der Regen ist warm und fühlt sich gut an. Wir stehen vor unserer Hütte und halten uns an den Händen. Von irgendwoher tönt Musik. Als der Regen aufhört, riecht es, als ob die Welt neu geboren würde. Mir fällt meine Verabredung mit Noxolo ein. Ich greife in die Tasche und fühle den Lottoschein. Er ist trocken geblieben. Dann frage ich Mama, ob ich zu den Cliffs laufen darf. Sie lächelt mich an und nickt. Ich renne los, es ist später Nachmittag. Ich muss vor der Dunkelheit wieder zu Hause sein.
Noxolo sitzt neben mir und lässt die Beine in der Luft baumeln. Wir sitzen an den Cliffs, von denen die Touristen über die Stadt schauen und Fotos machen. Manchmal kommt einer vorbei und will ein Foto machen, schenkt uns Bonbons oder Stifte oder ein paar Münzen. Mama sagt, wir dürfen kein Geld nehmen, aber ich höre nicht auf sie. Heute sind keine Touristen da. Ich ziehe den Zettel aus der Tasche und zeige ihn Noxolo.
„Guck mal, habe ich gefunden.“
„Was ist das?“, fragt sie.
„Superlotto, steht doch da. Meine Oma hat früher auch immer gespielt. Aber die Scheine haben anders ausgesehen.“
„Meinst Du, wir können imali damit verdienen?“, fragt Noxolo.
„Wenn wir gewinnen, kaufe ich mir ein Bunny Chow mit Lammfleisch!“
„Nein, schon probiert“, sage ich. „Ist nichts wert. Der Mann vom Kiosk hat gesagt, der Schein ist nicht gültig. Kommt aus einem anderen Land oder so.“
„Stell Dir vor, wir würden gewinnen“, sagt Noxolo. „Dann könnten wir uns jeden Tag Bunny Chow leisten.“
„Ach, ich mag kein Bunny Chow“, antworte ich. Einen Moment lang herrscht Stille.
„Komm, wir lassen ihn fliegen“, sagt Noxolo.
Ich finde, das ist eine gute Idee. Ich halte den Arm hoch in die Luft und warte, bis ich den Wind spüre. Dann lasse ich los. Der Lottoschein von William Cranston beginnt zu fliegen, er wirbelt durch die Luft und steigt immer höher, über die Dächer von Durban, in Richtung Himmel.
„Was denkst Du, wem er gehört?“, fragt Noxolo.
„Keine Ahnung“, sage ich und zeige mit dem Finger in Richtung der Wolken. „Phezulu - dort oben.“
Noxolo weiß nichts von William Cranston, dem mlungu, der den Schein nie mehr einlösen wird. Es ist, als ob er nie gespielt hätte. Seine Frau weiß es nicht, seine Kinder in der Schule, sein bester Freund. Nicht Mama, nicht Papa, nicht die sabela. Niemand auf der Welt. Nur ich.